Politik

Vor dem Nato-Gipfel stehen alle Zeichen auf Abschreckung

Lesezeit: 3 min
23.06.2022 09:02  Aktualisiert: 23.06.2022 09:02
Auf ihrem nächsten Gipfel, der kommende Woche in Madrid stattfindet, will die Nato ihr neues strategisches Konzept vorstellen. Neben der Lage in der Ukraine sollen dieses Mal vor allem nicht-militärische Sicherheitsbedrohungen im Vordergrund stehen.
Vor dem Nato-Gipfel stehen alle Zeichen auf Abschreckung
Ein altgedientes strategisches Instrument der Nato steht zunehmend in der Kritik. (Foto: dpa/Ukrinform)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Klima  
Politik  
Russland  
Nato  
Militär  
China  

Als "politisch obsolet" hat der Generalsekretär des estnischen Verteidigungsministeriums, Kusti Salm, auf einer Veranstaltung des US-Think-Tanks CBSA (Center for Strategic and Budgetary Assessments) die derzeitige Strategie der Nato an ihrer Ostflanke bezeichnet. Diese setzt auf Abschreckung durch einen sogenannten "Stolperdraht": eine kleine Streitkraft, die einen Angriff nicht wirklich abwehren kann, potenziellen Angreifern jedoch signalisiert, dass man sich zu wehren bereit ist und einen Gegenschlag führen wird. "Abschreckung durch Bestrafung" (engl.: "deterrence by punishment") heißt diese Strategie. Ein Konzept, das sich, so Salm, überlebt habe.

Abschreckung durch Verhinderung statt Abschreckung durch Bestrafung

Stattdessen solle laut dem estnischen Politiker ein Umdenken hin zur "Abschreckung durch Verhinderung" (engl.: "deterrence by denial") stattfinden: Dabei sollen die Aussichten eines potenziellen Angreifers auf einen militärisch erfolgreichen Angriffs bereits im Vorfeld möglichst gering gehalten werden. Doch Salm äußerte Zweifel daran, dass dieses Konzept derzeit umsetzbar sei, sprich, dass die von der Nato in Polen und im Baltikum positionierten Streitkräfte einem russischen Angriff standhalten könnten: "Es wäre lächerlich zu behaupten, dass die zweitgrößte Atommacht der Welt durch ein Bataillon irgendwie abgeschreckt werden könnte. Das ist ein Scherz", kritisierte er - zu Recht. Denn auch wenn die gegenwärtige militärische Lage ein Vordringen russischer Truppen gen Westen auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen lässt, befeuert Moskau selbst solche Befürchtungen.

Denn Putin, seine Politiker und seine Medienleute attackieren die nationale Souveränität europäischer Nationen in zuverlässiger Regelmäßigkeit. So erklärte Andrei Klischas, Mitglied des Russischen Föderationsrats, erst kürzlich infolge von Litauens Umsetzung der EU-Sanktionen, dass sich Litauen in den letzten Jahren nie als unabhängiger Staat etabliert habe. Putin selbst fiel jüngst wiederum mit der Behauptung auf, dass der russische Zar Peter der Große keinen Krieg gegen Schweden geführt und dem Land nichts weggenommen habe. Stattdessen habe er sich lediglich russische Erde zurückgeholt. Noch explizitere Drohungen wurden im staatsnahen russischen Fernsehen Polen entgegengeschleudert, von der Androhung nuklearen Massenmords gegenüber Großbritannien ganz zu schweigen.

Baltikum und Baerbock fordern mehr Truppen und Munition statt "Stacheldraht"

Dass das erst seit wenigen Jahrzehnten nicht mehr unter russischer Gewaltherrschaft lebende Baltikum sich in Anbetracht dessen durch einen "Stolperdraht" nicht adäquat abgesichert fühlt, kann also kaum verwundern. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks forderte dementsprechend auf dem letzten Treffen der Nato-Verteidigungsminister nicht nur mehr Truppen an der Ostflanke, sondern auch Material- und Munitionslager sowie ständige Kommandostrukturen vor Ort. Die Gefahr eines russischen Angriffs auf die baltischen Nato-Länder sieht Deutschlands Verteidigungsministerin Lambrecht auch: Schließlich versprach sie die Stationierung 1000 weiterer Soldaten in Litauen, die eine neue internationale Kampfgruppen-Brigade mit 3000 bis 5000 Mann anführen sollen.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg wiederum beteuerte, er hoffe, dass viele andere Mitgliedsstaaten es Deutschland gleichtun würden und verwies auf das nächste Nato-Gipfeltreffen in Madrid am 29. und 30. Juni. Ob die Erhöhung der Truppenkontingente an der Ostflanke in den Augen der Balten und Polen ausreichen wird, ist allerdings zu bezweifeln.

Aber immerhin wird überhaupt über die Verteidigungsbereitschaft der Nato gesprochen - sie dürfte einen zentralen Punkt auf den Tagesplänen der Konferenztage darstellen. Denn Verlautbarungen der Politik in diese Richtung kommen längst nicht mehr nur aus Osteuropa. So forderte die deutsche Außenministern Annalena Baerbock bereits nach Bucha und Mariupol eine Neujustierung der "alten Stacheldraht-Logik". Das betreffende Land müsse schlimmstenfalls zuerst hilflos eine Invasion erleben, bevor es von seinen Verbündeten wieder befreit werden könne - das sei keine geeignete Strategie.

Neue Strategie soll Nato auch gegen nicht-militärische Gefahren wappnen

Ein Szenario, das, so Baerbock bei einem Besuch in Vilnius im März, nach den russischen Kriegsverbrechen nicht mehr akzeptabel sei. Baerbock wird mit ihren Forderungen keineswegs allein dastehen. Dennoch soll der kommende Nato-Gipfel sich inhaltlich nicht ausschließlich um die Lage in der Ukraine, respektive an der Nato-Ostflanke, drehen. Stattdessen soll das neue strategische Gesamtkonzept der Nato vorgestellt werden. Neben rein militärischer Abschreckung soll es dabei auch um Lieferkettengefährdungen, Cyber-Angriffe, den Klimawandel sowie disruptive Technologien gehen – ein Gesamtpaket in Sachen Abschreckung also. Das bestätigte jüngst auch David van Weel bei einer Veranstaltung des US-Verteidigungsportals "Defense One".

"Das strategische Konzept muss für das nächste Jahrzehnt überlebensfähig sein", so der stellvertretende Nato-Generalsekretär für neu entstehende Sicherheitsherausforderungen. Van Weel weiter: "Es muss also weit über die aktuelle Krise in der Ukraine hinausgehen. Es befasst sich mit den Auswirkungen des Klimawandels, der Innovation, des Einsatzes hybrider Kriegsführung und des Cyberkriegs auf unsere Sicherheit. Aber auch mit der Resilienz. Wie widerstandsfähig sind unsere westlichen Gesellschaften gegenüber dieser Art von Angriffen und wie können wir dagegen vorgehen?" Seit der Veröffentlichung des letzten strategischen Konzepts der NATO im Jahr 2010 habe sich viel verändert. Bereits vor der russischen Invasion habe der Aufstieg Chinas – und die Dominanz der Volksrepublik im Bereich neuer Technologien – die Nato zunehmend beunruhigt. Das neue strategische Konzept, so van Weel, solle der Tatsache Rechnung tragen, dass künftige Bedrohungen für die Nato und ihre Mitglieder nicht nur militärischer Natur sein werden.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Mercedes trotzt dem Trend: Jetzt soll sogar ein Maybach-Van die Besserverdiener locken
18.04.2024

Das Interesse an Elektro-Fahrzeugen in Deutschland ist verhalten. Während VW und Tesla das bei den Zulassungszahlen bemerken, nutzen die...

DWN
Politik
Politik Warum Kürzungen in der Flüchtlingspolitik nicht hilfreich sind
18.04.2024

Immer mehr Politiker und Wirtschaftsexperten fordern eine Neuanpassung der Asylpolitik. Aktuell finden kontroverse Maßnahmen wie...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Iran-Israel-Konflikt: Führt das Krisentreffen in Israel mit Baerbock und Cameron zur Deeskalation?
17.04.2024

Bei Gesprächen mit israelischen Politikern bemühen sich Annalena Baerbock und David Cameron, einen möglichen Vergeltungsschlag gegen den...

DWN
Politik
Politik Günstlingswirtschaft und Gefälligkeiten: Stephan Weil in Niedersachsen am Pranger
17.04.2024

In Berlin steht Kai Wegner (CDU) unter Verdacht, seine Geliebte mit einem Senatorenposten bedacht zu haben. Ursula von der Leyen (CDU)...

DWN
Technologie
Technologie Fluch oder Segen? – Was man aus Müll alles machen kann
17.04.2024

Die Welt ist voller Müll. In den Ländern des globalen Südens gibt es teilweise so viel davon, dass Menschen auf Abfallbergen ihr Dasein...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Insolvenzrekorde im März: Nachwehen der Coronahilfen
17.04.2024

Deutsche Unternehmen klagen aktuell viel über die Umstände – und die Unternehmensinsolvenzen sind auch auf Rekordniveau. Ein Grund...

DWN
Politik
Politik Vor G7-Treffen: Baerbock warnt vor Eskalationsspirale im Nahen Osten
17.04.2024

Die Grünen-Politikerin hat vor einem Treffen der Gruppe sieben großer Industrienationen (G7) zu "maximaler Zurückhaltung" aufgerufen in...

DWN
Politik
Politik Die Zukunft der EU als Wirtschaftsstandort: DIHK-Befragung zeigt Stimmungstief
17.04.2024

Wie beurteilen Unternehmen die Lage der Europäischen Union? Eine Befragung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) gibt...