Deutschland hat ein Problem mit Auswanderung. Jedes Jahr kehren mehr als 200.000 Deutsche ihrer Heimat den Rücken. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) leben mit 3,8 Millionen rund fünf Prozent aller Deutschen im Ausland. Im Vergleich der OECD-Staaten haben nur Polen und Großbritannien eine noch mobilere Bevölkerung.
Zwar ist der gesamte Wanderungssaldo seit mehr als zehn Jahren durchgängig positiv und erreichte 2022 dem Ukraine-Krieg geschuldet einen Rekordwert von 1,5 Millionen. Sieht man sich jedoch den Saldo nur für deutsche Staatsbürger an, so ist festzustellen, dass seit 2005 eine kontinuierliche Abwanderung der dieser Personengruppe stattfindet. Im vergangenen Jahr war der Netto-Abgang mit 83.414 Deutschen so hoch wie seit 2016 nicht mehr.
Immer mehr Deutsche genießen die Rente lieber im Ausland
Der Auswanderungs-Trend zeigt sich auch in den Daten des Deutschen Rentenversicherungs Bundes (DRV). Demnach werden inzwischen sieben Prozent aller Renten (1,71 Millionen Berechtigte von insgesamt etwa 20 Millionen) ins Ausland überwiesen. Dies sei 37 Prozent mehr als noch vor 20 Jahren. Die Auswertung wurde für eine Ende Juni 2022 stattgefundene DRV-Vertreterversammlung erstellt und im Vorfeld ausgewählten Presseorganen, unter anderem der FAZ, zur Verfügung gestellt.
Ein Großteil davon (1,23 Millionen) fließt in Länder innerhalb der Europäischen Union. Das könnte auch daran liegen, dass die bürokratischen Anforderungen der DRV in solchen Fällen am geringsten sind. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Gastarbeiter-Generation, die den Ruhestand in ihrer Heimat verbringt. „Viele der ehemaligen Arbeitnehmer sind nunmehr im Rentenalter und lassen sich die in Deutschland erworbene Rente nach Rückkehr in ihr Heimatland ins Ausland überweisen“, erklärte Christian Amsinck, alternierender DRV-Vorstand, der FAZ. Dieser Effekt dürfte in Zukunft noch stärker werden. Denn ausländische Bürger – größtenteils Nachkommen der ersten Gastarbeiter aus der Türkei, Italien und Osteuropa – machen Zahlen der Rentenversicherung zufolge inzwischen mehr als 18 Prozent aller aktiv gesetzlich Versicherten aus.
Es gibt aber immerhin 260.000 deutsche Rentner im Ausland (15 Prozent aller außerhalb Deutschlands lebenden Ruheständler) und der Anteil an Auslands-Rentnern, die nur eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ist in den letzten 20 Jahren deutlich stärker gestiegen als bei den ausländischen Beziehern der gesetzlichen Rente. Seit 2002 sind 100.000 deutsche Auswanderer hinzugekommen, was einer Zunahme um zwei Drittel entspricht. Die meisten leben dann in Österreich, der Schweiz, Spanien und den USA.
Vor allem beruflich erfolgreiche Menschen wandern ab
Am häufigsten wandern Deutsche aus beruflichen Gründen aus. Eine 2019 veröffentlichte Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ergab, dass 58 Prozent der über 10.000 befragten deutschen Staatsbürger für einen neuen Job beziehungsweise eine berufliche Weiterentwicklung ins Ausland gegangen sind. Laut einer früheren Auswanderungs-Studie des BiB wird auch sehr häufig das Stichwort „neue Erfahrungen“ als Motiv genannt. Der (Ehe-)Partner und sonstige familiäre Faktoren sind auch ein häufiger Beweggrund.
Den Studien zufolge handelt es sich bei deutschen Auswanderern vor allem um junge, meist hoch qualifizierte Menschen zwischen 20 und 40 (Durchschnittsalter von 37). Rund drei Viertel haben ein abgeschlossenes Studium. Führungspersonal, Akademiker, Techniker und Fachkräfte machen den Löwenanteil aus. Der sich daraus ergebende „Brain Drain“ werde aber überschätzt, meint das Institut. Denn viele Auswanderer kehren später wieder nach Deutschland zurück. Über zwei Drittel der ausgewanderten Personen würden nur wenige Jahre im Ausland bleiben, erklärt BiB-Direktor Norbert Schneider.
In der 2019er-Untersuchung wurde interessanterweise nur von knapp 20 Prozent der Befragten eine Unzufriedenheit mit der Lebensqualität in Deutschland als wichtiges Kriterium genannt. Professor Martin Erlinghagen von der Universität Duisburg-Essen meint, dass der Weg ins Ausland vielmehr „chancengetrieben“ ist und im Regelfall nicht auf einer reinen Frustration mit dem Heimatland basiert. „Es gehen nicht die Verbitterten oder Enttäuschten, sondern diejenigen, die schon in Deutschland erfolgreich waren und den nächsten Karriereschritt planen.“ In den meisten Fällen bringe der Schritt finanzielle Vorteile mit sich. Die Studie ermittelte einen durchschnittlich um 1.186 Euro höheren monatlichen Nettoverdienst der Auswanderer.
Abwanderungs-Trend verschärft Standortprobleme
Seit dem Erscheinen der Studie haben sich die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands um ein Vielfaches verschärft. Heute wandern vermutlich deutlich mehr Menschen aus, deren Hauptmotivation eine Unzufriedenheit in Deutschland ist. Wir sind wieder der „kranke Mann Europas“ und befinden uns aktuell als eines von ganz wenigen Ländern in einer kleinen Rezession. Die fragwürdige Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung setzt für Unternehmen einen Anreiz, ihre Produktionsstätten teils oder ganz ins Ausland zu verlegen.
Lesen Sie dazu: Niedergang Deutschlands: Erstem Top-Manager platzt öffentlich der Kragen
Fachkräfte dürfte es in Zukunft zunehmend unfreiwillig ins Ausland ziehen, ganz einfach weil ihr Arbeitgeber aus Deutschland abgewandert ist. Es ist auch davon auszugehen, dass das gegenwärtige Umfeld immer mehr, auch ältere Menschen außer Landes treiben wird. Auf ihre Rente werden sie aber verständlicherweise nicht verzichten wollen.
Junge Leistungsträger dominieren unter den Auswanderern, während dank unseres Sozialsystems gering qualifizierte Migranten den Großteil der Einwanderer stellen. Ein zunehmender Abwanderungstrend unter deutschen Staatsbürgern würde dem Standort weiter schaden. Die zentralen Stichworte lauten Rentenlücke, Fachkräftemangel und Produktivitätskrise. In Kombination mit der hohen Steuer- und Abgabenlast sind das fundamentale Probleme, die auch dann noch die Wirtschaftsdynamik ausbremsen, wenn die Energiekrise von heute auf morgen gelöst werden würde.