Als im vergangenen Jahr etwa zu gleichen Zeit das Schreckgespenst namens „Gasmangellage“ durch den Raum geisterte, lief es nicht wenigen bereits kalt den Rücken herunter, noch bevor der Winter offiziell begonnen hatte. Nachdem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dann mit „wir brauchen ein bisschen Glück mit dem Wetter“ sein Krisenmanagement erklärte, konnte zumindest ausgeprägt empathischen Menschen wieder etwas wärmer ums Herz werden, aus Mitleid versteht sich.
Seinerzeit waren die deutschen Gasspeicher zwar trotz erheblicher russischer Fehlmengen planmäßig gefüllt, was zum einen auf neu erschlossene Beschaffungswege und, angesichts der drohenden Krise, vernunftsbasierte Nachfrageminderung zurückzuführen war. Darüber hinaus mussten nicht wenige Unternehmen aufgrund betriebswirtschaftlicher Gründe gezwungenermaßen ihren Verbrauch drosseln.
Man könnte sagen, die angesichts des nahenden Winters seinerzeit gute Ausgangslage wurde durchaus erkämpft. Vor allem die deutliche Nachfragereduzierung verhinderte das im Vorfeld skizzierte Horrorszenario einer unter winterlicher Energieknappheit darbenden Bevölkerung – „das Glück des Tüchtigen“ kam hinzu und war selbstverständlich mehr als verdient.
Das Schlimmste ist überstanden
Dies ist zumindest die Ansicht des weiterhin in Energieverantwortung stehenden Glückspilzes Habeck. Und ja, es gibt gute Nachrichten: Deutschland, Italien und weitere Länder, die auf Erdgas angewiesen sind, konnten sich ohne größere Engpässe von der zuvor bestandenen russischen Abhängigkeit lösen.
Darüber hinaus sind die Energiepreise im Jahr 2023 stetig gesunken, während die Gasspeicher in Europa bereits Mitte Oktober insgesamt zu über 98 % gefüllt sind. Europas größter Erdgasspeicher im norddeutschen Rehden wird zum Stichtag am 1. November mit einem Füllstand von dann mehr als 99 % nahezu komplett voll sein. Diese Situation stimmt selbstverständlich zuversichtlich, die dadurch suggerierte Sicherheit ist jedoch trügerisch.
LNG und Pipelinegas
Mittlerweile hat Norwegen Russland als Europas führenden Lieferanten von Pipelinegas überholt und deckt nun 46 % des Bedarfs, im Vergleich zu 38 % im Vorjahr. Dieser Anstieg blieb jedoch nicht ohne Folgen, so wurde die norwegische Gasinfrastruktur durch die daraus resultierenden Belastungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Unplanmäßige Wartungsarbeiten führten bereits Mitte des Jahres zu eingeschränkten Durchfüssen und dadurch kräftig steigenden Preisen – was schmerzlich verdeutlicht, wie eng der europäische Markt momentan ist.
Ähnliche Auswirkungen sind gerade in den nachfragestarken Wintermonaten geradezu erwartbar, und dann wären nicht nur rasant steigende Preise problematisch, sondern eben vor allem die daraus resultierenden geringeren Gasmengen. Auch perspektivisch sieht die Lage nicht rosig aus. So wird die EU zukünftig voraussichtlich immer noch etwa 22 Mrd. Kubikmeter Gas aus Russland beziehen müssen, was etwa 11 % des gesamten Pipeline-Gases von 2022 entspricht.
Ein Großteil davon kommt über die Ukraine, doch es mehren sich die Anzeichen dafür, dass diese Versorgungsroute nach Auslaufen des aktuellen Transitabkommens im Jahr 2024 in Gefahr ist. In einem Interview mit der Financial Times sagte der ukrainische Energieminister German Galuschtschenko kürzlich, er sehe nur geringe Chancen dafür, dass das Abkommen verlängert werde - entsprechende Lieferkürzungen wären die Folge.
Seit Anfang 2022 sank der Anteil der EU-Pipelinegasimporte aus Russland von damals 39 % auf nur noch gut 13 %, infolgedessen ist Europa nun in viel stärkerem Maße als bisher auf die Lieferung von Flüssigerdgas (LNG) angewiesen. Und der Anteil von LNG an den Gasimporten der EU steigt bereits rasant, allein im vergangenen Jahr von 19 % auf 39 %.
Die schnelle Modernisierung der notwendigen Infrastruktur aus Anlandeterminals, Regasifizierungsanlagen und Pipelines soll die europäische LNG-Kapazität bis 2024 um ein weiteres Drittel erhöhen. Eine Eigenart der europäischen LNG-Beschaffungsstrategie ist es, dass etwa 70 % der Importe kurzfristig gekauft werden und nicht durch langfristige, ölindexierte Verträge abgesichert sind, wie beispielsweise in Asien üblich. Dies macht insbesondere Europa anfällig für die enorme Volatilität dieses Marktes.
Erst kürzlich schnellte der europäische Referenzgaspreis aufgrund von Sorgen über Streiks in australischen LNG-Anlagen in die Höhe. Dies zeigt, dass das Angebot nach wie vor knapp ist und dass es auf dem global vernetzten Markt viele potenzielle Störungen geben kann. Auch in Hinblick darauf kann ein wenig Glück nicht schaden – oder eben die Umsetzung einer Beschaffungsstrategie, die das bisherige Rundum-Sorglos-Paket der vormals gut gelittenen russischen Partner nicht bloß hemdsärmlich ersetzt.
Krieg im Nahen Osten gefährdet Europas Versorgung
Der jüngste Anschlag der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel könnte sich hinsichtlich der Energieversorgung nachteilig auch auf Europa auswirken. Nachdem Sicherheitsbedenken zur Abschaltung des wichtigen, etwa 80 Kilometer vor Haifa im Mittelmeer gelegenen Tamar-Gasfeldes geführt haben, sind Israels Exporte ins Nachbarland Ägypten schlagartig um etwa 20 % zurückgegangen. Dies gefährdet nun seinerseits die Exportkapazitäten des nordafrikanischen Gasdrehkreuzes in Richtung Europa. Die Benchmark-Erdgaspreise in Europa sprangen daraufhin in der Spitze um mehr als 50 % an.
Europa plante in diesem Jahr mit etwa 7,5 Mio. Tonnen LNG aus Ägypten, das entspricht gut 80 % dessen Produktion. Die Dauer des Ausfalls ist nun die große Unbekannte, dabei steht sowohl die eigene Versorgung auf dem Spiel als auch ein Gutteil der hierzulande eingeplanten Mengen zur Sicherung der Winterversorgung. Zwar ist das etwa gleich große israelische Leviathan-Feld weiterhin in Betrieb, bei sich verschlechternder Gefährdungslage steht jedoch auch die dortige Produktion auf dem Spiel.
Darüber hinaus fällt Robert Habeck nun sein Gas-Deal mit Katar auf die Füße. Nicht wenigen stieß es von Beginn an sauer auf, dass Deutschland sich mit der Abkehr von Russland zwar einer offensichtlichen Abhängigkeit von einem umstritten gewordenen Handelspartner zu entledigen suchte, sich als Alternative dazu jedoch umgehend in eine neue begab, die in Form des archaischen Wüstenstaates mit zur westlichen Gesellschaftsordnung unpassenden Werten objektiv betrachtet kaum besser sein würde.
Der Not geschuldet wurde dies jedoch mit höchstens leiser Kritik akzeptiert, immerhin sollte das Geschäft Deutschland in der Zeit von 2026 bis 2041 bis zu 2 Mrd. Tonnen LNG pro Jahr sichern.
Angesichts der unbestrittenen finanziellen Zuwendungen, die das reiche Emirat der islamistischen Terrorgruppe Hamas zuteilwerden ließ und wohl auch weiterhin lässt, werden die Stimmen zunehmend lauter, die von Habeck die Aufkündigung entsprechender Vereinbarungen fordern. Eine Zwickmühle aus wirtschaftlichen, moralischen und sicherheitspolitischen Faktoren. Sollte Deutschland die Verträge lösen führte dieses sicherlich zu einem Eklat auf außenpolitischer Bühne mit Katar und wohl auch zu hierzulande dann wieder steigenden Energiepreisen.
Ein andauender Versorgungsengpass wäre jedoch eher nicht zu erwarten, zeigt sich die Privatwirtschaft auch an dieser Stelle traditionell wenig zimperlich. Gerade eben unterzeichneten Shell und Katar einen Vertrag zur Lieferung von Flüssiggas – über einen Zeitraum von 27 Jahren. Kurz zuvor schloss die französische TotalEnergies einen ähnlichen Vertrag, und weitere könnten folgen.
Auch die IEA warnt
Weit weniger entspannt als hiesige Politiker äußert sich die Internationale Energieagentur (IEA). Sie sieht insbesondere die Gefahr einer sich erheblich erhöhenden Volatilität der Erdgaspreise auf dem europäischen Kontinent, ausgelöst durch eben jenes knapper werdende Angebot und, im Falle von „Pech“, eines diesmal kalten Winters.
Die Agentur betont in ihrem jüngsten Ausblick, dass die weltweiten Erdgasvorräte trotz des zu beobachtenden Nachfragerückgangs nach wie vor knapp seien, so dass besonders kaltes Wetter in dieser Heizperiode die Gefahr weiterer Preisschwankungen samt eklatanter Preisspitzen erhöht. Auch die deutlich früher als geplant beinahe vollen Speicher böten keine Garantie für stabile Preise während der gesamten Saison. Eine spürbare Entlastung sieht die IEA erst ab dem Jahr 2025, da erst dann eine substanzielle Erhöhung der weltweiten LNG-Produktion zu erwarten sei.
Europa dürfte wohl noch zwei bis drei Winter mildes Wetter in der nördlichen Hemisphäre benötigen, um Gaspreisspitzen zu vermeiden. Die aktuellen Preise liegen bereits 50 % über dem langfristigen Durchschnitt vor der Invasion Russlands in die Ukraine, und besonders in Deutschland belastet dies Haushalte und Unternehmen.
Die Sorge, dass hohe Energiepreise dazu führen könnten, dass energieintensive Industrien in andere Länder abwandern, ist nicht unbegründet. Ab Mitte der 2020er-Jahre dürfte der Druck jedoch nachlassen, da in den USA und Katar neue LNG-Lieferungen in Richtung EU starten, wobei Katar als Lieferant, wie oben beschrieben, derzeit in Frage steht.
Ob der hiesige Plan, die europäische Erdgasnachfrage bis zum Ende der laufenden Dekade um 40 % zu senken, tatsächlich aufgeht ist angesichts der im Scheitern begriffenen Energiewende mindestens fraglich. Auch, ob es dann sogar zu einem Überangebot an Gas kommen könnte, wie von einigen prognostiziert, ist unsicher und hängt vor allem davon ab, wie der Ausbau erneuerbarer Energien und neuer Kernkraftwerke in Europa voranschreitet. Sicher sein dürfte indes, dass das Thema Erdgas den Kontinent noch lange Zeit vor Herausforderungen stellen wird.