Wegen der fehlenden Energie aus Russland werden überall in Europa die Pläne zur Installation von Wind- und Solarenergie vorangetrieben. Doch der Ausbau stößt auf den Widerstand von Anwohnern, lokalen Behörden und der Tourismusindustrie. Denn die Projekte greifen oftmals massiv in wertvolle Naturlandschaften und Kulturstätten ein.
In der galicischen Landschaft im Nordwesten Spaniens eröffneten Maria Martin und ihr Mann vor sechs Jahren ein Gasthaus, das Urlaubern eine ruhige Zuflucht bietet, wie das Wall Street Journal berichtet. Das Meer ist nur wenige Kilometer entfernt, und die Basilika de San Martiño de Mondoñedo, Spaniens älteste Kathedrale und eine Attraktion für Pilger auf dem berühmten Jakobsweg, liegt im selben Tal.
Das Ehepaar und andere Anwohner wehren sich gegen den Vorschlag, in der Nähe des Gasthauses eine Gruppe von 105 Meter hohen Windturbinen zu bauen. "Niemand kann so nah an einem Windpark leben", sagte Frau Martin. "Wahrscheinlich wird mein Geschäft, meine Lebensweise, verschwinden." Denn die Windturbinen überragen die Landschaft, werfen Schatten und machen Lärm.
Trotz des Widerstandst aus der örtlichen Bevölkerung genehmigte die Regionalregierung von Galicien den Windpark im November, indem sie ihn als Projekt von strategischem Interesse für die Region einstufte. Aufgrund seiner enormen Größe muss der Park aber auch noch von der spanischen Regierung genehmigt werden.
Die Staaten der Europäischen Union haben in den letzten Jahren Kohlestrom durch Erdgas sowie durch erneuerbare Energien wie Wind und Sonne ersetzt. Sie verfolgen damit das erklärte Ziel, die CO2-Emissionen zu senken. Aufgrund bürokratischer Hürden und lokaler Widerstände dauert es jedoch Jahre, bis die Projekte abgeschlossen werden.
Im Jahr 2021 schlug die EU-Kommission vor, den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch der EU in den nächsten zehn Jahren von etwa 20 Prozent auf 40 Prozent zu erhöhen. Der eskalierte Konflikt mit Russland, durch den sich die Erdgaspreise im letzten Sommer im Vergleich zu vor dem Krieg mehr als verdreifacht haben, veranlasste die EU, dieses Ziel auf 45 Prozent anzuheben.
Frankreich, Deutschland, Spanien und andere Regierungen in Europa verabschieden derzeit Gesetze, die erneuerbare Energien zu einem vorrangigen öffentlichen Interesse erklären. Sie räumen Hindernisse aus dem Weg, die Investitionen in Wind- und Solarenergie bisher gebremst haben, und verringern die Macht von Interessengruppen, Projekte zu verzögern oder zu blockieren.
Die hohen Energiepreise haben bereits zur Schließung zahlreicher Fabriken geführt, die das industrielle Rückgrat der Region bilden und Zehntausende von Menschen beschäftigen. Viele weitere sind gefährdet und bedrohen die Lieferketten von Automobilherstellern, Luft- und Raumfahrtunternehmen und anderen Industriegiganten.
Die EU-Kommission erwartet für das vierte Quartal 2022 ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,5 Prozent und im ersten Quartal 2023 um weitere 0,1 Prozent, weil die Industrieproduktion gedrosselt wurde. Vor diesem Hintergrund kommen Forderungen nach einem raschen Ausbau der Windenergie ohne Rücksicht auf Verluste.
Italien Kulturministerium wird entmachtet
In Italien hat das Parlament die Befugnisse des Kulturministeriums bei der Ablehnung von Projekten für erneuerbare Energien durch ein neues Gesetz eingeschränkt, das die Genehmigungszeiten für neue Solarparks in Italien auf unter ein Jahr verkürzt hat. Infolgedessen ist die Zahl der Projekte, die ans Netz angeschlossen werden sollen, sprunghaft angestiegen.
Italiens Kulturministerium hat Wind- und Solarprojekte häufig abgelehnt. Es argumentiert, dass sie die antiken Stätten beschädigen oder die Schönheit der Landschaft beeinträchtigen könnten. Beamte des Ministeriums für Denkmalschutz drängen auf neue Beschränkungen für die Entwicklung, um die italienische Landschaft zu schützen, die in der italienischen Verfassung als geschütztes Gut aufgeführt ist.
Ein Vorschlag sieht vor, große Solarparks auf mehr als 40.000 Hektar Land in der Region Latium rund um das Arrone-Flussbecken zu verbieten. Dies führte zu einem Aufschrei in der Solarindustrie und bei einigen Abgeordneten. Nachdem sich auch die Regionalregierung von Latium dagegen ausgesprochen hatte, verschoben die Denkmalschützer den Vorschlag für weitere Konsultationen.
Europas Chemieunternehmen, Aluminiumproduzenten und andere energiehungrige Branchen treiben den Bau von Wind- und Solarparks voran. Sie drängen darauf, langfristige Verträge mit den Entwicklern zu unterzeichnen, die Strom zu günstigen Preisen liefern und sie vor den starken Schwankungen des Erdgaspreises schützen sollen, der auf den europäischen Märkten häufig auch den Strompreis bestimmt.
Früher mussten Wind- und Solarentwickler ihre Projekte bei großen Unternehmen anpreisen - vor allem bei Technologiefirmen, um langfristige Stromabnahmeverträge zu unterzeichnen, die es ihnen dann ermöglichten, eine Finanzierung zu erhalten. Jetzt ist die Lage umgekehrt, und die Entwickler werden mit Anfragen von Herstellern überschwemmt, die Verträge für die Stromlieferung unterzeichnen wollen.
"Es gibt einen enormen Appetit auf erneuerbare Energien, vor allem bei energieintensiven Unternehmen, aber es gibt einfach nicht genug Projekte", zitiert das Wall Street Journal Joop Hazenberg, Direktor bei Re-Source Platform, einer in Brüssel ansässigen Gruppe, die Käufer und Verkäufer von erneuerbaren Energien zusammenbringt.
In Galicien, einer der stürmischsten Gegenden Europas, beschleunigt die Regionalregierung den Bau von Windparks, um die regionalen Fabriken mit Strom zu versorgen. Sie hat eine beschleunigte Prüfung von Projekten zugesagt, die mit Herstellern in Galicien Verträge über mindestens 50 Prozent ihrer Produktion abgeschlossen haben.
Das japanische Chemieunternehmen Showa Denko KK unterzeichnete einen Vertrag über die Lieferung von Strom aus den in der Entwicklung befindlichen Windparks für seine Betriebe in Galicien, unter anderem für eine neue Fabrik zur Herstellung von Graphit für Batterien für Elektrofahrzeuge.
Der chinesische Reifenhersteller Sentury Tire plant den Bau einer mit Windenergie betriebenen Fabrik in der Nähe. Es gibt auch Pläne für eine von den spanischen Unternehmen Reganosa und EDP Renováveis errichtete Fabrik, die Windenergie zur Herstellung von Wasserstoff nutzen soll, einem möglichen Ersatz für Erdgas in vielen industriellen Prozessen, der nahezu keine CO2-Emissionen verursacht.
Spanien verfügt bereits über eine der höchsten Windenergiekapazitäten der Welt. Landesweit sind mehr als 28.000 Megawatt installiert. Der Internationalen Energieagentur zufolge war die Windenergie im Jahr 2021 mit einem Anteil von 23 Prozent an der Stromerzeugung die zweitwichtigste Stromquelle nach Erdgas.
Windturbinen stören Pilgerer auf dem Jakobsweg
Die starken Winde in Galicien haben einen Großteil dieser Investitionen angezogen. Kritiker sagen, dass die rund 4.000 Turbinen Galiciens Naturschönheit und seine Kulturstätten, die bis in die Zeit des Römischen Reiches zurückreichen, verschandelt haben. Der Tourismus macht 10 Prozent der Wirtschaftskraft und 11 Prozent der Gesamtbeschäftigung in der Region aus (laut Daten für 2019).
Die Turbinen sind an vielen Orten entlang des Jakobsweges zu sehen, einem der wichtigsten Pilgerwege des Christentums. Schon seit dem Mittelalter wandern die Pilger auf den verschiedenen Routen durch Galicien zur Kathedrale in Santiago de Compostela. Die Legende besagt, dass die Gebeine des heiligen Jakobus dorthin gebracht wurden, nachdem er in Jerusalem von König Herodes enthauptet worden war.
Einige Routen des Camino de Santiago verlaufen so nahe an den Turbinen vorbei, dass die Pilger deren Rauschen hören können. Die Anlagen verändern die Atmosphäre der Pilgerreise erheblich. "Weil wir auf einem uralten Weg gehen, glauben wir, dass er so aussieht wie immer, aber das geht nicht mehr", sagt Priscilla White, die ein Gasthaus an einem der Wege betreibt.
Es gibt rund 270 Windkraftprojekte, die von der galicischen Regierung genehmigt werden sollen, wodurch sich die installierte Kapazität der Region fast verdoppeln würde, wenn sie alle gebaut würden. Frühere Projekte beanspruchten Land in abgelegeneren Gegenden, aber die neue Welle dringt in Städte und Kulturdenkmäler vor.
Die galicischen Viehzüchter empfinden die Turbinen als störend für ihre Tiere und die Tourismusindustrie sieht ihre Existenz gefährdet, so Fernando de Abel Vilela, Juraprofessor an der Universität von Santiago de Compostela und Vorstandsmitglied von Adega, einer galicischen Umweltgruppe.
De Abel Vilela und andere Mitglieder von Adega reisten im August nach Brüssel, um bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde einzureichen, in der sie geltend machen, dass die Verfahren Galiciens zur Prüfung von Windparks gegen die EU-Vorschriften zum Umweltschutz und zur Beteiligung der Öffentlichkeit verstoßen.
"Die große Anzahl von Projekten hat die Lebensweise vieler Menschen auf dem Lande gefährdet", sagte de Abel Vilela. Die Projekte würden zu schnell und ohne ausreichende Beteiligung der Öffentlichkeit und von Umweltgruppen durchgeführt. "Vor zwei Jahren hatte es noch niemand eilig. Jetzt ist es völlig verrückt", zitiert ihn das Wall Street Journal.
Laut dem Verband WindEurope, der Hersteller von Windenergieanlagen vertritt, entspricht das Geräusch der Anlagen in einer Entfernung von 400 Metern dem Brummen eines Kühlschranks. Zudem würden Windturbinen Landwirten und anderen Landbesitzern in ländlichen Gebieten erhebliche Pachteinnahmen bescheren.
Im Jahr 2021 kündigte die spanische Regierung Pläne für einen Windpark des lokalen Entwicklers für erneuerbare Energien Greenalia an. Das Projekt mit dem Namen Borrasca, was auf Spanisch Sturm bedeutet, würde aus 15 riesigen Turbinen in und um die Stadt Foz an der Nordküste Galiciens bestehen, wo sich das Hotel von Frau Martin befindet.
Die Regionalregierung von Galicien war zunächst dagegen, weil die Turbinen außerhalb des Gebiets stehen würden, das Galicien zuvor für Windparks vorgesehen hatte - auf Land, das weiter von bewohnten Gebieten entfernt ist. Die Behörden änderten ihre Haltung und genehmigten die Pläne, als die Turbinen für die Energieversorgung einer Aluminiumschmelze in San Ciprian vorgesehen wurden.
Die Arbeiter des Werks demonstrierten, um die spanische Regierung dazu zu bewegen, das Werk von dem US-Aluminiumriesen Alcoa zu übernehmen. Zuvor hatte Alcoa bereits erfolglos versucht, das Werk zu verkaufen, da die Verluste wegen der steigenden Stromkosten immer größer wurden. Die Hütte ist einer der größten Stromverbraucher Europas und verbraucht so viel Strom wie eine Kleinstadt.
Die Arbeiter befürchteten, dass sie geschlossen werden würde. Mehr als 600 Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Vitalität der Region standen auf dem Spiel. "Wir haben uns alle Sorgen gemacht, weil wir alle davon abhängig sind", sagte Ana Maria Rolle, Besitzerin eines Restaurants in San Ciprian. Im Jahr 2021 erzielten die Arbeiter und das Unternehmen eine Einigung.
Demnach sollte Alcoa die Schmelzanlage in San Ciprian bis Januar 2024 stilllegen, die Beschäftigten weiter bezahlen und nach neuen Stromquellen suchen. Monate später gab Alcoa bekannt, dass es mit Greenalia die Stromversorgung aus 29 Windparks mit einer Kapazität von fast einem Gigawatt vereinbart hat, die das Unternehmen in ganz Galicien entwickelt, darunter der Windpark Borrasca in Foz.
Die Projektentwickler hätten die Windturbinen überall in Spanien aufstellen können, da die Turbinen nicht direkt an die Hütte, sondern an das Stromnetz des Landes verkauft werden sollen. Aber die Behörden sagten, dass es dazu beiträgt, Unterstützung für das Projekt zu gewinnen, wenn die Windturbinen so nah wie möglich an der Schmelzanlage gebaut werden.
Die Öffentlichkeit "versteht, dass diese erneuerbare Energie die lokale Industrie unterstützt", sagte Antonio Fernández-Montells, Finanzvorstand von Greenalia. "Wir haben mehr Ressourcen, billigere Energie und damit eine wettbewerbsfähigere Industrie". Alcoa hat außerdem einen Vertrag mit dem spanischen Energieunternehmen Endesa über weitere 816 Megawatt Windkraftkapazität abgeschlossen.
Da die Turbinen nur dann Energie erzeugen können, wenn der Wind weht, müssen die Projekte eine massive Menge an überschüssiger Kapazität erzeugen, um den ständigen Strombedarf der Fabriken zu decken. So werden mehr als 2 Gigawatt an Windenergiekapazität benötigt, um den Stromverbrauch der Alcoa-Hütte von 400 Megawatt Leistung zu decken, wenn das Werk mit voller Kapazität produziert.
Die Ausweisung von Borrasca als Windpark, der Alcoa beliefern soll, verschaffte dem Projekt Vorrang bei der Prüfung durch die galicische Regionalregierung, die ansonsten von der Zahl der Anträge für den Bau von Windparks in der Region überwältigt wurde. Die Ausweisung trug auch dazu bei, dass das Projekt in Foz Unterstützung fand, wo viele Alcoa-Mitarbeiter leben.