Jüngst befasste sich der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags mit der „Stuttgarter Erklärung“. Knapp 60.000 Unterstützer zählte die im Sommer von 20 Wissenschaftlern ins Leben gerufene Petition bis dahin, die am 9. November im Bundestag von André D. Thess, Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und einer der Erstinitiatoren, sowie der Technikhistorikerin Anna-Veronika Wendland vorgestellt wurde. In seiner Rede vor den Abgeordneten kritisierte Thess die Energiepolitik der Bundesregierung scharf.
Das Abschalten von Kernkraftwerken mitten in der Energiekrise nannte er „ein Risiko für 83 Millionen Bürger“ und verwies auf die drohende Gefahr eines Blackouts, der „mehr Menschenleben als ein Flugzeugabsturz“ fordern würde. Weil auch die Bundesregierung dieses Risiko erkannt habe, nähme sie Kohlekraftwerke wieder in Betrieb. „Dies jedoch steht im Widerspruch zu deutschen Emissionszielen“, mahnte Thess. „Wie der Expertenrat der Bundesregierung jüngst feststellte, werden wir die Ziele für 2030 mit den derzeitigen Mitteln nicht erreichen.“
Petition für Weiterbetrieb und Wiederinbetriebnahme von AKWs
Die Petition habe den Zweck, „die Öffentlichkeit über diese Risiken aufzuklären und eine Rettungsgasse zu bahnen“. In der Folge stellten Thess und die anderen Initiatoren der Petition drei Forderungen an die Politik. Erstens: den Weiterbetrieb der drei laufenden Kernkraftwerke über den 15. April 2023 hinaus. Dazu gelte es jene Passagen aus Paragraf 7 des Atomgesetzes zu streichen, die einem Weiterbetrieb entgegenstünden. Zweitens: ein „Rückbau-Moratorium und eine rasche Evaluierung der Möglichkeiten“ der Wiederinbetriebnahme der drei stillgelegten Kraftwerke.
Drittens schließlich plädierten die Petenten für eine „Abwägung zwischen den Risiken des Klimawandels und den Risiken der Kernenergie“ sowie eine breite öffentliche Debatte auf wissenschaftlicher Basis. „Die Kernenergie ist unsere Schlüsseltechnologie an der Schnittstelle von Versorgungssicherheit und Klimaschutz“, so Thess. Dabei sei sie „klimafreundlich wie Sonne und zuverlässig wie Kohle“. Zudem betonte Thess gegenüber dem Petitionsausschuss, dass Deutschland pro Kopf doppelt so viel CO2 wie Frankreich emittiere.
Mit der Rückholung von Kohlekraftwerken bei gleichzeitigem Abschalten der CO2-armen Kernenergie würde sich dieses Verhältnis weiter verschlechtern. Auch der Zubau von Erneuerbaren löse das Problem nicht, weil gesicherte Leistung aus Kernenergie nicht durch schwankende Erzeuger ersetzt werden könne. Stattdessen gelte es, die Kernenergie neben Sonne und Wind als „dritte Klimaschutzsäule“ zu nutzen. Neben dem hohen Potenzial der Kernkraft, den CO2-Ausstoß zu verhindern, führte Thess auch eine Passage eines Berichts des Weltklimarats IPCC als Argument für Kernkraft ins Feld.
„Werkzeug zur Vermeidung kontroverser Debatten“
Wie reagierten die Abgeordneten auf die Petition der Wissenschaftler? Gegenüber den Deutschen Wirtschaftsnachrichten erklärt Thess, dass die im Netz einsehbare Aufzeichnung der Anhörung dokumentiere, wie leicht sich die Redezeit von Petenten aushebeln ließe. So bestehe ein „Werkzeug zur Umgehung von Petenten und zur Vermeidung kontroverser Debatten“ darin, Fragen nur an Regierungsvertreter zu stellen, die in der Regel neben den Petenten anwesend sind. Davon hätten einige Parlamentarier Gebrauch gemacht.
„Die befragten Beamten überzogen mehrfach Redezeiten“, beschreibt Thess das Geschehen. „Den Petitionsvertretern stand somit weniger Zeit für die Diskussion mit den Abgeordneten – dem Kernelement des Dialogs zwischen dem Souverän und seinen Repräsentanten – zur Verfügung.“ Trotz dessen sei es gelungen, der Öffentlichkeit „wichtige Fakten zu Kosten, Klimapolitik und Langzeitlagerung zu vermitteln“. Dennoch bleibt die deutsche Bundesregierung vorerst auf ihrem angestammten Kurs.
Thess: Energiewende enthält seit Beginn „kardinalen Denkfehler“
Thess führt dies darauf zurück, dass die Energiewende seit ihrem Beginn den „kardinalen Denkfehler“ enthalte, man könne gleichzeitig aus den beiden grundlastfähigen Energieformen Kohle und Kernenergie aussteigen. „Das Festhalten am Atomausstieg ist nach meiner Wahrnehmung ein Spiegelbild der Tatsache, dass heutige Entscheidungen von dieser Denkweise immer noch geprägt sind.“ Seine Rede im Bundestag beendete Thess mit den Worten: „Lassen Sie uns diesen klimaschädlichen nationalen Alleingang beenden!“
Ein Appell, der sich nicht bloß an die Politik richten dürfte. So stellt Thess gegenüber den Deutschen Wirtschaftsnachrichten fest, dass er in den letzten Tagen (Anm. d. Red.: Stand vom 11. November 2022) über 20 Anfragen von privaten Medien, speziell von regionalen und überregionalen Zeitungen sowie Fernsehsendern, erhalten habe, deren Berichterstattung er als sachlich und professionell empfunden habe.
Debatte über Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien
„Dem steht die Zahl der Anfragen aus den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten von Montag dem 7. November bis zum Tag der Anhörung am 9. November entgegen: „Null.“ Erst am Tag nach der Anhörung habe sich der SWR mit einer Anfrage für ein kurzes Fernseh-Statement bei Thess gemeldet. Offenbart die Atom-Debatte also auch eine Medienkrise?
Auch Anna-Veronika Wendland äußerte sich auf Twitter zur Diskussion über die laut Kritikern mangelnde Berichterstattung öffentlich-rechtlicher Medien über die „Stuttgarter Erklärung“. So betonte die Osteuropa- und Technikhistorikerin: „Übrigens haben wir kein Recht auf ÖRR-Berichterstattung. Dafür ist unsere Initiative zu klein.“
Es kämen auch keine Zigtausende zu Pro-Atom-Demos. Darüber hinaus sei die „Exotenstatus-Phase“ für Kernkraft-Befürworter „auch schon durch, das war 2020/21“. Bislang sei es der Bewegung nicht gelungen, eine Verbindung zur Klimabewegung aufzubauen. Schuld daran seien Feindbilder auf beiden Seiten. Wäre den Kernkraft-Befürwortern ersteres wiederum gelungen, „hätten wir jetzt eine Laufzeitverlängerung für 6 AKW mit SPD-FDP-Gütestempel ohne die Grünen“, wie Wendland, die früher selbst eine Gegnerin der Atomkraft gewesen war, schließt.
Doch auch ohne besonders viel öffentlich-rechtliche Berichterstattung dürfte die Rede vor dem Petitionsausschuss für Diskussionen gesorgt haben – nicht nur weil neben den Parlamentsnachrichten des Bundestags immerhin auch private Medien wie „BILD“, „Cicero“, „Tichys Einblick“ oder die „Berliner Zeitung“ über sie berichteten, sondern auch weil die Angst der Deutschen vor einem möglichen Blackout zu steigen scheint. So erklärte zuletzt ein Waffenhändler gegenüber dem SWR-Recherche-Format „Vollbild“ und dem ARD-Politikmagazin „Report Mainz“, dass er die Nachfrage nach leicht umbaubaren Luftgewehren „nicht im Ansatz bedienen“ könne.