Finanzen

Inflation: EZB hat die Gefahr zu lange unterschätzt

Die Bekämpfung der hartnäckigen Inflation erweist sich als weit schwerer als gedacht. Diese Probleme werfen eine grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen der Zinspolitik der EZB und ihren Wertpapiergeschäften auf.
Autor
avtor
14.07.2023 19:59
Aktualisiert: 14.07.2023 19:59
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Es ist inzwischen weithin anerkannt, dass die meisten Zentralbanken die Inflationsgefahr unterschätzt haben, als sie 2021 und bis ins Jahr 2022 hinein an extrem niedrigen Zinssätzen und massiven Wertpapierkäufen festhielten. Als sie schließlich ihren Kurs änderten, taten sie dies glücklicherweise mit bemerkenswerter Entschlossenheit: Die Europäische Zentralbank hob die Zinsen in weniger als einem Jahr um 375 Basispunkte an (und die US-Notenbank erhöhte ihren Leitzins um 500 Basispunkte).

Die Politik der massiven Anleihekäufe rückgängig zu machen, erweist sich jedoch als schwieriger. Ein Jahrzehnt der quantitativen Lockerung (QE) hat die Bilanz der EZB erheblich ausgeweitet und zu einer Liquiditätsschwemme geführt, wodurch die politischen Entscheidungsträger in einer Falle geraten sind, aus der sie sich nur schwer befreien können.

Der Umfang der EZB-Bilanz erreichte im Jahr 2022 mit fast 9 Billionen Euro (9,6 Billionen US-Dollar) einen Höchststand, als sich das Volumen der Anleihekäufe auf rund 56 % des BIP der Eurozone belief. Obwohl die EZB ihre Nettokäufe von Wertpapieren im Juli 2022 beendete und die Kürzungen der Subventionen, die Banken bei gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäften (GLRGs) erhalten konnten, dazu führten, dass sie große Summen zurückzahlen mussten, beläuft sich die Überschussliquidität im Bankensystem immer noch auf rund 4 Billionen Euro.

Zwar hat die EZB im März damit begonnen, die Reinvestitionen aus fällig werdenden Wertpapieren um 15 Mrd. EUR pro Monat zu reduzieren. Nach der EZB-Ratssitzung vom 4. Mai erwartet die EZB, dass sie ihre Bilanz ab Juli 2023 monatlich um 25 Mrd. Euro reduziert.

Schwierige Straffung der Geldpolitik

Angesichts des Umfangs der Anleihebestände der EZB erscheint ihr Ansatz der quantitativen Straffung (QT) jedoch geradezu homöopathisch. Beim derzeitigen Tempo wird es etwa 15 Jahre dauern, bis das Ankaufprogramm von Vermögenswerten auf null zurückgefahren ist (und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass die EZB weiterhin alle fällig werdenden Vermögenswerte, die im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms erworben wurden, reinvestiert).

Diese Probleme werfen eine grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen der Zinspolitik der EZB und ihren Wertpapiergeschäften auf. Wenn es darum geht, die Zinssätze zu senken, um die Gesamtnachfrage zu stimulieren, wirkt die Nullgrenze wie eine Untergrenze.

Fallen die Zinsen in den negativen Bereich, wird es wirtschaftlich attraktiv, Bankeinlagen abzuziehen und in Bargeld zu tauschen. Im Gegensatz dazu gibt es keine Grenze, bis zu der die Zinsen angehoben werden können, und wie das vergangene Jahr der Geldpolitik gezeigt hat, ist der Leitzins wieder zum wichtigsten Instrument der Zentralbanken geworden.

Lesen Sie hier: EU beschließt Vermögensregister: Bald keine finanzielle Privatsphäre mehr für Bürger?

Die Rolle der Anleihen

Doch welche Rolle spielen Anleihekäufe und -verkäufe in diesem neuen Kontext? Während zusätzliche Nettokäufe von Wertpapieren im Kampf gegen die Inflation kontraproduktiv wären, würden Nettoverkäufe von Wertpapieren die Überschussliquidität der Geschäftsbanken verringern. Gleiches gilt für die Reduzierung von Sondermaßnahmen wie den GLRGs. Der damit verbundene Anstieg der Refinanzierungskosten einer Bank wird die inflationshemmende Wirkung der Zinserhöhung verstärken.

Aufgrund der direkten Auswirkungen der QT auf die Bankenliquidität müssen Zeitpunkt und Umfang der Bemühungen der EZB, ihre Bilanz zu liquidieren, den Bedingungen an den Finanzmärkten Rechnung tragen. Es besteht eine gewisse Asymmetrie zwischen QE und QT, da sich die Banken nach einem längeren Zeitraum, in dem sie große Mengen an Wertpapieren an die Zentralbank verkauft haben, an eine hohe Liquiditätsposition gewöhnt haben könnten. Außerdem muss die EZB bei ihren Überlegungen, in welchem Umfang sie die Überschussliquidität abbauen will, etwaige Änderungen im regulatorischen Umfeld berücksichtigen.

Solche Überlegungen sind jedoch kein Argument gegen einen raschen Abbau der Nettowertpapierbestände, wenn die QT von einer extrem hohen Überschussliquidität aus eingesetzt wird, denn auch die Finanzpolitik muss berücksichtigt werden.

Das Zaudern der EZB

Die massiven fiskalischen Anreize, die zur Stabilisierung der Wirtschaft der Eurozone während der Pandemie und dann während der Energiekrise im vergangenen Jahr eingesetzt wurden, stützten sich in hohem Maße auf Anleihekäufe der Zentralbanken. Durch die QE wurde das Risiko, dass die Finanzierung hoher öffentlicher Defizite zu einem erheblichen Anstieg der Zinssätze führen würde, weitgehend ausgeschaltet.

Das Zögern der EZB, eine energische QT-Politik zu verfolgen, nährt somit die Erwartung, dass die Finanzpolitik weiterhin expansiv sein wird, was letztlich die Dauer der zu hohen Inflation verlängern wird. Wir erleben einen Fall von fiskalischer Dominanz.

Hält die EZB jedoch an ihren massiven Anleihebeständen fest, wird sich ihr geldpolitischer Spielraum in der nächsten Krise verringern. Wie würde sich eine weitere große Welle von Anleihekäufen auswirken, wenn die Notenbank von ihrer jetzigen aufgeblähten Position ausgeht? Das würde sicherlich kein gutes Bild abgeben.

Die Zentralbanken müssen sich um ihrer eigenen Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit willen aus dieser Situation befreien. Im Fall der EZB wird das Problem dadurch verschärft, dass ihre massiven Anleihekäufe die Zinssätze für Anleihen hoch verschuldeter Mitgliedstaaten niedrig gehalten haben, wodurch der Druck auf diese Regierungen zur Konsolidierung ihrer öffentlichen Haushalte verringert wurde.

Es wird nicht einfach sein, das richtige Gleichgewicht zwischen Zinspolitik und quantitativer Lockerung zu finden. Als Richtschnur für ihre Entscheidungen sollten sich die Zentralbanken jedoch auf ihr Kernmandat, die Gewährleistung von Preisstabilität, konzentrieren. Dies ist der beste Weg, um die wachsende Bedrohung ihrer Unabhängigkeit abzuwehren.

Übersetzung: Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
avtor1
Otmar Issing

*****

Otmar Issing ist ein deutscher Ökonom und Präsident des Center for Financial Studies und ehemaliger Chefvolkswirt der EZB. Darüber hinaus ist er Vorsitzender des Kuratoriums der Gesellschaft für Kapitalmarktforschung e.V. und des House of Finance an der Goethe-Universität Frankfurt. 

DWN
Politik
Politik Finnland plant Kürzung von Leistungen für Migranten ohne Sprachkenntnisse
07.10.2025

Finnland macht Ernst: Wer die Sprache nicht lernt, bekommt weniger Geld. Während Helsinki Sozialleistungen kürzt, debattiert Deutschland...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Mercedes kämpft mit Absatzrückgang – Luxusstrategie soll Schwäche in China ausgleichen
07.10.2025

Der Autobauer Mercedes-Benz verzeichnet im dritten Quartal einen deutlichen Absatzrückgang. Besonders die schwache Nachfrage in China und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Unternehmen als Treiber neuer Entwicklungspolitik – auch im Eigeninteresse
07.10.2025

Der Globale Süden gewinnt zunehmend an Bedeutung – nicht nur als Rohstofflieferant, sondern auch als wachsender Absatzmarkt. Vor diesem...

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: Rohstoffe, Gold und KI treiben Kurse weiter nach oben
07.10.2025

Der September an den US-Börsen verlief überraschend stark. Trotz zahlreicher Gründe, die Zweifel an der Nachhaltigkeit des...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Kurs explodiert: Warum er jetzt Rekordhöhen erreicht
07.10.2025

Der Bitcoin-Kurs hat in über Nacht einen neuen Höchststand erreicht. Mit einem Wert von 125.689 US-Dollar übertraf die größte...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Industrie kämpft mit Auftragsflaute – dennoch Zeichen der Erholung
07.10.2025

Die deutschen Industrieunternehmen verzeichneten im August unerwartet rückläufige Auftragseingänge und spüren zunehmend die Folgen der...

DWN
Finanzen
Finanzen Verteidigungs-Aktien 2026: Kriegstreiberei oder Milliardenchance für Investoren?
07.10.2025

Verteidigungs-Aktien 2026 gelten längst nicht mehr als Tabu. Während Drohnenangriffe und NATO-Alarmstarts den Kontinent erschüttern,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Trumps Zolloffensive: Gefahr für das globale Handelssystem
07.10.2025

Mit seiner aggressiven Zollpolitik stellt US-Präsident Donald Trump die Grundlagen des internationalen Handels infrage. Unter dem Motto...