Nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa waren die Temperaturen zuletzt ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Daher mussten die Europäer nur wenig heizen, was den Gasverbrauch niedrig gehalten hat.
Hinzu kommt, dass Europa derzeit mit Flüssiggas (LNG) geradezu überschwemmt wird, sodass die entsprechende Infrastruktur kaum noch in der Lage ist, die vielen Ladungen entgegenzunehmen. Mitte Oktober stauten sich die LNG-Tanker vor Europas Küste.
Inzwischen ist die LNG-Menge vor den europäischen Küsten auf 1,2 Millionen Tonnen gestiegen. Im August waren es noch 140.000 Tonnen, so der Datenanbieter Kpler. Einige Optimisten verkünden bereits das Ende der Energiekrise in Europa.
Tatsächlich ist es den Staaten Europas gelungen, ihre Gasspeicher zu füllen, auch wenn sie das Gas vor dem Hintergrund der allgemeinen Panik zu stark überhöhten Preisen gekauft haben. Inzwischen ist das gespeicherte Gas nur noch deutlich weniger wert.
Die Gaspreise sind von 100 Dollar pro Million britischer Wärmeeinheiten im August auf 32 Dollar gesunken. Derweil liegt auch die weltweite Öl-Benchmark Brent mit 96 Dollar pro Barrel deutlich unter dem Höchststand von 139 Dollar im März.
Doch die Energiekrise in Europa ist noch lange nicht überwunden. Denn die Preise werden mit Sicherheit wieder steigen, wenn es zu Kälteeinbrüchen kommt und andere LNG-Käufer um die Lieferungen konkurrieren, insbesondere in Asien.
Zudem könnte Russland den Druck weiter erhöhen, indem es auch die noch übrigen Gaslieferungen nach Europa unterbricht. Oder die EU könnte ihre Sanktionen gegen Russland weiter verschärfen.
Szenario 1 - Keine Katastrophe
Eine Analyse des Economist und des Beratungsunternehmens Rystad Energy legt nahe, dass Selbstgefälligkeit gefährlich wäre. Denn die Energiekrise in Europa könnte „sehr schnell sehr schlimm werden“, so der Economist.
Die Analyse simuliert drei Szenarien, und selbst das am wenigsten schlimme Szenario, bei dem sich die Beziehungen zwischen Ost und West nicht weiter verschlechtern, ist alles andere als angenehm.
In diesem Szenario bleiben die Nord-Stream-Pipelines geschlossen, die EU verhängt ein Embargo gegen russisches Öl und europäische Versicherer, die 90 Prozent des weltweiten Schiffsmarktes beherrschen, dürfen keine Schiffe mit russischem Öl mehr versichern.
Eine große Ausnahme besteht in diesem Szenario aber für nicht-westliche Käufer, die sich bereit erklären, einen von den USA und der EU festgelegten Höchstpreis für russisches Öl zu zahlen. Sie dürfen weiterhin eine europäische Versicherung abschließen.
Für Europa löst dieses relativ milde erste Szenario sicherlich eine Krise aus, aber eben keine Katastrophe. Bis Ende dieses Jahres werden in Europa demnach 84 Milliarden Kubikmeter russisches Gas fehlen. Das sind 17 Prozent des normalen Jahresverbrauchs.
Höhere Importe von Flüssiggas haben bereits einen Teil dieses Lochs gestopft, ein kleinerer Teil wird durch größere Pipelineströme aus Aserbaidschan und Norwegen ausgeglichen und ein weiterer Teil durch Kürzungen des Verbrauchs.
Selbst wenn der Winter eisig wird und die Nachfrage um 25 Milliarden Kubikmeter ansteigen sollte, zeigt die Simulation, dass die europäischen Lagerbestände ausreichen werden, um den Sommer 2023 zu überstehen, wenn die LNG-Importe weiter ansteigen könnten.
In diesem ersten Szenario müssen die Staaten Europas das Gas nicht rationieren. Aber es wird teuer. Längst haben die hohen Preise zu Stilllegungen in energieintensiven Branchen geführt, darunter die Aluminiumindustrie und die Ammoniakindustrie.
Wenn Nord Stream über das gesamte nächste Jahr geschlossen bleibt, erfordert dies noch größere Einschränkungen des Verbrauchs. Der Finanzforscher Gavekal schätzt, dass 1 Prozent weniger Energieverbrauch das deutsche BIP um 0,5 bis 1 Prozent verringert.
Europa zahlt in diesem Szenario einen massiven Preis. Der Import von russischem Öl über das Meer kostete Europa im letzten Jahr 90 Milliarden Dollar. Diese Importe im kommenden Jahr durch Alternativen zu ersetzen, würde 116 Milliarden Dollar kosten.
Szenario 2 - Tank halb leer
Im zweiten Szenario, das Economist und Rystad Energy „Eskalation“ nennen, stoppt Russland die Gasflüsse über seine Pipeline durch die Ukraine, eine der beiden noch offenen Pipelines, sodass Europa weitere 10 bis 12 Milliarden Kubikmeter pro Jahr verloren gehen.
Die russische Führung müsste dafür nur einen Vorwand finden, da Gazprom zumindest außerhalb des Westens auch künftig als vertragstreuer Lieferant wahrgenommen werden will, sagt Anne-Sophie Corbeau, ehemalige Mitarbeiterin des britischen Gasriesen BP.
Dieser Schlag würde die Händler nicht überraschen. Verblüfft wären sie aber, wenn Russland auch seine LNG-Lieferungen nach Europa im Umfang von jährlich 20 Milliarden Kubikmetern einstellen würde, was der Hälfte der russischen LNG-Exporte entspricht.
Russland würde die LNG-Lieferungen der Analyse zufolge statt nach Europa an befreundete Länder wie Indien und Pakistan liefern, die auf dem Weltmarkt mit Europa um den Rohstoff konkurrieren müssen, und zwar zu einem günstigen Preis.
In diesem zweiten Szenario reagiert der Westen auf den Verlust des russischen LNG, indem er seine Ölpreisobergrenze senkt und deren Einhaltung unter den westlichen Staaten mit strengen Kontrollen und hohen Strafen durchsetzt.
Daraufhin wird wiederum Russland das Bündnis Opec+, das 40 Prozent des weltweiten Rohöls produziert und bereits im Oktober eine Kürzung um 2 Millionen Barrel pro Tag vornahm, dazu bringen, das Produktionsziel um weitere 1 Million Barrel pro Tag zu senken.
Auf Europa kämen zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe zu. Dagegen geht Rystad davon aus, dass der Konflikt Russland weniger schadet, weil die strengere Obergrenze den nicht-westlichen Ländern einen Anreiz bietet, einen alternativen Ölhandel aufzubauen.
Giovanni Serio von der Handelsfirma Vitol sagt, dass Tanker, die sich im Besitz der G7-Staaten befinden, bereits von nicht-westlichen Akteuren aufgekauft werden, häufig aus Asien oder dem Nahen Osten.
China und Indien, die bisher die meisten der überschüssigen russischen Fässer aufgekauft haben, können ihre Schiffe wahrscheinlich selbst versichern. Andere Länder könnten den „schwarzen“ Handel anzapfen.
Dabei wird russisches Öl auf Tankern mit ausgeschalteten Transpondern transportiert und auf hoher See von Schiff zu Schiff umgeladen oder mit anderen Rohstoffen vermischt, sodass es nicht zurückverfolgt werden kann.
Russland würde zwar Einbußen bei den Gaseinnahmen hinnehmen müssen, doch seine Öleinnahmen wären stabiler. Laut Berechnungen des Economist würden die russischen Ölexporte 2023 und 2024 gegenüber 2021 um 2 Millionen Barrel pro Tag zurückgehen.
In der Folge wäre das Land gezwungen, seine Ölproduktion um mehr als 1,5 Millionen Barrel pro Tag zu drosseln. Die Verknappung des Marktes würde den Brent-Preis in den dreistelligen Bereich treiben, und die Nachfrage würde nur geringfügig zurückgehen.
Russland könnte die fehlenden Mengen so kompensieren. Seine Einnahmen aus dem Ölexport würden mit 170 Milliarden Dollar im Jahr 2023 stabil bleiben, bevor sie im Jahr darauf auf 150 Milliarden Dollar sinken.
Szenario 3 - Die Katastrophe
Das dritte „extreme“ Szenario geht davon aus, dass Russland einen totalen Energiekrieg führt. Es beinhaltet zusätzlich auch die Schließung von TurkStream, der letzten in Szenario 2 noch bestehenden Gasverbindung nach Europa.
Die Pipeline beliefert hauptsächlich russlandfreundliche Länder wie Ungarn und die Türkei. Durch die Schließung von TurkStream würden Europa jedoch weitere 15 Milliarden Kubikmeter pro Jahr fehlen.
Zudem beschließt Russland, die europäische Gasimportinfrastruktur zu zerstören. Eine solche Möglichkeit war früher undenkbar. Doch nach der Zerstörung von Nord Stream im September hat sich die Welt in dieser Hinsicht geändert.
Wenn Russland den Durchfluss durch die beiden größten norwegischen Pipelines stoppt, so fehlen Europa weitere 55 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Die Pipelines sind weit von Russland entfernt und der Westen könnte dies als Angriff auf die Nato betrachten.
Die Analyse geht davon aus, dass der Westen mit „sekundären“ Sanktionen reagieren würde, wobei nicht-westliche Personen oder Firmen, die mit russischem Öl handeln, mit Maßnahmen wie dem Verlust des Zugangs zum Dollars bedroht werden.
Dies würde sämtliche Banken und Versicherer dazu zwingen, sich aus dem Russlandgeschäft zurückzuziehen, wodurch die Embargos des Westens insgesamt effektiver würden.
Im Gegenzug könnte der Kreml versuchen, die Organisation erdölexportierender Länder sowie Mexiko, Kasachstan und Oman (zusammen Opec+) davon zu überzeugen, das gemeinsame Förderziel um eine weitere Million Barrel pro Tag zu kürzen.
Zudem könnte Russland die Exporte durch die Kaspische Pipeline (CPC) stoppen. Die 1500 Kilometer lange Pipeline befördert täglich 1,2 Millionen Barrel kasachisches Öl bis zum russischen Hafen von Noworossijsk, wo der Treibstoff auf Schiffe verladen wird.
Die USA könnten versuchen, den Ölpreis zu dämpfen, indem sie die Entnahme aus ihrer strategischen Erdölreserve beschleunigen. Doch die Reserve ist nicht unendlich, bemerkt Jason Bordoff, ein Energiezar unter Barack Obama.
Nachdem die Reserve bereits seit Monaten geplündert wurde, befindet sie sich nun auf dem niedrigsten Stand seit 1984. Opec könnte die Produktion also zunächst drosseln und sie dann erhöhen, wenn die strategische Reserve der USA erschöpft ist.
Schließlich würden Russlands Ölexporte auf 3 Millionen Barrel pro Tag oder weniger zurückgehen, und trotz der riesigen Angebotslücke steigt der Brent-Preis auf „nur“ 186 Dollar, so die Analyse. Die Öleinnahmen Russlands fallen demnach auf 90 Milliarden Dollar.
In der Folge steht Europa vor einem unerträglichen Mangel an Öl und Gas. Es muss 250 Milliarden Dollar im Jahr 2023 und weitere 200 Milliarden Dollar im Jahr 2024 aufwenden, nur um das russische Öl zu ersetzen.
Die jährlichen Gasimportkosten nähern sich 1 Billion Dollar, obwohl die importierten Mengen viel geringer sind. Das russische Gas ist unersetzlich. Der Simulation zufolge sind die europäischen Speicher im November 2023 leer und bleiben das ganze Jahr 2024 leer.
Die europäische Solidarität würde mit ziemlicher Sicherheit zusammenbrechen, was die Misere auf dem Kontinent noch verschlimmern würde.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat kürzlich simuliert, was passiert, wenn die Stromversorger im Süden des Landes im Februar 50 Prozent weniger Gas erhalten, wenn viele französische Kernreaktoren abgeschaltet blieben und die Kohlekraftwerke ausfallen.
Die Simulation zu dem Schluss, dass die EU 91 Stunden Stromausfälle auf ihre Mitglieder verteilen müsste. Deutschland könnte beschließen, die Stromexporte nach Frankreich zu kürzen oder die Gaslieferungen in die Tschechische Republik und die Slowakei einzustellen.
Zwei entscheidende Lehren
Dieser Blick von Rystad Energy in die Zukunft hat seine Grenzen. Denn er berücksichtigt allein den Energiekrieg und lässt außer Acht, was auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und in dem umfassenderen wirtschaftlichen Konflikt geschehen wird.
Dennoch enthält die Simulation zwei klare Lehren. Erstens hat Russland mehr Möglichkeiten zur Eskalation als der Westen. Zweitens werden die Embargos Russlands Staatskasse nicht leeren, zumindest solange Europa nicht bereit ist, noch viel mehr Schmerzen zu ertragen.
Denn je mehr russischer Treibstoff vom Markt ausgeschlossen wird, desto mehr muss Europa für den Ersatz zahlen - während die steigenden Preise die Verluste des Kremls ausgleichen. Erst wenn die Ölpreise aufhören zu steigen, hat Russland wirklich zu leiden.