„Das Gefährliche an dieser Situation beziehungsweise Diskussion ist,
dass Argumente eben nicht mehr zählen, dass es eben nicht mehr um Logik,
Kausalitäten oder Vernunft geht, sondern die Politik sich ideologisiert.“[1]
Ulrike Guérot (2022)
Anfang April war im Bundestag der lange und gründlich vorbereitete Vorstoß gescheitert, eine allgemeine Impfpflicht oder wenigstens eine „Impfpflicht ab 60“ einzuführen. Sechs Wochen später forderte nun Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha erneut eine Impfpflicht ab 60. Auch Hessens und Bayerns Gesundheitsminister Kai Klose und Klaus Holetschek schlossen sich dem Votum an. Die nächste Gesundheitsministerkonferenz am 22. und 23. Juni in Magdeburg soll darüber beraten und beschließen. Die drei südlichen Bundesländer zeigen sich überzeugt: Mit einer „Impfpflicht ab 60“ könnten sich eine Überlastung des Gesundheitssystems und folglich auch Einschränkungen für die Gesamtbevölkerung vermeiden lassen – zumal im Herbst zu den saisonalen Erkältungserkrankungen wieder vermehrt Covid-Fälle mit schweren Krankheitsverläufen hinzukommen dürften. Eine Impfpflicht für besonders gefährdete Personen sei ein wichtiger Bestandteil präventiver Gesundheitspolitik. Doch bei näherer Betrachtung sprechen die Fakten und Argumente kaum für diesen wiederholten Anlauf, eine altersgebundene Impfnachweispflicht durchzusetzen. Fragt sich nur, was Argumente noch zählen. Ich zähle jedenfalls auf:
Erstens soll die Gesundheitsministerkonferenz offenbar zu einem Zeitpunkt beschließen, da einerseits die Infektions- und Sterbezahlen deutlich gesunken sind und andererseits keineswegs seriös vorauszusagen ist, wie sich die Corona-Lage im Herbst tatsächlich entwickeln wird. Experten sind da unterschiedlicher Meinung. Der Virologe Alexander Kekulé etwa räumt zwar ein, Politik und Medizin müssten sich auf alles vorbereiten, aber am wahrscheinlichsten sei ein Bleiben auf der relativ harmlosen Omikron-Stufe; keineswegs ausgeschlossen sei zudem der best case, dass das neue Virus sich ziemlich eingliedere in die üblichen Erkältungs- und Atemwegserkrankungen[2]. Wie auch immer – eine Impfpflicht bloß „auf Vorrat“, egal für welche Altersgruppen, dürfte grundrechtlich kaum Bestand haben. Zu tief und unverhältnismäßig wäre der Eingriff in das hochrangige Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.
Zweitens leuchtet die erneut angedachte Maßnahme insofern nicht ein, als der Schutzfaktor der bisherigen Corona-Impfstoffe aufs Ganze gesehen zu niedrig ist, um eine Zwangsanordnung zu rechtfertigen. Wohl fast jeder kennt in seinem Bekanntenkreis Fälle, wo selbst eine Zweifach- oder Dreifach-Impfung eine Erkrankung nicht verhindert hat. Statistische Zahlen mögen eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit für deutlich erhöhten Schutz insbesondere vor schwerem Krankheitsverlauf hergeben, aber sonderlich eindrucksvoll sind sie nicht: Bei der Gruppe „60 Plus“ waren vor rund einem halben Jahr fast 42 Prozent der Verstorbenen geimpft gewesen, und „auf den Intensivstationen lag der Anteil der Geimpften in dieser Altersgruppe bei immerhin 36 Prozent“ [3]! Just bei dieser Altersgruppe ließ damals zuvörderst ein Wert aufhorchen: „60,9 Prozent aller gemeldeten Covid-Fälle in der Altersgruppe 60 Plus geht auf vollständig Geimpfte zurück.“ Und sind laut Statistik in der vulnerablen Gruppe der „Älteren“ nicht vor allem die über 80-Jährigen gefährdet?
Zu bedenken bleibt obendrein zweierlei: Zum einen ist der Impfschutz im jüngeren Alter ausgeprägter als im höheren – und zwar unabhängig vom Impfstofftyp und von der Virus-Virusvariante[4]. Das heißt, im Alter nimmt die Fähigkeit, eine Immunantwort nach dem Impfen aufzubauen, ab: „Deshalb können auch ältere Menschen mitunter keinen stabilen Immunschutz mehr aufbauen.“[5] Zum andern zeigen Studienergebnisse mittlerweile, dass die Wirksamkeit der Grundimmunisierung gegenüber symptomatischer Erkrankung durch die Omikron-Variante mit der Zeit deutlich nachlässt und im Vergleich zur Wirksamkeit gegenüber der Delta-Variante unverkennbar geringer ist. Mit anderen Worten: Wenn Ältere wirklich ein höheres Risiko haben, schwer zu erkranken, so sie haben zugleich eine geringere Chance, durch die Impfung wirklich geschützt zu bleiben. Sie erweisen sich auch in dieser Hinsicht also als „vulnerable Gruppe“.
Drittens entkräftet ein genauerer Blick auf die Statistik das Argument, die „vulnerable“ Gruppe ab dem Alter von 60 Jahren weise eine viel zu große Impflücke auf. So liegt die Impfquote bei einer zweiten Auffrischungsimpfung in der Bevölkerung ab 60 – Stand 24. Mai[6] – bereits mit großem Abstand vor allen anderen Bevölkerungsgruppen. Und bei der ersten Boosterung ist eben diese Altersgruppe schon mit immerhin rund 80 Prozent dabei. Eine Erstimpfung werden, wenn die Gesundheitsminister im Juni diskutieren werden, sogar 92 Prozent derer erhalten haben, die der erneute Anlauf zu verpflichten sucht. Bis zum Herbst dürften es um die 95 Prozent sein. Der kleine Rest der gänzlich ungeimpften Seniorinnen und Senioren besteht dann zum Teil noch aus solchen, die aus gesundheitlichen Gründen gar nicht geimpft werden dürfen, und manch anderen, die unter die Rubrik „Genesene“ fallen – wie beispielsweise aktuell die ungeimpfte Mutter (91) des Autors. Der dann noch zahlenmäßig verbleibende geringe Rest stellt gesundheitspolitisch doch wohl kaum eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ dar. Die Argumentation der süddeutschen Gesundheitsminister, die Impflücke in dieser Altersgruppe sei nach wie vor „zu hoch“, kann also nicht wirklich überzeugen.
Viertens müssen Impfkomplikationen und Impfschäden angesichts einer Covid-19-Impfung ernsthafter noch als bisher berücksichtigt werden. Ein Beispiel aus der Presse ist der 26-jährige Thorben, der sich keineswegs als Impfgegner oder Corona-Leugner versteht und monatelang um Anerkennung seines Impfschadens kämpfen musste[7]. Für den untersuchenden Kardiologen kein Einzelfall: „Ich habe täglich Patienten mit genau solchen Odysseen. Patienten, die bei verschiedenen Ärzten waren, die immer suggeriert bekamen, dass könne gar nicht an der Impfung liegen, organisch sei alles in Ordnung. Und dann kommen die Patienten zu mir und wir sehen nach der MRT-Untersuchung Pathologien, die klar einer Herzmuskelentzündung zuordbar sind.“ Mehrere EU-Länder setzten den Einsatz von AstraZeneca nach Berichten über Krankheiten und Todesfälle aus, zumal es Berichte über plötzliche Blutgerinnsel nicht nur bei jüngeren Menschen gab, sondern etwa auch bei einer 60-jährigen Frau in Dänemark[8]. Und so sehen manche Ärzte und Wissenschaftler inzwischen dringend Handlungsbedarf: Derzeit gebe es definitiv zu wenig Anlaufstellen für Menschen mit schwerwiegenden und langhaltenden Impfnebenwirkungen, findet beispielsweise Professor Harald Matthes von der Berliner Charité, seines Zeichens Leiter der dort durchgeführten ImpfSurv-Studie. Unklar ist im Übrigen immer noch, ob sich nicht vielleicht doch einst Spätfolgen der ja lediglich bedingt zugelassenen Covid-19-Impfung zeigen werden.
Fünftens gilt es die spaltende, ja zum Teil kränkende Wirkung der Debatte über eine Impfpflicht in Erinnerung zu rufen. Der Streit um die Demütigung von Impf-Skeptikern ab 60 würde erneut Freundschaften, Familien, Parteien, Gemeinden und Wohngemeinschaften zerreißen. Wieder könnten so sachlich schräge Vorwürfe aufkommen wie der, die Ungeimpften – in diesem Fall die Älteren – seien schuld, falls im Winter harte Corona-Maßnahmen nötig würden. Das aber dürfte Verletzungen und Kränkungsgefühle hervorrufen, die ihrerseits krank machen, indem sie das Immunsystem tatsächlich schwächen. Psychisch kann eine Impfpflicht bei Betroffenen, gegen deren feste Überzeugung sie sich ja respektlos richtet, einen sogenannten Nocebo-Effekt erzeugen – nämlich analog zur positiven, durchaus oft heilsamen Suggestiv-Wirkung des bekannten Placebo-Effekts hier nun eine negative, real krankmachende Wirkung infolge der wie auch immer begründeten Annahme, geschädigt zu werden[9]. Diesen psychischen Effekt gilt es zu vermeiden, und das gelingt schlicht durch konsequente Achtung vor der unveräußerlichen Menschenwürde, dass nämlich – so die Freiheitsforscherin Ulrike Guérot – „der Körper tabu ist und nicht für einen gesellschaftlichen Zweck instrumentalisiert werden darf. Zumal inzwischen erhärtet ist, dass durch eine Impfpflicht weder eine sterile Immunität noch Herdenimmunität erreicht wird, der Zweck also nicht einmal erzielt wird.“[10] Es bleibt im Grunde bei der früher bereits geäußerten Kritik von Thomas Mertens, dem Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission, am Instrument einer Impfpflicht: „Dies würde zu einer noch stärkeren Polarisierung führen, und viele Menschen würden mit großer Intensität versuchen, dieser Pflicht zu entgehen.“[11]
Fazit: Die Bundesregierung ist zwar durch die drei Gesundheitsminister aufgefordert, im Sinne dieses erneuten Anlaufs zu handeln. Doch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits im April deutlich gemacht, dass er keine Basis für einen erneuten Anlauf in Sachen Impfpflicht sieht. Tatsächlich wäre gerade auf dem Hintergrund des politischen Scheiterns der im Parlament ja bereits verworfenen Impfpflicht „ab 60“ ein neues Herangehen erst recht als paternalistische Maßnahme abzulehnen. Als völlig unverständlich bezeichnete Jochen Haußmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, Luchas Vorstoß für eine Impfpflicht ab 60: Wenn es im April keine Mehrheit gegeben habe, werde es später nicht anders sein; zudem würde eine Impfpflicht ab 60 an der Umsetzung scheitern: „Oder will er alle über 60-Jährigen, die sich nicht impfen lassen wollen, in Verwahrung nehmen?“[12] Sind womöglich die heimlichen Motive von Politikern, die jetzt wenigstens für eine gruppenbezogene Impfpflicht plädieren, weniger gesundheits- als vielmehr wirtschaftspolitischer Natur[13]?
Jedenfalls sollten sich sämtliche Gesundheitsminister auf das Versprechen besinnen, das – aus guten Gründen – vor der Bundestagswahl gegeben wurde: Es werde keine Impfpflicht kommen[14]! Wer auch immer gegen Corona geimpft wird, soll das nicht gegen seinen ausdrücklichen Willen erdulden müssen, sondern in freier Verantwortung tun. Bei diesem hohen, grundrechtlich geschützten Anspruch muss es bleiben. Gerade dort, wo man sich von der hilfreichen Macht der umstrittenen Impfstoffe überzeugt zeigt, sollte man angesichts der bis zum Herbst erreichten Impfquote in Deutschland eigentlich keine Angst mehr davor haben müssen, dass der bis dahin nurmehr geringe Rest der entschlossen Ungeimpften das Gesundheitssystem noch ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte.
[1] Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen, Frankfurt a.M. 2022 (4. Aufl.), 19. Zum Stichwort „Pflicht“ unterstreicht die Freiheitsforscherin: „Pflicht ist in einer Demokratie in erster Linie die Einhaltung des Rechts“ (25)!
[2] www.ardaudiothek.de/episode/kekules-corona-kompass-von-mdr-aktuell/kekule-308-keine-angstmache-vor-dem-herbst/mdr-aktuell/10515859/
[3] www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-infektion-trotz-impfung-wie-es-zum-impfdurchbruch-kommt-17631999.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
[6] de.statista.com/statistik/daten/studie/1258043/umfrage/impfquote-gegen-das-coronavirus-in-deutschland-nach-altersgruppe/
[9] www.planet-wissen.de/gesellschaft/medizin/psychosomatik/pwiedernoceboeffekt100.html; deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/516897/Die-Impfpflicht-Demuetigung-einer-Minderheit
[10] www.welt.de/vermischtes/plus235908648/Ulrike-Guerot-De-facto-ist-eine-gesamte-Gesellschaft-entmuendigt-worden.html; www.deutschlandfunkkultur.de/impfpflicht-menschenwuerde-unversehrteit-100.html
[11] www.infranken.de/ueberregional/deutschland/stiko-chef-thomas-mertens-spricht-sich-gegen-corona-impflicht-aus-wuerde-zu-einer-noch-staerkeren-polarisierung-fuehren-art-5366958
[12] fdp-aktiv.de/blog/2022/05/18/baden-wuerttemberg-lucha-versucht-impfpflicht-durch-die-hintertuer/