Wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sah die Lage für Russlands Wirtschaft noch düster aus. Der Westen hatte als Reaktion eine Reihe von Finanzsanktionen verhängt, die vor allem gegen die Devisenreserven der russischen Zentralbank gerichtet waren und die den Rubel zunächst abstürzen ließen. Zwischenzeitlich lag der Kurs bei 160 Rubel für einen US-Dollar, was zu einem Ansturm der Bürger auf die Bargeldautomaten führte, die verzweifelt versuchten, ihr Erspartes abzuheben.
Dann erhöhte die Zentralbank die Zinsen, führte Kapitalverkehrskontrollen ein und pumpte Liquidität in das Bankensystem. Schon im April wendete sich das Blatt und der Rubel notierte sogar noch stärker als vor Ausbruch des Krieges. Inzwischen ist der Rubel sogar die Währung mit den stärksten Kursgewinnen in 2022.
Globale Energiekrise spielt Russland in die Karten
Die Sanktionen des Westens treffen Russland nicht so hart, wie von den USA und der EU zunächst angenommen. Russlands Wirtschaft ist auf Kurs für einen neuen Handelsbilanz-Rekord, wie The Economist berichtet. Demnach sind die Importe durch westliche Sanktionen sowie die teilweise Abschneidung russischer Banken vom SWIFT-System eingebrochen. Letzteres erschwert es russischen Konsumenten und Unternehmen erheblich westliche Güter zu kaufen. Doch im Gegenzug sind russische Exporte nach wie vor stabil.
Die russische Regierung veröffentlicht derzeit keine monatlichen Berichte mehr über ihre Handelsaktivitäten, aber durch die Daten der größten Handelspartner Russlands, lässt sich doch ein ungefähres Bild zeichnen. So schätzt der Economist, dass Russlands Importe um rund 44 Prozent zurückgegangen sind, während die Exporte sogar um 8 Prozent gestiegen sind. Infolgedessen erwarten Analysten, dass der russische Handelsüberschuss in den kommenden Monaten ein Rekordhoch erreichen wird.
Das Institute of International Finance (IIF) rechnet damit, dass der Leistungsbilanzüberschuss im Jahr 2022 rund 250 Milliarden Dollar erreichen könnte. Das wäre mehr als das Doppelte des 2021 verzeichneten Überschusses von 120 Milliarden Dollar. Die hohen Energiepreise spielen Russlands Wirtschaft dabei in die Karten. Zwar sind die Rohstoff-Exporte in der Menge zurückgegangen, aber dank höherer Preise erzielt Russland derzeit Rekord-Umsätze mit dem Export von Öl und Gas.
Laut einem Bericht der Internationalen Energie Agentur (IEA) fließen 20 Milliarden Dollar Exporte-Erlöse allein aus dem Verkauf von Öl jeden Monat nach Russland. Das entspricht einem Anstieg von 50 Prozent seit Jahresbeginn. Obwohl die russischen Ölexporte in die EU laut IEA in diesem Jahr um 535.000 Barrel pro Tag gesunken sind, konnte eine gesteigerte Nachfrage aus Indien und China den Rückgang kompensieren.
Russland wendet sich anderen Handelspartnern zu
Doch die Mehreinnahmen aus dem Öl- und Gas-Export können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische Wirtschaft durch die Sanktionen stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Einem Bericht des Wirtschaftsprüfungsnetzwerkes FinExpertiza zufolge sind zwischen März und Juni insgesamt 113.000 russische Firmen insolvent gegangen. Außerdem hat der Ukraine-Krieg eine Abwanderung hochspezialisierter russischer IT-Fachkräfte ausgelöst. Etwa 70.000 IT-Fachkräfte haben das Land seit Ausbruch des Krieges verlassen.
Nach Schätzungen der EU-Kommission wird Russlands Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um mehr als 10 Prozent schrumpfen. Daher wendet sich der Kreml vermehrt an andere Länder aus dem globalen Süden, um die Verluste aus dem Geschäft mit dem Westen zumindest mittelfristig zu kompensieren. Bei einem kürzlichen Auftritt auf einer Finanzkonferenz kündigte Wladimir Putin selbstbewusst eine bedeutende Verschiebung in der internationalen Ausrichtung an.
„Sie [die westlichen Staaten, Anm. d. Red.] scheinen nicht zu bemerken, dass sich auf dem Planeten neue Machtzentren gebildet haben“, zitiert das Wall Street Journal (WSJ) den russischen Staatschef. „Wir sprechen hier von revolutionären Veränderungen im gesamten System der internationalen Beziehungen. Diese Veränderungen sind grundlegend und entscheidend.“
Damit spielte Putin auf Russlands wachsendes Engagement in Ländern an, die der Westen bisher vernachlässigt hat. So tätigte Russland etwa auf wirtschaftlicher Ebene umfangreiche Ölverkäufe an Indien und sondiert mögliche Erdgasverkäufe an Pakistan, um die verlorenen westlichen Marktanteile so teilweise zu kompensieren. Auch in Afrika verstärkt Russland seine Handelsbeziehungen, wo es vor allem Getreide, Mais und Düngemittel absetzt.
Die Bestrebungen Russlands, die von den USA dominierte unipolare Weltordnung zu durchbrechen, gehen bereits auf die Zeit des Ukraine-Konflikts 2014 zurück, sagt Angela Stent, Professorin an der School of Foreign Service der Georgetown University, gegenüber dem Wall Street Journal. Seitdem habe sich Putin militärisch stärker in Syrien engagiert, sei der OPEC+ bei (einem losen Verbund des globale Ölkartells) beigetreten, berief 2019 den ersten Russland-Afrika-Gipfel ein und startete eine neue Gaspipeline nach China. „Putin hat das methodisch durchdacht“, so Stent.
Russlands militärisches Engagement in Syrien etwa hat nun zur Folge, dass Israel nicht uneingeschränkt an der Seite der EU und der USA steht, wenn es um eine politische Verurteilung Russlands für seine Rolle im Ukraine-Krieg geht. Israel baut auf Russland als Partner im Kampf gegen islamistische Terroristen im Nahen Osten und hält sich daher bisher mit harscher Kritik am russischen Einmarsch in die Ukraine auffällig zurück.
Russland und China schmieden globale Nord-Süd-Achse
Die Spannungen mit dem Westen haben Russland zudem enger an China gebracht. Die beiden Länder, die historisch immer wieder mit Spannungen zu kämpfen hatten, scheinen enger verbündet als je zuvor. So erklärte Putin etwa im Februar, kurz vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges noch, er und Chinas Präsident Xi Jingping verbinde eine „grenzenlose Freundschaft“. China ist es auch, das einen Großteil der weggebrochenen russischen Rohstoff-Exporte mit seinem Energiehunger auffängt. Laut den Berechnungen des Economist importierte China im April 2022 rund 56 Prozent mehr Güter aus Russland als noch ein Jahr zuvor.
Zusammen versuchen Russland und China, nun eine neue Nord-Süd-Achse mit wichtigen Entwicklungsländern in Asien, Latein-Amerika und Afrika aufzubauen. Russland profitiert dabei von Pekings jahrzehntelangem Engagement im globalen Süden. China hat sich unter anderem durch sein Mega-Projekt der Neuen Seidenstraße über die Jahre zum größten Kreditgeber vieler Entwicklungsländer entwickelt. Es investiert dabei in die Handelsinfrastruktur, die 71 Länder in Asien, Afrika, Osteuropa und dem Nahen Osten miteinander verbindet. Zusammen repräsentieren diese Länder mehr als ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung und zwei Drittel der Bevölkerung.
Allein in Afrika sind laut einer Studie des Foreign Policy Research Institute mittlerweile mehr als 10.000 chinesische Unternehmen tätig. Chinas Kredite an afrikanische Staaten wuchsen zwischen 2001 und 2018 auf rund 126 Milliarden Dollar an, die Direkt-Investitionen auf etwa 41 Milliarden Dollar. Dazu hat China in Dschibuti seinen allerersten Militärstützpunkt außerhalb des eigenen Landes errichtet.
Immer mehr Entwicklungsländer wenden sich von den USA ab
Die Auswirkungen dieser neuen Nord-Süd-Achse zeigen sich dann unter anderem bei den UN-Abstimmungen. 35 Länder, die zusammen genommen rund 50 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, enthielten sich oder stimmten mit „Nein“ zu einer UN-Resolution vom März, die die Invasion in der Ukraine verurteilt. 58 Länder, darunter Ägypten, Indonesien, Katar, Mexiko und Singapur enthielten sich bei einer weiteren Abstimmung über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. Viele dieser Länder unterhalten enge Handelsbeziehungen zu Russland, beispielsweise über den Import von Rohstoffen, Getreide oder Düngemittel.
Die Entwicklungsländer des globalen Südens sind inzwischen so abhängig von chinesischen Direktinvestitionen und russischen Importen, dass sie einen Konflikt mit beiden Ländern um jeden Preis vermeiden wollen. Darüber hinaus sind die Entwicklungsländer skeptisch über eine US-geführte Weltordnung, wie sie die letzten Jahrzehnte herrschte.
„Ihr erstes Ziel ist die Widerstandsfähigkeit angesichts großer Bedrohungen wie Lebensmittel- und Energiepreise, hohe Verschuldung und Zinssätze [...]“, zitiert das Wall Street Journal Robert Zoellick, ehemaliger Präsident der Weltbank und früherer stellvertretender Außenminister der USA. „Im Allgemeinen wollen diese Länder einen neuen Kalten Krieg vermeiden, insbesondere mit China. Sie schätzen die wirtschaftlichen Beziehungen zu China.“