Politik

Erdogan verliert Interesse an EU-Beitritt - „Getrennte Wege“

Nach erneuter Kritik aus der EU hat der türkische Präsident Erdogan offenbar genug. Er signalisiert Desinteresse am Beitritt zu einer Union auf dem Abstieg.
Autor
17.09.2023 11:42
Aktualisiert: 17.09.2023 11:42
Lesezeit: 3 min
Erdogan verliert Interesse an EU-Beitritt - „Getrennte Wege“
Die Türkei verliert das Interesse an einem EU-Beitritt. (Foto: dpa) Foto: -

Präsident Recep Tayyip Erdogan hat im Hinblick auf das Beitrittsgesuch der Türkei zur Europäischen Union signalisiert, dass man auch "getrennte Wege" gehen könnte, wie Bloomberg berichtet. Hintergrund ist ein Bericht, den die EU letzte Woche veröffentlicht hat und in dem empfohlen wird, den Beitrittsprozess unter den derzeitigen Umständen nicht wieder aufzunehmen.

"In dieser Zeit, in der die Europäische Union Schritte unternimmt, um sich von der Türkei zu lösen, werden wir unsere Bewertung dieser Entwicklungen vornehmen, und nach dieser Bewertung werden wir gegebenenfalls mit der Europäischen Union getrennte Wege gehen", sagte er gegenüber Reportern in Istanbul, bevor er nach New York reiste, um an der UN-Generalversammlung teilzunehmen.

Der Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2022, der in diesem Monat angenommen wurde, besagt, dass "der Beitrittsprozess unter den derzeitigen Umständen nicht wieder aufgenommen werden kann". Der Bericht kritisiert unter anderem die Zensurgesetze, das harte Vorgehen gegen Kritiker, die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die Verschlechterung der Frauenrechte.

Türkei weist EU-Kritik zurück

Das türkische Außenministerium kritisierte den Bericht mit den Worten:

"Der Bericht ist eine Sammlung unbegründeter Behauptungen und Vorurteile, die auf Desinformation durch türkisfeindliche Kreise beruhen. Er spiegelt die bekannte oberflächliche und nicht visionäre Herangehensweise des EP [Europäischen Parlaments] nicht nur an die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, sondern auch an die Zukunft der EU wider. Dieser Bericht zeigt leider, dass die EP-Mitglieder Gefangene der populistischen Tagespolitik sind und weit davon entfernt, den richtigen strategischen Ansatz für die EU und unsere Region zu entwickeln.

In einer so kritischen Zeit, in der die Stabilität und Sicherheit unseres Kontinents auf dem Spiel steht und sich eine Gelegenheit bietet, die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU neu zu beleben, halten wir es für irrational, dass das Europäische Parlament neben den Beitrittsverhandlungen, die das Rückgrat der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU bilden, andere Ziele in den Vordergrund stellt.

Darüber hinaus sind die Behauptungen bezüglich der Ägäis, des östlichen Mittelmeers und Zyperns, die das EP in den Bericht aufgenommen hat, die einseitige Ansichten bestimmter Kreise widerspiegeln und sich von historischen und rechtlichen Tatsachen entfernen, null und nichtig.

Die Aktualisierung der Zollunion und der unverzügliche Abschluss des Dialogs über die Liberalisierung der Visabestimmungen sind die gemeinsamen Ziele der Türkei und der EU für die kommende Zeit. Die gegenseitigen Schritte, die in dieser Hinsicht unternommen werden, werden die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU und den Beitrittsprozess der Türkei auf eine neue und dynamische Ebene heben.

Die Türkei hat das Potenzial, die EU zu einer globalen Macht zu machen, die alle aktuellen Herausforderungen, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, Energie, Klimawandel, Migration, Handelsumlenkung und wirtschaftliche Schwierigkeiten, bewältigen kann. Die Anerkennung dieser Tatsache ist nur durch eine visionäre Perspektive möglich, die sich nicht den alltäglichen Interessen bestimmter Kreise unterwirft.

Wir erwarten, dass das neue Parlament, das sich nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 zusammensetzen wird, rational, objektiv und konstruktiv handelt."

Die EU und die Türkei haben 2005 Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Obwohl der Prozess ins Stocken geriet, ist die Türkei ein wichtiger Wirtschafts- und Verteidigungspartner für die EU geblieben. Im Juli sagte der türkische Finanzminister Mehmet Simsek in einem Versuch, die auf Eis gelegten Gespräche wiederzubeleben, dass das Land die EU als Inspirationsquelle für Veränderungen betrachte. "Das ist die beste Alternative, die es gibt", sagte er.

Streitpunkt Ukraine

Die Türkei wird von der EU und den USA zunehmend unter Druck gesetzt, sich ihrer Kampagne zur Bestrafung Russlands für seinen Angriff auf die Ukraine anzuschließen. Zwar setzt die Türkei die verbindlichen Sanktionen der Vereinten Nationen um. Doch darüber hinaus gehenden Sanktionsbemühungen hat sich das Land nicht angeschlossen, auch weil dies ihre Vermittlungsversuche zwischen Kiew und Moskau erschweren könnte.

Auf dem Gipfeltreffen der G-20-Gruppe in Neu-Delhi am vergangenen Wochenende drängte Erdogan mehrere westliche Staats- und Regierungschefs, auf einige der Forderungen Russlands einzugehen, um auf diese Weise das Schwarzmeerabkommen wiederzubeleben, das ukrainische Getreidelieferungen ermöglicht und die weltweiten Lebensmittelpreise senken könnte. Doch die USA und ihre Verbündeten lehnten dies ab.

EU-Kommissar Oliver Varhelyi lobte zwar die Bemühungen der Türkei zum Getreideabkommen, forderte aber die türkische Regierung zur Zusammenarbeit mit der EU auf. "Es ist wichtig, dass die Türkei mit der EU zusammenarbeitet, auch bei der Umsetzung der Sanktionen gegen Russland, insbesondere bei den sanktionierten Produkten", sagte Varhelyi in seiner Eröffnungsrede, als das EU-Parlament am Mittwoch seine nicht bindende Resolution vorstellte.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Politik
Politik Schlachtfeld der Zukunft: Die Ukraine schickt ihre Kampfroboter ins Gefecht
01.07.2025

Die Ukraine setzt erstmals schwere Kampfroboter an der Front ein. Während Kiew auf automatisierte Kriegsführung setzt, treiben auch...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnen bleibt Luxus: Immobilienpreise steigen weiter deutlich
01.07.2025

Die Preise für Wohnimmobilien in Deutschland sind erneut gestiegen. Laut dem Statistischen Bundesamt lagen die Kaufpreise für Häuser und...

DWN
Politik
Politik Trump und Musk im Schlagabtausch: Streit um Steuerpläne und neue Partei eskaliert
01.07.2025

Die Auseinandersetzung zwischen US-Präsident Donald Trump und dem Tech-Milliardär Elon Musk geht in die nächste Runde. Am Montag und in...

DWN
Politik
Politik Dänemark übernimmt EU-Ratsvorsitz – Aufrüstung dominiert Agenda
01.07.2025

Dänemark hat den alle sechs Monate rotierenden Vorsitz im Rat der EU übernommen. Deutschlands Nachbar im Norden tritt damit turnusmäßig...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Technik streikt: Zählt Ausfallzeit zur Arbeitszeit?
01.07.2025

Wenn im Büro plötzlich die Technik versagt, stellt sich schnell eine Frage: Muss weitergearbeitet werden – oder zählt die Zeit...

DWN
Politik
Politik NATO ohne Substanz: Europa fehlen Waffen für den Ernstfall
01.07.2025

Europa will mehr für die Verteidigung tun, doch der Mangel an Waffen, Munition und Strategie bleibt eklatant. Experten warnen vor fatalen...

DWN
Finanzen
Finanzen Trumps Krypto-Coup: Milliarden für die Familienkasse
30.06.2025

Donald Trump lässt seine Kritiker verstummen – mit einer beispiellosen Krypto-Strategie. Während er Präsident ist, verdient seine...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Streit um Stromsteuer belastet Regierungskoalition
30.06.2025

In der Bundesregierung eskaliert der Streit um die Stromsteuer. Während Entlastungen versprochen waren, drohen sie nun auszubleiben –...