Politik

Westen überrascht: Russland produziert deutlich mehr Waffen

Lesezeit: 4 min
15.09.2023 10:41  Aktualisiert: 15.09.2023 10:41
Trotz aller westlichen Sanktionen produziert Russland heute ein Vielfaches mehr an Waffen und Munition als vor Kriegsbeginn. Analysten haben die russischen Fähigkeiten massiv unterschätzt.
Westen überrascht: Russland produziert deutlich mehr Waffen
Präsident Wladimir Putin hat die Waffenproduktion in Russland unerwartet stark gesteigert. (Foto: dpa)

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Offenbar ist es Russland gelungen, die vom Westen verhängten Sanktionen und Exportkontrollen zu umgehen. Seine Raketenproduktion liegt heute weit über dem Vorkriegsniveau. Dies ist ein Vielfaches der vom Westen erwarteten Menge. Daher könnte die Ukraine in den kommenden Monaten trotz massiver Militärhilfen aus Europa und den USA stark unter Druck geraten.

Zu Beginn des Krieges im Februar 2022 musste Russland infolge der westlichen Sanktionen seine Produktion von Raketen und anderen Waffen für mindestens sechs Monate drastisch drosseln, berichtet die New York Times unter Berufung auf anonyme amerikanische Beamte. Doch bereits Ende letzten Jahres habe die Produktion wieder Fahrt aufgenommen.

Russland umgeht die amerikanischen Exportkontrollen, indem es mithilfe seiner Geheimdienste Netze von Personen betreibt, die Schlüsselkomponenten wie Chips in andere Länder wie Armenien und die Türkei schmuggeln, von wo aus sie leichter nach Russland importiert werden können. So baute Moskau den Handel mit wichtigen Komponenten innerhalb weniger Monate wieder auf.

Ukraine massiv unter Druck

Russlands wiedererstarkte Militärproduktion hat nicht nur Auswirkungen an der Front, wo massive russische Artillerie das ukrainische Militär unter Druck setzt, sondern auch für das ukrainische Stromnetz und andere wichtige Infrastruktur, die von russischen Raketen angegriffen werden. Offizielle Stellen fürchten bereits einen besonders dunklen und kalten Winter für die ukrainischen Bürger.

Zwar haben die USA der Ukraine die Luftabwehrsysteme Patriot, Avenger und Hawk bereitgestellt und ihre Verbündete zur Bereitstellung von S-300-Luftabwehrmunition überredet. Doch die Ukraine kann trotzdem nicht das gesamte Land abdecken, und muss die Standorte auswählen, die sie verteidigt. Ein verstärkter Raketenbeschuss könnte die Luftabwehr des Landes überfordern, sagen ukrainische Beamte.

Im Oktober 2022 hatte der Westen die Sanktionen gegen die russische Wirtschaft verschärf. Damals sagten amerikanische Beamte, dass die Sanktionen und Exportkontrollen zum Teil deshalb funktionierten, weil sie die Länder davon abhielten, Mikrochips, Platinen, Computerprozessoren und andere für Präzisionslenkwaffen benötigte Komponenten sowie notwendige Bauteile für Dieselmotoren, Hubschrauber und Panzer zu liefern.

Russland hat sich jedoch schnell darauf eingestellt und eigene Anstrengungen unternommen, um die Verfügbarkeit der benötigten Teile zu sichern. Heute haben die russischen Behörden ihre Wirtschaft auf die Rüstungsproduktion umgestellt. Die Sicherheitsdienste und das Verteidigungsministerium konnten die Mikroelektronik und andere Materialien, die für Marschflugkörper und andere Präzisionslenkwaffen benötigt werden, aus dem Westen einschmuggeln.

Infolgedessen hat sich die russische Rüstungsproduktion nicht nur erholt, sondern ist sogar sprunghaft angestiegen. Vor dem Krieg, so ein hochrangiger westlicher Verteidigungsbeamter, konnte Russland 100 Panzer pro Jahr herstellen, jetzt sind es 200. Westliche Beamte glauben auch, dass Russland auf dem besten Weg ist, 2 Millionen Artilleriegranaten pro Jahr herzustellen. Das ist doppelt so viel, wie westliche Geheimdienste vor dem Krieg für möglich gehalten hatten.

Russland produziert mehr Munition als USA und EU zusammen

Insgesamt schätzt Kusti Salm, ein hoher Beamter des estnischen Verteidigungsministeriums, dass die derzeitige Munitionsproduktion Russlands siebenmal größer ist als die des Westens. Ein Vorteil für Russland sind seine niedrigen Produktionskosten. So koste etwa die Herstellung einer 155-Millimeter-Artilleriepatrone im Westen 5.000 bis 6.000 Dollar, während die Herstellung einer vergleichbaren 152-Millimeter-Granate in Russland etwa 600 Dollar koste.

Wenn Russland Millionen Stück eines bestimmten Bauteils benötige, könnten die Exportkontrollen die Produktion durchaus zum Stillstand bringen, sagt Dmitri Alperowitsch, ein Experte für internationale Sicherheit und Vorsitzender von Silverado Policy Accelerator, einer in Washington ansässigen Denkfabrik. Aber die Chips, die für die Herstellung von ein paar hundert Marschflugkörpern benötigt werden, würden in ein paar Rucksäcke passen.

Amerikanische Beamte sagten, dass sie den Schmuggel von Teilen, die Russland für die Raketenproduktion benötigt, verlangsamen, aber nicht verhindern können, und dass es unrealistisch sei zu glauben, dass Moskau nicht auf die amerikanischen Beschränkungen reagieren würde. Nach Angaben des US-Handelsministeriums werden einige Komponenten in Drittländer verschifft und von dort nach Russland umleitet.

Amerikanische und europäische Beamte haben gemeinsam mit den Banken ein Warnsystem entwickelt, das die Regierungen vor möglichen Sanktionsverstößen warnt. Bislang haben amerikanische Banken die US-Regierung vor 400 verdächtigen Transaktionen gewarnt. Das Handelsministerium konnte ein Drittel dieser Berichte über verdächtige Aktivitäten für seine Untersuchungen nutzen.

Am 31. August beschuldigte das Handelsministerium drei Personen, an einem illegalen russischen Beschaffungsnetz beteiligt zu sein. Einer der drei, Arthur Petrov, ein russisch-deutscher Staatsbürger, wurde verhaftet und angeklagt. Er soll Mikroelektronik in den USA erworben und nach Zypern, Lettland oder Tadschikistan geschickt haben. Dort halfen andere Unternehmen dabei, die Bauteile nach Russland zu schicken.

Russland benötigt keine höherwertigen Chips, die leichter zu verfolgen sind, sondern ganz normale Standardchips, die in einer Vielzahl von Dingen eingesetzt werden, nicht nur in Lenkflugkörpern. "Das macht unsere Arbeit schwieriger, weil es viele Länder gibt, an die man diese Chips für legitime kommerzielle Zwecke verkaufen kann", zitiert die New York Times Matthew Axelrod, der beim US-Handelsministerium für die Durchsetzung der Sanktionen verantwortlich ist.

Auch für Russland gehen einige Bestände zurück

Laut westlichen Beamten ist die russische Produktion von Munition und Ausrüstung immer noch geringer als der Verbrauch und der Verschleiß durch das Militär. Zwar produziert Russland jährlich 2 Millionen Schuss Munition. Doch im vergangenen Jahr hat es etwa 10 Millionen Schuss Artillerie abgefeuert. Daher sucht Moskau nach alternativen Quellen, zuletzt durch ein Waffengeschäft mit Nordkorea.

Und obwohl Moskau beim Schmuggel von Prozessoren und Platinen erfolgreich war, sieht es sich mit einem Mangel an Raketentreibstoff und Basissprengstoff konfrontiert, die schwieriger zu schmuggeln sind als Platinen. Diese Engpässe werden Moskau wahrscheinlich einschränken, wenn es versucht, die Produktion von Munition, Raketen oder Bomben weiter zu steigern, sagten US-Beamten der New York Times.

Die starke Militärproduktion ist mit hohen Kosten für die russische Wirtschaft verbunden, auch der Schmuggel war nicht billig, sagen westliche Beamte. Ein hochrangiger westlicher Verteidigungsbeamter sagt, dass Russland fast ein Drittel seiner gewerblichen Wirtschaft in die Rüstungsproduktion verlagert habe. Das Land hat mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen, der weitere industrielle Fortschritte in dem Land erschweren könnte.

Russland hat seine Angriffe auf das ukrainische Energienetz im Sommer reduziert. Doch angesichts des Temperatursturzes glauben einige ukrainische und westliche Analysten und Regierungsbeamte, dass Russland die Terrorkampagne gegen Kiew nun wieder aufnehmen könnte. Allerdings, sagen sie, sei die ukrainische Verteidigung in einigen Bereichen stärker geworden.

"Die Ukrainer sind besser darin geworden, ihre Infrastruktur zu verteidigen und Verteidigungsanlagen um ihre Kraftwerke und kritischen Stromnetze zu errichten", sagt Salm vom estnischen Verteidigungsministerium. "Sie sind besser geworden, wenn es darum geht, die Auswirkungen von Stromausfällen und anderen Versorgungsausfällen zu beheben und sicherzustellen, dass sie nicht so schwerwiegend sind."


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