Politik

Günter Verheugen: „Die NATO ist nicht das Problem - ihre gegenwärtige Politik ist das Problem“

Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission, über den vom Westen befeuerten Regime Change in Kiew im Jahr 2014, Angela Merkels politischen Betrug in der Ukraine und die engen Spielräume der deutschen Politik.
20.06.2023 10:43
Aktualisiert: 20.06.2023 10:43
Lesezeit: 5 min
Günter Verheugen: „Die NATO ist nicht das Problem - ihre gegenwärtige Politik ist das Problem“
US-Präsident Biden beim NATO-Gipfel in Madrid. Günther Verheugen kritisiert die Konfrontationspolitik der NATO gegen Russland. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Bei einer Buchvorstellung vor ein paar Tagen haben Sie gesagt, die wichtigste Währung in der internationalen Politik sei Vertrauen. Wurde dieses Vertrauen zwischen Deutschland und Russland beziehungsweise zwischen der EU und Russland mit Beginn des Ukrainekrieges endgültig verspielt?

Günter Verheugen: Ob das Vertrauen „endgültig“ dahin ist, wage ich nicht zu entscheiden. Fest steht allerdings, dass wir es nicht mit einer kurzfristigen Störung im Verhältnis zwischen dem „Westen“ und Russland zu tun haben, sondern mit einem tiefen Zerwürfnis. Das zu heilen wird viele Jahre in Anspruch nehmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man das überhaupt will. Davon bin ich heute nicht überzeugt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie kurz zusammenfassen, wie es zu dem Ukrainekrieg kommen konnte? Ist er vom Himmel gefallen oder gab es eine Vorgeschichte?

Günter Verheugen: Es gibt eine lange und eine kurze Vorgeschichte. Die lange geht zurück bis in das Jahr der Deutschen Einheit und die Entscheidung der NATO, sich nach Osten auszudehnen und immer näher an Russland heranzurücken. Das markanteste Element dieses Teils der Geschichte ist der geopolitische Konflikt um die Ukraine. Dabei geht es nicht darum, was für die Ukraine das Beste ist. Es geht vielmehr um die strategische Schwächung Russlands. Die kürzere Vorgeschichte betrifft die Jahre 2013/2014 mit dem vom Westen befeuerten Regine Change in Kiew, der in der Ukraine zu einer scharf anti-russischen Politik führte.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ein „Zeit"-Interview der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel wird von vielen dahingehend interpretiert, dass sich die westliche Seite die Minsker Abkommen nur eingelassen hat, um der Ukraine Zeit zu kaufen und sie gegen Russland aufzurüsten. Teilen Sie diese Einschätzung?

Günter Verheugen: Es fällt mir schwer, das zu glauben, aber Frau Merkel hat es gesagt und der französische Ex-Präsident Hollande hat es bestätigt. Auch der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko äußerte sich in diesem Sinn. Das jedenfalls ist glaubhaft durch das Obstruktion der Minsk-Abkommen durch die Ukraine, was ihre Abkommens-Pflichten anging, belegt. Wenn es so war, wie Merkel sagte, dann war das ein glatter politischer Betrug. Wer könnte unter solchen Umständen noch Vertrauen erwarten?

Lesen Sie dazu: China rechnet mit Merkel ab: Verrat in der Ukraine

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie waren Generalsekretär der FDP, wechselten 1982 zur SPD, sie kannten Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt und haben die Sicherheit- und Außenpolitik der 70er, 8oer und 90er Jahre, später auch als Mitglied der Europäischen Kommission, hautnah miterlebt. Wie hat sich Ihrer Ansicht nach das außen-und sicherheitspolitische Profil der SPD von Brandt bis Scholz geändert?

Günter Verheugen: Die SPD, in die mich Willy Brandt 1982 eingeladen hat, hatte ein klares außenpolitisches Profil. Im Grundsatz hatte sie zwei alles überragende Themen: soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik. Friedenspolitik war untrennbar verbunden mit Entspannung als ihrem wichtigsten Instrument. Die heutige SPD-Führung hat sich anders orientiert. Sie will von Entspannung nichts mehr wissen. Sie hat sich auch vom Gedanken der gemeinsamen Sicherheit in Europa verabschiedet und setzt stattdessen auf Sicherheit vor Russland durch Aufrüstung. Ich glaube allerdings, dass die SPD die identitätsstiftende Bedeutung der Friedenspolitik für ihre Anhängerschaft in gefährlicher Weise unterschätzt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Frühere Kanzler wie Brandt, Schmidt und Schröder scheinen die außenpolitischen Spielräume, die ihnen von Washington eingeräumt wurden, einigermaßen genutzt zu haben. Viele können das bei Kanzler Scholz nicht erkennen. Täuscht dieser Eindruck? Oder wird die Bundesrepublik schlicht und ergreifend an einer kürzeren Leine gehalten?

Günter Verheugen: Die Handlungsmöglichkeiten für einen Bundeskanzlers sind durch unsere Geschichte und unsere Bündnispflichten enorm, allerdings nicht so sehr, dass das zur Aufgabe jeglicher Handlungsfreiheit führen muss. Hier kommen innenpolitische Gründe ins Spiel, nämlich die Rücksicht auf die Grünen und die FDP, die zu außenpolitischen Falken „made in USA“ mutierten. Es gibt aber auch einen außenpolitischen Grund. Deutschland kann allein nicht als weltpolitischer Akteur auftreten. Das ginge nur im Verbund der EU. Diese hat sich aber als unfähig oder unwillig erwiesen, eigenständig zu agieren und sich in eine noch tiefere Abhängigkeit von den USA begeben als jemals zuvor.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre die Entwicklung der letzten Jahre – einschließlich des Ukrainekrieges - zu vermeiden gewesen, wenn die EU eine von den USA eigenständigere Position im Weltengefüge eingenommen hätte?

Günter Verheugen: Das glaube ich unbedingt. Wir hätten die Vision vom Gemeinsamen Europäischen Haus verwirklichen müssen und das hätte eine europäische Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheit und einen gesamteuropäischen Wirtschaftsraum hervorbringen können. Ob eine solche Gelegenheit jemals wiederkommen wird, kann niemand wissen. In der EU wurde von strategischer Autonomie geredet, aber sie hat nicht den Mut aufgebracht, sie auch zu verwirklichen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre eine prosperierende EU ohne einen Ausgleich mit Russland, ohne eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur, denkbar? Oder würde sie als militärischer Vorposten der USA früher oder später scheiten?

Günter Verheugen: Im Augenblick ist die Idee der gesamteuropäischen Einigung politisch tot. Dabei ging es nie um eine territoriale Ausdehnung der EU bis zum Pazifik, sondern darum, dass die EU der Motor einer engst möglichen Kooperation auf kontinentaler Ebene sein sollte. Eine solche Kooperation hat selbstverständlich viele Erscheinungsformen. Ob die EU zu ihrer historischen Rolle zurückfinden kann, nachdem Russland politisch aus Europa ausgeschlossen wurde, ist völlig offen. Tatsächlich hat das alles das Zusammengehen von Russland und China befördert und zu einer Verschiebung der weltpolitischen Gewichte geführt. Das geht auch zu Lasten der EU, die darauf nicht vorbreitet ist und aktuell mit schwierigen ökonomischen Problemen kämpft. Das alles kommt als zusätzliche Bürde auf die seit Jahren im Krisenmodus steckende EU obendrauf.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre eine Auflösung der NATO nicht eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige Entspannungspolitik in Europa?

Günter Verheugen: Die NATO ist nicht das Problem, ihre Politik, die sie im Gefolge der Umwälzungen in Europa 1989/1991 entwickelte, ist das Problem. Die meisten EU-Mitglieder sind auch NATO-Mitglieder und könnten, wenn sie es wollen, auch die Politik der NATO beeinflussen. Aber genau dabei haben sie sich als uneinig und also auch als schwach erwiesen. Nach dem NATO-Vertrag soll die Allianz auch Konfliktprävention und Konfliktentschärfung betreiben. Sie könnte daher auch Rüstungskontrolle und Abrüstung wieder auf die Tagesordnung bringen. Aktuell würde es am ehesten zu einer Konfliktentschärfung beitragen, wenn die NATO die Idee einer weiteren Ausdehnung nach Osten aufgeben würde. Diese Idee hat die fatale Zuspitzung des NATO-Russland-Konflikts seit 2008 mit ausgelöst.

Info zur Person:

Günter Verheugen, Jahrgang 1944, war 1977/78 Bundesgeschäftsführer der FDP 1977/78 und von 1978 bis 1982 deren Generalsekretär. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition wechselte er im November 1982 zur SPD. Für sie saß er von 1983 bis 1999 im Deutschen Bundestag. Während dieser Zeit war er unter anderem parlamentarischer Geschäftsführer und stellvertretender Vorsitzender der Fraktion, Bundesgeschäftsführer der SPD und Chefredakteur des „Vorwärts“. Von 1998 bis 1999 war er Staatsminister für Europaangelegenheiten, von 1999 bis 2010 Mitglied der Europäischen Kommission. Hier war er von 1999 bis 2004 zuständig für die Erweiterungspolitik und von 2004 bis 2010 Vizepräsident der Europäischen Kommission und verantwortlich für Unternehmens- und Industriepolitik. Seit 2010 ist er Honorarprofessor an der Europa- Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er ist Mitgründer der European Experience Company GmbH, einem Think Tank in Potsdam und Herausgeber und Autor von verschiedenen Büchern und Artikeln.

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