Die EZB-Zinswende zeigt offenbar Wirkung. Die Geldmengen M1, M2 und M3 sowie die Kredite an Privatpersonen und Unternehmen schrumpfen im Euroraum. Etwa sank die Geldmenge M1 im August um -10,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie aus einer EZB-Mitteilung hervorgeht. M1 umfasst alles Bargeld und alle Sichtguthaben bei Banken.
Das weiter gefasste Geldmengenmaß M3, das etwa auch Anteile an Geldmarktfonds und Termineinlagen mit bis zu zwei Jahren Laufzeit enthält, schrumpfte um -1,3 Prozent zum Vorjahresmonat. Auch das Kreditvolumen an Privatpersonen und an Unternehmen geht im Monatsvergleich leicht zurück, auch wenn es in absoluten Zahlen noch etwas größer ist als vor einem Jahr.
Die Erzeugerpreise, die als Frühindikator für die Verbraucherpreisentwicklung gelten, fielen in Deutschland im August um -12,6 Prozent. Im Euroraum stiegen die Industrie-Erzeugerpreise um 0,5 Prozent im August – nach einem leichten Minus im Juli.
Ökonomen halten Deflation für möglich
Der Ökonom Thorsten Polleit hält es aufgrund der Geldmengenentwicklung für möglich, dass der Euroraum in eine Deflation rutscht. „Die Inflation der Konsumgüterpreise könnte 2024 sogar in den Negativbereich fallen“, schreibt er in einem Online-Artikel beim Schweizer Medium Finanz und Wirtschaft.
Gleichwohl könnte das Geldmengenmaß M3 die Entwicklung überzeichnen, erläutert Polleit. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken könnten zu Umschichtungen geführt haben. „In der Tat ist davon auszugehen, dass Bankkunden beispielsweise Sichtguthaben (die in M3 enthalten sind) in langfristige Bankschuldverschreibungen (die nicht in M3 berücksichtig werden) überführt haben“, schreibt der Honorarprofessor der Universität Bayreuth.
Auch der Ökonom Philipp Bagus schließt Deflation gegenüber DWN nicht aus. Etwa könnte das Preisniveau sinken, wenn ein großer Schuldner ausfallen würde und Banken daraufhin Kredite zurückfordern würden. Das könne eine Negativspirale in Gang setzen, bei der das generelle Preisniveau sinken dürfte.
Die Zentralbanken würden aber im Ernstfall vermutlich einspringen, um einen großen Zusammenbruch zu verhindern. „Daher ist es auf mittlere bis lange Frist wahrscheinlich, dass die Inflation im Trend hoch bleibt und Deflation allenfalls für kurze Zeit besteht“, erklärt der Professor aus Madrid, der über Deflation promoviert hat.
Laut Bagus ist Deflation eine zwangsläufige Folge der ungedeckten Kreditschöpfung der Zentralbanken und Geschäftsbanken. Das billige Geld führe zu einem künstlichen Aufschwung, der nicht durch tatsächliches Sparen und Konsumverzicht zustande gekommen sei. Der Boom sei daher nicht nachhaltig und münde in eine Rezession, in der die Wirtschaftsleistung schrumpfe, die Preise sinken und die Fehlinvestitionen aufgelöst und in rentable Unternehmungen überführt würden.
Bagus nennt diese Entwicklung auch Kreditdeflation, wenn also Banken in einer Wirtschaftskrise Kredite zurückfordern und dadurch die Geldmenge verkleinern, was zu einem sinkenden Preisniveau führt.
Daneben gebe es auch Wachstumsdeflation (Gütermenge wächst rascher als Geldmenge), staatlich verursachte Deflation (Staat verringert Geldmenge, etwa durch Kontosperrungen) und Kassenhaltungsdeflation (Geldnachfrage steigt, etwa weil die Bürger zunehmend Geld horten).
Was können Anleger tun?
Für Anleger ist besonders die Kreditdeflation gefährlich. Hier können Unternehmen und ganze Staaten bankrott gehen. Anleihen oder Aktien können wertlos werden. Ein solchen großen Zusammenbruch hält Philipp Bagus für weniger wahrscheinlich. Ganz ausschließen lasse er sich aber nicht.
Anleger sollten dennoch die Ruhe bewahren. Bislang haben sich die Kapitalmärkte nach jeder Kreditdeflation erholt und sind auf neue Rekordstände gestiegen. Laut Vermögensberatern sollte man daher eine Krise aussitzen und nicht verkaufen, falls man über ein breit diversifiziertes Portfolio verfügt.
Zudem gelten Wertpapiere im Depot als Sondervermögen. Geht der Broker oder die Fondsgesellschaft pleite, gehören Aktien, Fondsanteile und Co. weiter den Anlegern und haften nicht für die Schulden der Finanzdienstleister.
Der Finanzprofessor Hartmut Walz sieht in Staatsanleihen mit Top-Rating und in Gold einen Schutz gegen länger anhaltende Deflationsphasen. Diese Anlageklassen ließen sich jederzeit verkaufen und die Kurse würden in Krisen in der Regel steigen. In kurzen deflatorischen Schocks, etwa dem Corona-Crash vom März 2020, schützten aber auch Gold und Anleihen nicht vor Verlusten. Investoren müssten Wertpapierkredite zurückzahlen und würden Anleihen und Gold verkaufen, was die Kurse anfangs sinken lasse. Stattdessen sei Cash King, also Bankeinlagen unter 100.000 Euro und Bargeld. Walz rät daher, einen Dreimonatsbedarf an Bargeld zu horten.
Forscher der Universität Rotterdam berichten in einer Studie aus dem Jahr 2023, dass die Renditen von Aktien und Anleihen in Deflationen nominal gering seien. Inflationsbereinigt seien sie aber „attraktiv“. Die Forscher untersuchten Daten zu den USA, Japan, Frankreich, Deutschland und Großbritannien für den Zeitraum von 1875 bis 2021.
Demnach erzielten Investoren mit einem 60/40-Portfolio in allen Zeiträumen, in denen die globale Inflation unter null Prozent lag, eine reale Rendite von 6,7 Prozent pro Jahr. Die realen Renditen waren dabei in fast allen Deflationsszenarien positiv, etwa bei steigenden und fallenden Leitzinsen während einer Deflation, bei steigender oder fallender Wirtschaftsleistung, Unternehmensgewinnen oder Inflationsraten. Bloß wenn die Deflation mit sinkenden Aktienkursen einherging, machten Anleger leichte reale Verluste (-0,2 Prozent pro Jahr).
Laut den Forschern ist daher Inflation gefährlicher. „Die Aufteilung von Inflationsregimen in Unterregime zeigt, dass stagflationäre Episoden, inflationäre Bärenmärkte oder Zeiten steigender Inflation und in geringerem Maße deflationäre Bärenmärkte schlechte Zeiten für Anleger sind.“