Seit Februar 2022 wütet in der Ukraine ein verheerender Krieg. Dieser Konflikt hat nicht nur eine beispiellose humanitäre Krise ausgelöst, sondern auch lebhafte Debatten über die mögliche Integration des Landes in die Europäische Union entfacht. Laut verschiedenen Quellen, darunter das Newsportal Politico, wird bereits im Dezember eine offizielle Ankündigung über bevorstehende Beitrittsverhandlungen erwartet. Die Startglocke für diese Verhandlungen könnte noch in diesem Jahr läuten. Brüssel drängt auf eine rasche politische Einigung und hat der Ukraine bereits am 23. Juni 2023 den Status eines Beitrittskandidaten verliehen.
Befürworter, darunter prominente Politiker wie Ursula von der Leyen, setzen sich energisch für eine beschleunigte EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein. Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch betonte von der Leyen: „Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben“. Dagegen argumentieren zahlreiche Experten und Politiker, dass die Ukraine noch nicht ausreichend auf einen EU-Beitritt vorbereitet ist. Sie verweisen auf die Vielzahl von Problemen und Herausforderungen, denen das Land gegenübersteht.
Fakt ist: Die sogenannten Kopenhagener Kriterien legen strenge Maßstäbe für einen EU-Beitritt fest, darunter die Stabilität in Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, eine funktionierende Marktwirtschaft und die Bereitschaft, EU-Rechtsvorschriften zu übernehmen.
Krieg, Korruption und politische Instabilität
Die Erfüllung dieser Kriterien wird in einem von Krieg und wirtschaftlichen Herausforderungen gebeutelten Land, das unter weitverbreiteter Korruption und einer unzureichenden Unabhängigkeit der Justiz leidet, zu einer außerordentlichen Herausforderung.
Das erste Problem: Trotz Reformbemühungen durchzieht die weitverbreitete Korruption nahezu alle Lebensbereiche in der Ukraine, von der Polizei bis zur Wirtschaft und untergräbt das Vertrauen der Bürger in die Regierung sowie deren Fähigkeit, gerechte Entscheidungen zu treffen. Sie hat auch erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Armutsbekämpfung. Die Ukraine rangiert auf Platz 116 von 180 Ländern im Korruptionswahrnehmungsindex und erreicht lediglich 0,51 Punkte im Rechtsstaatlichkeitsindex, was deutlich unter dem globalen Durchschnitt liegt.
Auch die Einhaltung demokratischer Prinzipien bleibt zweifelhaft. Trotz Fortschritten seit der Euromaidan-Revolution im Jahr 2014 sind politische Instabilität und häufige Regierungswechsel an der Tagesordnung. Die aktuelle Regierung ist erst seit 2020 im Amt. Die Ukraine muss ihre demokratischen Institutionen stärken, um politische Stabilität zu gewährleisten und gleichzeitig menschenrechtliche Verletzungen entschieden bekämpfen, bevor sie die demokratischen Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllt.
Die wirtschaftlichen Herausforderungen der Ukraine stellen ein weiteres bedeutendes Hindernis dar. Als eines der ärmeren Länder Europas kämpft die Ukraine mit hoher Verschuldung und finanzieller Unsicherheit. Der andauernde Konflikt mit Russland verschärft die bereits bestehende wirtschaftliche Krise. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges war die Ukraine wirtschaftlich benachteiligt, mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von lediglich etwa 4.600 Euro – deutlich weniger als in den entwickelten EU-Ländern. Seit Beginn des Konflikts hat sich die wirtschaftliche Lage der Ukraine weiter verschlechtert. Im Jahr 2022 gab es einen Einbruch des Wirtschaftswachstums von etwa 30,3-Prozent und für das Jahr 2023 wird ein zusätzlicher Rückgang von etwa 3-Prozent erwartet.
Vor dem Hintergrund all dieser Aspekte steht die Ukraine vor gewaltigen Herausforderungen: Obwohl in den letzten Jahren Fortschritte erzielt wurden, wie beispielsweise Verfassungsänderungen, Schritte zur Korruptionsbekämpfung und eine Stärkung der politischen Landschaft, sind die Bedingungen für einen unmittelbaren EU-Beitritt der Ukraine noch nicht erfüllt. Das Land mag zweifellos ein bedeutender Partner für die EU sein, dennoch erfordern die anhaltenden Probleme eine realistische Einschätzung.
Ukraine und EU-Beitritt
Andernfalls besteht die Gefahr, die gleichen Fehler zu wiederholen, wie sie bei den EU-Beitritten von Rumänien, Bulgarien und der Slowakei in der Vergangenheit gemacht wurden. Dort wurde ungenügend auf rechtliche und korruptionsbedingte Angelegenheiten geachtet, was zwar zu einer Erweiterung der EU um ein Viertel führte, jedoch erhebliche Probleme wie Korruption, Migration und wirtschaftliche Ungleichheiten mit sich brachte. Auch die Mitgliedstaaten Ungarn und Polen mussten bereits wegen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sanktioniert werden.
Daher sollte die EU-Politik die bestehenden Herausforderungen anerkennen und gezielte Maßnahmen zur Verbesserung ergreifen, anstatt überstürzt eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union voranzutreiben. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ein EU-Beitritt der Ukraine weder die Stabilität der EU gefährdet noch die Sicherheit in Europa beeinträchtigt. Dies erfordert nicht nur sorgfältige Planung, sondern auch die konsequente Implementierung strenger Überwachungsmechanismen und effektiver Sanktionen in zukünftigen Beitrittsabkommen. Dies ist besonders wichtig, da die finanzielle Belastung, die mit der Integration eines so schwer gebeutelten Landes in die EU einhergehen würde, erheblich ist.
Gemäß den geltenden Bestimmungen des siebenjährigen EU-Haushalts würde die Ukraine im Falle eines Beitritts in jeder Budgetperiode etwa 186 Milliarden Euro von der EU erhalten, wie vom Spiegel berichtet wurde. Eine solche Form der Integration könnte die finanziellen Ressourcen der EU erheblich beanspruchen und möglicherweise Mittel von ärmeren Mitgliedsstaaten abziehen, darunter Polen, Griechenland, Ungarn und Rumänien, die im Jahr 2022 alle Nettoempfänger waren.
Während die Befürworter eines EU-Beitritts der Ukraine auf eine stärkere Präsenz auf der globalen politischen Bühne und einen erweiterten EU-Binnenmarkt hoffen, ist es von entscheidender Bedeutung, einen EU-Beitritt mit Umsicht und Sorgfalt zu gehen. Nur so können die gemeinsamen europäischen Werte gewahrt werden.
Nicht zuletzt ist zu betonen, dass die Ukraine auch ohne einen EU-Beitritt erhebliche Unterstützung erfährt. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg haben die Europäische Union, ihre Mitgliedsstaaten und ihre Finanzinstitutionen insgesamt etwa 85 Milliarden Euro an finanzieller, humanitärer und Soforthilfe sowie in Form von militärischer Unterstützung für die Ukraine bereitgestellt. Diese großzügige Hilfe unterstreicht die Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft, die Ukraine in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen.