Politik

Superwahljahr 2024: Ist der Westen bald Geschichte?

Lesezeit: 5 min
14.01.2024 17:37  Aktualisiert: 14.01.2024 17:37
Das Jahr 2024 ist ein entscheidendes Wahljahr. Ob Europawahlen, Kommunalwahlen in Deutschland und Ungarn oder Präsidentschaftswahlen in Österreich und den USA - die politische Landschaft des Westens könnte sich in diesem Jahr grundlegend verändern. Der Ausgang der Urnengänge wird nicht nur über die Zukunft einzelner Nationen entscheiden, sondern auch über das Schicksal der EU und der USA auf der Weltbühne insgesamt. Ist der Westen bald Geschichte – und droht die eigentliche Gefahr tatsächlich von außen?
Superwahljahr 2024: Ist der Westen bald Geschichte?
Kleiner Parteitag der Bayern-SPD zu Europa in der kleine Meistersingerhalle in Nürnberg. Im Zentrum steht die Listenaufstellung der bayerischen Kandidatinnen und Kandidaten für die Europawahl 2024. (Foto: dpa)
Foto: Daniel Löb

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Im Herbst vergangenen Jahres sorgten zwei Wahlen international für Aufsehen: Aus der Präsidentenwahl in Argentinien ging Javier Milei als Sieger hervor. Ein Rechtspopulist, der sich selbst als Anarchokapitalist bezeichnet und eine ungehemmte Privatisierung predigt. Milei will das zweitgrößte Land Lateinamerikas grundlegend umkrempeln. Auf der anderen Seite des Globus – in der Slowakei – machte bei der Parlamentswahl die linkspopulistische Smer-Partei das Rennen. Ihr Chef, Robert Fico, ist neuer Ministerpräsident.

Zwischen beiden Wahlsiegern liegen geografisch und politisch Welten – doch die Folgen ihrer zu erwartenden Politik dürften weit über die jeweiligen Landesgrenzen hinausreichen. Milei verzichtete schon kurz nach seinem Amtsantritt auf einen Beitritt Argentiniens zur Gruppe der BRICS-Staaten. Und im 12.000 Kilometer entfernten Bratislava stoppte der neue slowakische Ministerpräsident Fico jegliche Militärhilfe für die Ukraine. Weitere Anti-EU-Entscheidungen der Slowakei dürften nur eine Frage der Zeit sein.

Beide Wahlen könnten einen Vorgeschmack auf das geben, was 2024 möglich ist – der ohnehin schon fragile Status Quo westlicher Demokratien könnte noch brüchiger, die Multipolarität der Welt noch ausgeprägter werden. In einem Facebook-Post bezeichnete Ungarns Außenminister Péter Szijjáró das Wahljahr 2024 denn auch „als Superbowl der Politik“. „Noch nie zuvor haben in 78 Ländern innerhalb eines Jahres Wahlen stattgefunden, die sich direkt auf fast 4 Milliarden Menschen weltweit auswirken“, schrieb Szijjáro auf der Plattform.

Ungarn: Weiter nach rechts bei den Kommunalwahlen

Auch in der Heimat von Péter Szijjáros finden in diesem Jahr Wahlen statt. Rund 8 Millionen Wahlberechtigte sind im Herbst aufgerufen, Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte sowie 19 regionale Selbstverwaltungseinheiten (Komitatsversammlungen) zu wählen. Zwar konnte das Oppositionsbündnis mit der europafreundlichen Partei Momentum bei den vergangenen Kommunalwahlen 2019 den Oberbürgermeister von Budapest stellen, doch das regierende Parteienbündnis aus der rechtpopulistischen FIDESZ und der nationalkonservativen KDNP dominiert den ländlichen Raum. Beobachter gehen deshalb davon aus, dass die Regierungsparteien ihre landesweite Vormachtstellung auf kommunaler Ebene ausbauen dürften. Ginge es nach dem Willen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, würden im Jahr 2030 in Europa andere Machtverhältnisse herrschen als heute. „Wir Mitteleuropäer werden bis dahin Nettozahler der EU sein“, sagte Orbán im Juli 2022 auf der jährlichen Sommerakademie seiner Regierungspartei FIDESZ.

Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Zwar genießt Orbán in den rechtskonservativen Kreisen zwischen Amsterdam, Rom und Belgrad fast schon Heldenstatus, doch nach Zahlen der Europäischen Zentralbank (EZB) hatte Ungarn im Februar 2023 mit 25,8 Prozent die höchste Inflationsrate aller EU-Länder. Im darauffolgenden November waren es nur noch 9,6 Prozent. Doch die Teuerung wirkt nach, und vor allem wirkt sie sich negativ auf den Lebensstandard der Ungarn aus, die laut Angaben der OECD zwischen 2022 und 2023 mit 15,6 Prozent den höchsten Reallohnverlust aller OECD-Länder hinnehmen mussten.

Und die wirtschaftlichen Aussichten bleiben trübe: Die Ökonomen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) erwarten, dass die Wirtschaftsleistung (BIP) des Landes 2024 nur noch um 1,8 Prozent wachsen wird. Selbst für die kriegsgebeutelte Ukraine wird ein doppelt so hohes Wirtschaftswachstum prognostiziert.

Österreich: Die FPÖ und das Projekt Volkskanzler

Auch in Österreich wird gewählt: Im Herbst bestimmt die Alpenrepublik einen neuen Nationalrat sowie die Landtage in Vorarlberg und der Steiermark. Schon jetzt sind sich Parteienforscher einig, dass die rechtspopulistische FPÖ die Wahlen dominieren wird – und das, obwohl FPÖ-Chef Herbert Kickl offen damit wirbt, seine Politik an den Vorbildern Ungarns und Russlands ausrichten zu wollen. Kickl selbst bezeichnet sich in diesem Zusammenhang als „Volkskanzler“ und spricht von einer „totalen Hinwendung zur eigenen Bevölkerung“. Dazu passt, dass die FPÖ und die AfD ihre Zusammenarbeit vertiefen wollen. Dass dies in den Köpfen der österreichischen Wählerinnen und Wähler angekommen ist, zeigen Umfragen. Seit Monaten liegt die FPÖ stabil zwischen 29 bis 30 Prozent.

USA: Droht ein Wiedergänger Trump?

Vor Kurzem wurde Donald Trump vom TV-Sender Fox News gefragt, ob er Diktator von Amerika werden wolle. Seine Antwort: „Nein, nein, nein, nur am ersten Tag.“ Sollte Trump tatsächlich ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen, droht nach Einschätzung von politischen Beobachtern womöglich eine Art interner Staatsstreich – eine Verstümmelung oder gar Abschaffung demokratischer Institutionen durch einen demokratisch gewählten Präsidenten. Entsprechende Bedenken äußerten kürzlich drei ehemalige Mitarbeiterinnen Trumps in einem Interview mit dem US-Sender ABC , darunter Alyssa Farah Griffin, von Oktober 2017 bis September 2019 stellvertretende Pressesprecherin des Weißen Hauses. „Grundsätzlich könnte eine zweite Amtszeit von Trump das Ende der amerikanischen Demokratie, wie wir sie kennen, bedeuten“, sagte Griffin gegenüber dem Sender.

Ob es dazu kommen wird, bleibt vorerst Spekulation. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Allein die gewesenen und aktuellen Auftritte Trumps haben zu einer Verrohung der politischen Sitten nicht nur in den USA sondern auch in Europa geführt. Es ist damit zu rechnen, dass Fake News und Propaganda die anstehenden Wahlen in diesem Jahr in einem nie gekannten Ausmaß beeinflussen werden.

Europawahl: Zukunftsängste und soziale Fragen

Gerade für den Ausgang der Europawahl im Juni dürfte mitentscheidend sein, wie die Bürgerinnen und Bürger auf dem Kontinent europäische Politik empfinden. Nach Lage der Dinge erleben viele Menschen die EU vor allem als Finanz- und Wirtschaftsunion und weniger als Sozialunion. Überhaupt scheinen soziale Themen für viele Menschen die wahlentscheidenden zu werden. Ähnlich wie es schon in Argentinien 2023 war. Verlustängste und Sorgen vor einem sozialen Abstieg werden am Wahltag für viele Kreuze vor allem bei den rechtspopulistischen Parteien sorgen. Klar ist allerdings: Kritik zu formulieren, ist eine Sache. Lösungen zu haben und Dinge zu ändern, ist eine ganz andere.

Der etablierten Politik scheint es auch in Deutschland bis jetzt nicht zu gelingen, die in der Bevölkerung um sich greifenden radikalen Proteste zu entschärfen. Die Sozialen Medien entpuppen sich dabei als Anheizer von Krisen und Hysterie. Vor diesem Hintergrund könnten auch die anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zum Frust-Ventil werden.

Hat das westliche Demokratiemodell ausgedient?

Gewiss nicht. Aber westliche Politikerinnen und Politiker sollten davon Abstand nehmen, das System des bürgerlichen Parlamentarismus als Nonplusultra der Staatsführung zu preisen. Stattdessen wäre es der politischen Entscheidungsfindung in der Europäischen Union (EU) dienlicher, andere politische Systeme zu akzeptieren, ohne deren Existenzberechtigung infrage zu stellen oder dahingehende Empfehlungen abzugeben – häufig gar ohne fundierte Kenntnisse nationaler Besonderheiten oder Entwicklungswege. Das heißt: Auch Wahlergebnisse, die unserem Demokratieverständnis wenig oder gar nicht entsprechen, sollten nüchtern und sachlich beurteilt werden. Eine „wertegeleitete“ Außenpolitik ist ein hehrer Anspruch, der oft genug an den internationalen Realitäten scheitert. Um es mit Egon Bahr zu sagen, einem der Vordenker deutsch-deutscher und europäischer Entspannungspolitik: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Auch wenn Bahr heute selbst bei führenden Sozialdemokraten eher verpönt ist, sollte seine politische Erfahrung ernst genommen werden. Konkret: Es bringt politisch nichts, die Politik Wladimir Putins als „das Böse“ zu klassifizieren, wie es der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskij tut. Der Westen muss die russische Politik - nach innen wie nach außen - möglichst unvoreingenommen analysieren. Erst recht nach dem wahrscheinlichen Sieg Putins bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im März. Die Verbrechen, die in Putins Namen begangen wurden und werden, werden dadurch nicht relativiert. Und es schadet auch nicht der Solidarität mit der Ukraine. Nur: Der Westen sollte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Denn anders als von Experten vorhergesagt, ist Russland durch den von ihm angezettelten Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Sanktionen des Westens weder wirtschaftlich noch militärisch in die Knie gegangen.

Auch die Lage in der Ukraine selbst erscheint von Monat zu Monat konfliktreicher. Der Präsident und Teile der Armeeführung scheinen in nicht unwesentlichen Fragen der Landesverteidigung unterschiedlicher Meinung zu sein. Bleibt das Kriegsrecht in Kraft, dürften die für das Frühjahr geplanten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine verschoben werden. Der Krieg hingegen dürfte weitergehen – das ist schlimm genug. Was aber, wenn sich in der EU nicht nur Ungarn und die Slowakei gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine stellen? Was, wenn bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni europakritische Parteien großen Zulauf bekommen? Was, wenn nach den demokratischen Wahlen in den USA die Demokratie schweren Schaden nimmt?

Es wäre mehr als ein böser Treppenwitz der Geschichte, wenn die über Jahrzehnte seit Ende des 2. Weltkriegs erprobte westliche Demokratie sich zwar gegen äußere Feinde als widerstandsfähig erwiesen hat, nun jedoch den Gegnern im Innern hilflos gegenüberstehen könnte.


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