Die Bundesregierung riskiert sehenden Auges die Energiesicherheit in Deutschland. Obwohl der Stresstest der Netzbetreiber festgestellt hat, dass die drei verbliebenen Kernkraftwerke (KKW) einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten können und ihre Verfügbarkeit „ein weiterer Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen“ ist, entschied Wirtschaftsminister Robert Habeck, die drei Kraftwerke am Ende des Jahres vom Netz zu nehmen.
Zwei der drei Kraftwerke, Isar 2 und Neckarwestheim 2, sollen laut Habeck bis April des kommenden Jahres in Notfallreserve bleiben. Im Falle von Stromengpässen sollen sie weiterhin Elektrizität produzieren und die Netzstabilität gewährleisten. Das modernste der drei Kraftwerke im niedersächsischen Emsland soll dagegen wie geplant am 31. Dezember vom Netz gehen. Damit erteilte Habeck einer Laufzeitverlängerung eine klare Absage und besiegelt den Atomausstieg.
Zuletzt hatte er die Öffentlichkeit und den Koalitionspartner FDP lange im Ungewissen über eine Laufzeitverlängerung gelassen und immer wieder betont, er wolle erst die Ergebnisse des Stresstests abwarten. Als diese nun nicht wie vom Wirtschaftsminister erwartet ausfielen, beschloss er trotz der angespannten Lage am Strommarkt die Abschaltung der Kernkraftwerke. Allein das Kraftwerk Isar 2 könnte Betreiberangaben zufolge mit den vorhandenen Brennelementen eine Stromproduktion von vier Terawattstunden und eine gesicherte Leistung von bis zu 1400 Megawatt für den Strommarkt bereitstellen.
Scharfe Kritik an Habecks Plänen von führenden Ökonomen
Für sein Vorgehen erntet Habeck Kritik von allen Seiten. In keinem Szenario, dass von den Netzbetreibern im Stresstest durchgerechnet wurde, ist die vollständige Abschaltung aller drei Kraftwerke vorgesehen. Das bedeutet, dass die Netzstabilität für diesen Fall ungewiss ist. Angesichts explodierender Strompreise wählt der Wirtschaftsminister zudem den denkbar teuersten Moment für den endgültigen Atomausstieg. Das sieht auch die Ökonomin Veronika Grimm so, die von der Bundesregierung erst im April als Wirtschaftsweise eingesetzt wurde.
„Dass die AKWs nur in Reserve gehalten werden sollen, ist bei der kritischen Lage am Strommarkt absolut unverständlich. Es muss ja auch mit Blick auf das Preisniveau sämtliche verfügbare Kapazität mobilisiert werden“, sagte Grimm der WirtschaftsWoche. Noch deutlicher wurde der Chef des ifo-Instituts Clemens Fuest gegenüber Zeit Online. „Diese Kernkraftwerke abzuschalten, mitten in einer gewaltigen Stromkrise, erscheint mir völlig verrückt und europäisch extrem unsolidarisch“, so der Münchner Ökonom.
Hinzu kommen immense Kosten, die auch dann anfallen, wenn die zwei Kernkraftwerke nur im Notbetrieb gehalten werden. Denn die Kraftwerke müssen weiterhin sicherheitstechnisch überprüft werden, Personal sowie Brennelemente müssen weiterhin bereitstehen und das Kraftwerk muss fortlaufend im Nachkühlbetrieb auf Standby gehalten werden. Energie-Ökonomin Claudia Kemfert sagte dazu gegenüber der Rheinischen Post: „Dies ist aufwändig und teuer. Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis.
Die Atomenergie-Expertin Anna Veronika Wendland rechnet daher mit Kosten von mindestens 250.000 Euro pro Tag und Kraftwerk. Allein die Nachkühlung würde etwa 240 Megawattstunden Energie benötigen, was bei den derzeitigen Strompreisen von bis zu 1000 Euro pro Megawattstunde auf 240.000 Euro Stromkosten hinauslaufe, sagte Wendland der Bild. Hinzu kämen noch die Kosten für Personal und Sicherheit. Auch sie kritisiert daher, dass das „in keinem Verhältnis zum Aufwand“ steht.
AKW-Betreiber kritisieren Pläne zur Notreserve
Zugleich machten die Kernkraftwerksbetreiber deutlich, dass die vom Wirtschaftsminister geplante Regelung der Notfallreserve in der jetzigen Form weder praktikabel noch technisch umsetzbar ist. Der Energiekonzern E.On und seine Tochtergesellschaft Preussen Elektra warnten in einem Schreiben an das Wirtschaftsministerium, dass „ernkraftwerke aus technischen Gründen nicht für einen Reservekraftwerksbetrieb geeignet seien.
„Zwei der drei laufenden Anlagen zum Jahreswechsel in die Kaltreserve zu schicken, um sie bei Bedarf hochzufahren, ist technisch nicht machbar und daher ungeeignet, um den Versorgungsbeitrag der Anlagen abzusichern“, schreibt Preussen Elektra-Chef Guido Knott. Er wies zudem darauf hin, dass im Notfallbetrieb „ein flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich ist“. Dies gelte umso mehr, wenn ein Meiler bereits heruntergefahren wurde, denn dann sei ein Wiederanfahren des Reaktorkerns kurzfristig nicht machbar. Außerdem gebe es keinerlei Erfahrungswerte zu solchen Vorgehen, mahnte der Preussen-Elektra-Chef. „Das Austesten einer noch nie praktizierten Anfahrprozedur sollte nicht mit einem kritischen Zustand der Stromversorgung zusammenfallen.“
Ähnlich äußerte sich der Verband Kerntechnik Deutschland (KernD) gegenüber der Mediengruppe Bayern. Die derzeitigen Pläne des Wirtschaftsministers seien „ein Versuch, ins Wasser zu gehen, ohne dabei nass zu werden“, so ein Verbandssprecher. Kernkraftwerke würden sich nicht als Notfallreserve eignen, „da kann man nicht schnell einen Schalter umlegen“, erklärte er. Im Bedarfsfall benötigten die Kernkraftwerke viel Vorlaufzeit für eine Wiedererteilung der Betriebsgenehmigung. Das Verfahren müsse verschiedene Bundesämter durchlaufen und letztlich auch im Bundestag beschlossen werden. Allein der technische Prozess des Wiederanfahrens könne Tage dauern.
Darüber hinaus hätten die Betreiber auch Probleme mit der Versorgung neuer Brennelemente. Schon im Juli warnte der Verband, dass die verbliebenen Kernkraftwerke auf „hoher Last“ laufen würden. „Nun ist der Tank bald leer und nur noch mit Nachladung frischer Brennelemente kann in der voraussichtlich noch länger andauernden Krisensituation nennenswerte Hilfe geleistet werden“. Doch durch die monatelange Verzögerungstaktik des Wirtschaftsministers wurde der Zeitpunkt für eine rechtzeitige Bestellung der Brennelemente verpasst.
Habeck riskiert ohne Not die Netzstabilität in Deutschland
Die Entscheidung zur Laufzeitverlängerung hätte schon längst fallen müssen. Die sich seit Monaten abzeichnende Energiekrise hätte es sogar erfordert, nicht nur die drei verbliebenen KKWs im Streckbetrieb länger am Netz zu halten, sondern auch die drei Kraftwerke zu reaktivieren, die Ende vergangenen Jahres stillgelegt wurden. Dann wäre auch ausreichend Zeit zur Bestellung neuer Brennelemente geblieben.
Motiviert ist die Abschaltung zum Jahresende vermutlich aus rein parteipolitischen Interessen. Die CDU unter Ex-Kanzlerin Merkel hatte 2011 nach dem Reaktorunfall von Fukushima den vorzeitigen Atomausstieg beschlossen und den Grünen damit ihr wichtigstes politisches Thema genommen. Die Grünen, nun in der Regierung, wollen nicht die Partei sein, die den „Ausstieg vom Ausstieg“ beschließt, indem sie die Laufzeiten verlängert. Dazu ist die Anti-Atom-Bewegung in der Basis der Grünen nach wie vor einflussreich, auch wenn ihre Ablehnung der Kernkraft schon lange nicht mehr zu ihren klimapolitischen Zielen passt.
Mit seiner Entscheidung gegen eine Laufzeitverlängerung pokert Habeck extrem hoch. Auf Nachfragen sagte der Wirtschaftsminister, dass man die Ergebnisse des Stresstests „auch rückwärts lesen“ könne. Er hofft, dass es so schlimm, wie in den Szenarien des Stresstests schon nicht kommen werde und setzt alles darauf, dass Frankreich bis zum Winter die Probleme seine Kernkraftwerke lösen kann und sich Strompreise und europäische Netzstabilität dadurch entspannen.
Bedingt durch technische Probleme ist eine Reihe französischer Kernkraftwerke derzeit nicht am Netz, was die Lage am europäischen Strommarkt zusätzlich verschärft. Frankreichs leidet daher unter einem Stromengpass und ist unter anderem auf Lieferungen aus Deutschland angewiesen. Im Winter könnte es dann wieder anders herum sein: Deutschland, das seine letzte KKWs ohne Not abgeschaltet hat, muss dann vermutlich wieder Atomstrom aus Frankreich beziehen, um seine Versorgungssicherheit und die Stabilität seines Stromnetzes zu gewährleisten.