Politik

Die Redemokratisierung Polens - ein Gespräch

Lesezeit: 13 min
10.03.2024 17:56  Aktualisiert: 10.03.2024 18:00
Ein demokratisches Land nach dem anderen sah sich in den vergangenen Jahren – manchmal in schicksalhafter Weise – der Verlockung autoritärer Populisten ausgesetzt. Diese versprachen, die wirtschaftliche Sicherheit der Wähler und „traditionelle“ Werte zu verteidigen. Was das konkret für Polen und Europa bedeutet.
Die Redemokratisierung Polens - ein Gespräch
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und die neuen Regierungsmitglieder im Sejm, dem Unterhaus des Parlaments (Fotos: dpa).
Foto: Pawel Supernak

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Polen  
Europa  

Polen hat sich seit der Parlamentswahl im Oktober in die gegenteilige Richtung bewegt. Allerdings dürften sich die Wiederherstellung des Rechtsstaats und die Wiederbelebung der liberalen Demokratie nach acht Jahren rechtspopulistischer Missherrschaft als nicht gerade einfach erweisen. Wie die Redemokratisierung Polens vorangeht und gelingen kann - ein Gespräch

Irena Grudzińska Gross: Polen hat seit Jahresbeginn eine neue Koalitionsregierung, doch die abgewählte Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) scheint ihre Niederlage noch nicht verwunden zu haben. Woran liegt das?

Adam Michnik: Es ist sehr schwierig, seine Niederlage einzugestehen, wenn man überzeugt ist, dass man bis zum Weltuntergang an der Macht sein wird. Hier zeigen sich einmal mehr ganz deutlich die Arroganz und der Größenwahn und Mangel an Fantasie der PiS-Führung. Die PiS hat ein sehr gutes Wahlergebnis erzielt: über 35 Prozent der Stimmen. Nach dem, was sie während ihrer Zeit an der Macht angerichtet hat, hätte sie nicht mal ein Fünftel dieser Stimmen bekommen dürfen. Doch das Wahlergebnis ist klar: Sie hat die Rote Karte gezeigt bekommen. Sie war nicht imstande, eine Regierung zu bilden.

Jedoch ist dies erst der Anfang, denn die PiS wird versuchen, möglichst viel Unruhe zu stiften, um die neue Regierung zu stürzen. Jetzt hängt alles davon ab, in welchem Maß die neue Regierung Polen verändern und einen Teil der PiS-Wähler für sich gewinnen kann. Man kann sagen: Das Schlimmste liegt hinter uns, aber das Schwerste kommt noch.

Irena Grudzińska Gross: Inwieweit unterscheidet sich die aktuelle politische Veränderung vom Abschied vom Kommunismus 1989?

Adam Michnik: Die Lage ist radikal anders. Damals war das Regime am Zusammenbrechen; es war ein konstitutioneller, historischer Moment. Die Diktatur wurde von Menschen angeführt, die wussten, dass das sozialistische oder kommunistische Projekt gescheitert war. Sie fragten sich, wie sie in der neuen Realität einen Platz für sich finden könnten, und waren bereit, die Spielregeln zu respektieren.

Präsident Wojciech Jaruzelski war damals der nichtkommunistischen Regierung von Tadeusz Mazowiecki gegenüber absolut loyal. Im Gegensatz dazu steht der derzeitige Präsident Andrzej Duda – oder vielmehr der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński – der neuen Regierung absolut illoyal gegenüber, obwohl sie ein politisches Mandat hat. 1989 wollten sie eine Übereinkunft, heute nicht. 1989 wollten die, die dem alten Regime gedient hatten, die neue Realität mitgestalten; ihre heutigen Gegenstücke stellen diese in Frage. Sie wollen, dass es ist wie vorher.

Irena Grudzińska Gross: Bitte erklären Sie, was Sie konkret meinen mit „Das Schwerste kommt noch“.

Adam Michnik: Das Kaczyński-Lager hatte zwei Szenarien. Das erste war, dass sie die Wahl gewinnen würden und alles nach ihren Vorstellungen laufen würde. Das zweite bestand darin, das politische Gelände für den Fall einer Wahlniederlage durch Bewahrung der Kontrolle über die öffentlichen Medien, die Justiz, die für die innere Sicherheit zuständigen Sonderorgane und die Finanzbehörden derart zu verminen, dass die Wahlsieger nicht würden regieren können. Sie haben die Gesetzgebung geändert und stellen den Präsidenten. Das Verfassungsgericht ist komplett in PiS-Hand.

In dieser Situation muss die neue Regierung Dudas Vetomacht ausweichen. Jede Veränderung muss die aktuellen Gesetze umgehen. Aber das heißt nicht, ohne dagegen zu verstoßen. Ein Beispiel: Alle Ernennungen in Bezug auf die europäischen Institutionen werden vom Präsidenten vorgenommen. Also sagt die neue Regierung: Wir können keinen neuen Botschafter berufen, aber wir können den jetzigen Botschafter zu Beratungen nach Warschau zurückrufen und einen „kommissarischen“ Botschafter ernennen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Es ist eindeutig, dass dies ein sehr wichtiges Jahr sein wird, um die Institutionen und den Staat zu redemokratisieren.

Irena Grudzińska Gross: Wie stark wird Duda die Arbeit der neuen Regierung behindern?

Adam Michnik: Ich bin einer von denen, die Duda nicht ernst nehmen. Ich teile die Einstellung des Betreuers seiner Abschlussarbeit an der Universität, Jan Zimmermann: skeptisch-ironisch. Solange Kaczyński unbestrittener Chef der PiS ist, wird Duda meiner Meinung nach tun, was Kaczyński will.

Seine Eingriffe zur Verteidigung des alten für das staatliche Fernsehen zuständigen Teams waren nicht ernst zu nehmen. Man kann schon jetzt sehen, wie anders die Nachrichten heute im Vergleich zur PiS-Zeit aussehen. Wir erleben heute ehrliche Nachrichtenprogramme, keine regierungsfreundliche Propaganda – zeitweise war es an den Stalinismus und an Goebbels erinnernde Propaganda, die man sich unmöglich ansehen konnte.

Dudas Unterstützung für die Ex-Minister Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik ist ebenfalls albern. Sie wurden im Dezember von einem ordentlichen Gericht zu zwei Jahren Haft verurteilt. Duda hat sie 2015 begnadigt, aber er tat das, bevor ihre Verurteilungen rechtskräftig waren. Das war, als würde man jemandem eine Scheidung gewähren, bevor er geheiratet hat. Als die Gerichte diese vorbeugende Begnadigung für nichtig erklärten, hoffte die PiS, dass die neue Regierung zahm reagieren würde: „Sie wurden verurteilt, aber sie werden sie trotzdem nicht ins Gefängnis stecken.“ Als eine Haft dann zunehmend wahrscheinlich schien, gewährte Duda den beiden Männern Schutz im Präsidentenpalast. Er ging davon aus, dass die Polizei diesen nicht betreten würde. Aber sie tat es und brachte die beiden ins Gefängnis, so wie es das Gesetz vorsieht. Das hat gezeigt, dass das Gesetz in Polen für alle gilt.

Irena Grudzińska Gross: Hat die neue Regierung eine Chance auf Stabilität? Schließlich vertreten die Koalitionsparteien unterschiedliche Positionen, etwa was ihre Einstellung zur Abtreibung oder zur Rolle der katholischen Kirche angeht.

Adam Michnik: Auf die Frage nach der Stabilität gibt es keine einfache Antwort. Das Paradoxe ist, dass die innere Stabilität der Regierungskoalition umso größer sein wird, je stabiler die Unterstützung für die PiS innerhalb der Bevölkerung ist. Bisher macht die Koalition keine wesentlichen Fehler; die Koalitionspartner haben begriffen, dass sie auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden sind. Wenn also einer der anderen ein Bein stellen will, stellt er sich selbst eins.

Was die Vision von der Welt angeht, sind die traditionellen Vorstellungen von Links und Rechts wichtig. Doch bei dieser Wahl gab es keinen Streit über Steuern oder Sozialleistungen. Allen Mitgliedern der Koalition ging es um die Gestalt des polnischen Staates und das verbundene Thema von Polens Platz in Europa. Die Republik steckt in der Krise, und jetzt wird sie verteidigt.

Die Abtreibung ist kein Thema im Koalitionsvertrag, und sie spaltet die neue Regierung nicht grundsätzlich. Es zieht sich ein Faden eines PiS-feindlichen moralischen Konservatismus durch die Koalition. Das betrifft in erster Linie die PSL (Polnische Volkspartei) und einen Teil vom Dritten Weg. Ministerpräsident Donald Tusk hält eine Lockerung des Abtreibungsrechts für erforderlich, und seine Partei wird einen Gesetzentwurf formulieren und dem Parlament vorlegen. Ob er dort verabschiedet wird, bleibt abzuwarten, aber Tusk wird seine Wahlversprechen einhalten. Falls der Gesetzentwurf nicht verabschiedet wird, wird die PSL einem Referendum zu diesem Thema zustimmen. Die PiS behauptet, dass Gesetze, bei denen moralische Werte betroffen sind, einem Referendum unterzogen werden sollten. Aber es geht hier nicht um Werte, sondern um rechtliche Lösungen. In jedem Fall werden derzeit echte soziale Fortschritte erzielt; die Regierungskoalition befürwortet schon jetzt zivile Partnerschaften, was für Polen etwas Neues ist.

Irena Grudzińska Gross: Gibt es noch weitere gemeinsame Positionen in der Regierungskoalition?

Adam Michnik: Die Regierungspolitik unter der PiS war nahezu identisch mit der des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Der einzige Unterschied war ihre Politik in Bezug auf die Ukraine. Die Überraschung war für mich, dass in Polen alle Parteien außer der extremen Rechten pro-ukrainisch eingestellt sind. Die geballte Kraft der Putin-Propaganda richtet sich gegen die Ukraine, und der Slogan der polnischen extremen Rechten – „Stoppt die Ukrainisierung Polens“ – kopiert Putins Rhetorik eins zu eins. Und doch haben sich die tief verwurzelten antirussischen Ressentiments der Polen als stärker erwiesen als ihr ukrainefeindlicher Komplex. In dieser Frage herrscht Einigkeit, aber was alles Übrige angeht, ist die Regierung gerade erst dabei, eine in sich schlüssige Linie zu entwickeln.

Was die Wirtschaft angeht, hat Tusks Bürgerplattform sie bildet zusammen mit der Partei Nowoczesna (Modern) die Bürgerkoalition, den größten Koalitionspartner inzwischen verstanden, dass kompromissloser Marktliberalismus zu Wahlniederlagen führt. In sozialen Fragen gibt es bei der Abtreibung, in der Marijuana-Frage und anderen Themen ein starkes Drängen insbesondere der jüngeren Generationen auf eine pro-europäische, pro-westliche und in der Tendenz liberale Option. Auch hier gibt es in der Regierungskoalition Meinungsunterschiede zwischen Linken und konservativ-katholischen Gruppen. Doch selbst Letzteren ist der Widerstand gegen die Zerstörung des Rechtsstaats durch die PiS wichtiger als die Warnungen vieler Bischöfe, eine Stimme für die Koalition sei ein Votum für Lasterhaftigkeit. Momentan gibt es Grund zu vorsichtigem Optimismus.

Irena Grudzińska Gross: Wo wir von den Bischöfen sprechen: Welche Rolle spielte die Kirche bei der Wahl im Oktober?

Adam Michnik: Keine. Die Kirche war sehr vorsichtig. Sie hat sich politisch bereits die Finger verbrannt und hat nicht mehr dieselbe Autorität wie früher. Natürlich herrschten in der Provinz aufseiten der Kirche die Sympathien für die PiS vor, aber es gab keine klare Wahlempfehlung zu ihren Gunsten. Die Kirche war gespalten.

Irena Grudzińska Gross: Was ist die Rolle und Situation der Staatsmedien und Ihrer Zeitung, der Gazeta Wyborcza?

Adam Michnik: Bei der Gazeta Wyborcza hatten wir eine sehr klare Position: Wir sind gegen die PiS. Wir haben kein klares politisches Programm, und unsere Journalisten wählen mit Sicherheit nicht alle gleich. Aber wir hatten ein gemeinsames Ziel: Wir verteidigen die Republik. Diese politische Linie hat sich in Polen heute durchgesetzt; man hört es in dem, was der Ministerpräsident und seine Minister sagen. Dies ist die Sprache der Demokratie, die wir alle teilen.

Irena Grudzińska Gross: Wird sich die wirtschaftliche Lage der Gazeta Wyborcza jetzt verbessern? Schließlich wird der Werbeboykott durch die staatlichen Einrichtungen nun enden.

Adam Michnik: Ich weiß nicht, ob sie sich verbessern wird. Der Boykott wird aufhören, und dasselbe gilt für die Subventionierung kleiner PiS-freundlicher Zeitungen. Und wir werden nicht mehr so viele Gerichtsverfahren bestreiten müssen wie bisher. Doch die Rolle der Zeitungen nimmt ab, überall, weil sich das Internet zur primären Informationsquelle der Menschen entwickelt. Es hängt zudem viel davon ab, wie sich die Weltlage entwickelt, was im Osten passiert, in anderen europäischen Ländern, wie die Europawahlen ausgehen und schließlich – das macht uns enorme Sorgen – wie die Zukunft in Russland und den USA aussehen wird. Denn falls der frühere US-Präsident Donald Trump gewinnt, wird er die Welt auf den Kopf stellen. All dies könnte die wirtschaftlichen Aussichten der Zeitungen auf unvorhersehbare Weise beeinflussen.

Irena Grudzińska Gross: In Polen gab es in letzter Zeit eine Reihe öffentlicher antisemitischer Vorfälle. Ich beziehe mich hier auf den im Parlamentsgebäude, wo der Abgeordnete Grzegorz Braun die Kerzen eines Chanukka-Leuchters mit dem Feuerlöscher auslöschte. In der Gazeta Wyborcza schrieb der Journalist Witold Mrozek, dass es der Antisemitismus in Polen, unter anderem dank der ständigen Aktivitäten des Paters Tadeusz Rydzyk, von einer Randerscheinung in den Mainstream geschafft habe.

Adam Michnik: Das würde ich nicht sagen. Wenn es der Antisemitismus in den Mainstream geschafft hat, dann vor ein paar Jahren. Es wäre angesichts des Braun-Vorfalls und davor der Ereignisse beim Unabhängigkeitsmarsch in Kalisz 2021, bei dem zutiefst antisemitische Reden gehalten wurden, Unsinn, zu behaupten, es gäbe in Polen keinen Antisemitismus. Fakt ist aber, dass dies seit 1989 die erste polnische Wahl war, bei der nicht die antisemitische Karte gespielt und politische Gegner als Juden gebrandmarkt wurden. Das war vorher immer der Fall; diesmal gar nicht. Die rechtsextreme Partei Konfederacja Konföderation hat Braun bei den Wahlen versteckt und junge, intelligente Kandidaten, die über Steuern sprachen, ins Rampenlicht gestellt. Ihre Strategie schien zu sein: Deutschlandfeindlichkeit, aber kein Antisemitismus – zumindest nicht laut.

Ich glaube, dass der Antisemitismus im Allgemeinen an Bedeutung verlieren wird, außer für den extremen Rand, der glaubt, dass die Juden die Welt regieren. Im Falle einer tiefen Krise werden die Sündenböcke womöglich nicht die Juden sein, sondern die Liberalen, die uns – so werden die Populisten sagen – auffordern, Würmer statt Fleisch zu essen, und die Kindern das Masturbieren beibringen. Aber das ist heute nicht wichtig.

Dummheit vergeht nicht. Aber wenn ich mir einige von Trumps Reden durchlese, mache ich mir um Polen keine Sorgen. Ein polnischer Präsidentschaftskandidat, der derartigen Unsinn von sich gibt, hätte keine Chance.

Irena Grudzińska Gross: Es besteht die Gefahr, dass nach der nächsten Wahl zum Europaparlament die extreme Rechte dominiert. Was dann?

Adam Michnik: Wenn das passiert, werden wir über andere Themen reden, und von anderer Stelle aus. Aber das Problem lässt sich nicht bestreiten. Die Wahlen in der Slowakei und den Niederlanden sind schlecht ausgegangen; die Populisten, die in Europa früher eine Randerscheinung waren, haben sich im Mainstream etabliert.

Die polnischen Wahlen sind im Moment enorm wichtig, weil sie die Putinisierung Polens aufgehalten haben: die schleichende Umsetzung eines autoritären Modells, einer „Demokratur“ oder Potemkinschen Demokratie, die das Wesen des Staates verändert. Die Amerikaner sind unter Trump mit diesem Phänomen vertraut. Polen hat gezeigt, dass es sich stoppen lässt, was im europäischen Kontext besonders wichtig ist.

Irena Grudzińska Gross: Aber Orbán, den Sie erwähnt haben, wird stärker. Inzwischen ist er ein wichtiger europäischer Akteur.

Adam Michnik: Als Blockierer, weil es in der EU noch immer ein Vetorecht gibt. Aber es stimmt: Sein Fall ist schrecklich. Ich weiß nicht recht, mit wem ich ihn vergleichen soll – vielleicht mit dem nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega. Eine Entwicklung vom Liebling der Liberalen hin zum Kryptofaschismus! Aber es ist interessant, dass der Antisemitismus bei ihm keinen Platz hat.

Irena Grudzińska Gross: Aber er redet ständig von George Soros, als einem Juden, der die Welt regiert!

Adam Michnik: Ein Jude, der für Orbán ist, stört Orbán nicht. Ihn stören die Liberalen. Er verfolgt keine antisemitische Politik, es gibt in Ungarn keine Maßnahmen, bei denen Juden diskriminiert werden. Die Rehabilitierung von Admiral Miklós Horthy, Ungarns Diktator im Zweiten Weltkrieg, der Hinweis auf die alte Rechte der Kriegsjahre, ist ein Signal an die älteren Wähler, ein Symbol der Rechten. Dies kommt ins Spiel, wenn man die eigene rechte Identität signalisieren will. In dieser Hinsicht ähnelt Orbán Kaczyński; dies ist ein zynisches Spiel.

Irena Grudzińska Gross: Sie trennen also Orbáns persönliche Haltung von seiner Politik? Spielt es eine Rolle, ob eine antisemitische Politik in Zynismus oder Überzeugung wurzelt?

Adam Michnik: Orbáns Politik rehabilitiert die Tradition der ungarischen Rechten, die antisemitische Elemente umfasst. Für die ungarischen Juden, denen noch bewusst ist, was der ungarische Antisemitismus während des Krieges angerichtet hat, ist dies traumatisch. Und dasselbe gilt für Polen. Aber es gibt im heutigen Ungarn keinen institutionalisierten Ausdruck des Antisemitismus, keine Kampagne gegen Juden als Juden. Dies ist eine Kampagne gegen die Liberalen. So betrachtet wäre Soros als „reiner“ Ungar genauso sehr Jude.

Klar erkennbar ist das in der Gaza-Frage. Man muss kein Antisemit sein, um den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu kritisieren, und kein Philosemit, um die Hamas zu verurteilen. Beides kann Hand in Hand gehen, aber muss es nicht.

Irena Grudzińska Gross: Ja, Netanjahu ist mit Antisemiten wie Orbán und Kaczyński im Bunde.

Adam Michnik: Kaczyński ist ebenfalls kein Antisemit und war es nie. Er war gegen den Liberalismus im weitesten Sinne und sah darin eine Bedrohung für die polnische Identität. Aber der polnisch-jüdische Schriftsteller Bronisław Wildstein zum Beispiel kommt in diesen Kreisen sehr gut zurecht, und er ist nicht der Einzige. Dies ist kein Antisemitismus; es ist Antiliberalismus und Intellektuellenfeindlichkeit. Und von dieser Warte aus ist es Kaczyński völlig egal, ob er es mit Jacek Kuroń zu tun hat oder mit Adam Michnik; für ihn sind wir ein und dasselbe Übel, trotz unserer unterschiedlichen Herkunft.

Irena Grudzińska Gross: War die Wahl in Polen, so wichtig sie war, eine Umkehr des Trends nach rechts, den wir weltweit erleben?

Adam Michnik: Nein, ein Stopp, keine Umkehr. Das ist nicht dasselbe. Polen ist gespalten. Wir haben es mit einer neuen Generation zu tun; es wird ganz deutlich die Frage nach den Frauenrechten gestellt, was die hohe Wahlbeteiligung erklärt – 13 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl. Niemand hatte das erwartet, auch nicht die PiS. Sie war von einer geringeren Wahlbeteiligung ausgegangen, die ihr den Wahlsieg erleichtern würde.

Dazu kommt das Wahlergebnis des Dritten Weges, der heute Mitglied der Regierungskoalition ist. Ich hatte Angst, sie würden an der 8-Prozent-Hürde scheitern, was die PiS in die Lage versetzt hätte, eine Regierung zu bilden. Tatsächlich haben sie mehr als 14 Prozenterreicht. Doch der populistische Trend wurde nur gestoppt, nicht umgekehrt. Wie schon gesagt, das Schwerste kommt noch.

Irena Grudzińska Gross: Und wie sehen Sie die Zukunft des Krieges in der Ukraine?

Adam Michnik: Es ist schwer absehbar, was passieren wird. Alles hängt von den amerikanischen Konservativen ab. Es ist unklar, ob es ihnen wichtiger ist, Russland zu schaden oder US-Präsident Joe Biden. Solange es Konservative vom Schlage eines George W. Bush, John McCain oder Mitt Romney waren, wusste ich, dass wir im selben Haus leben, auch wenn ich nicht ihrer Meinung war. Trump hat von der Republikanischen Partei Besitz ergriffen wie ein böser Geist. Unter seinem Einfluss haben die Republikaner ausgehört, rational zu denken und zu versuchen, die Welt zu verstehen.

Die Ukraine ist eine offene Wunde. Es gibt dort nun ein Patt, und der Kreml will Friedensverhandlungen, die den territorialen Status quo bestätigen. Aber die Ukraine hat keine Wahl. Sie spielt um ihre Zukunft, und um unsere Zukunft, und wird nicht klein beigeben, denn wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt, dass die Ukrainer kämpfen, um die Welt zu verteidigen, sagt er die Wahrheit. Sie kämpfen auch, um Polen zu verteidigen. Wie schon erwähnt gibt es in Polen Gruppen, die gestützt auf russisches Geld frühere polnisch-ukrainische Konflikte ausnutzen – die Erbitterung über Lwiw (Lemberg) und andere ehemals polnische Städte. Aber das ist nicht Teil des Mainstreams. Sie können das nicht laut sagen, genau wie beim Antisemitismus. Was Sie im Innersten denken, ist eine andere Frage, aber öffentlich besteht Einigkeit.

Irena Grudzińska Gross: Putin bietet Verhandlungen an, aber zu seinen Bedingungen. Und er verschärft die Repression im Inland und hat Alexei Nawalny nach Sibirien verbannt.

Adam Michnik: Ja, das ist grausam. Aber ich habe von Putin nichts anderes erwartet. Er nähert sich bereits dem Punkt, wo man ihn als Faschisten bezeichnen kann. Noch nicht als Nazi, aber genau wie die Nazis den Juden befahlen, einen gelben Stern zu tragen, werden die heutigen Kriegsgegner in Russland als ausländische Agenten gebrandmarkt. Ich habe ein Buch von dem russischen Schriftsteller Dmitri Bykow, und darauf sind die Worte „innostrainyi agient“ (ausländischer Agent) aufgedruckt. Im Vergleich dazu ist mein Land eine britische Demokratie!

Irena Grudzińska Gross: Und dann ist da der Krieg zwischen Israel und der Hamas ...

Adam Michnik: Diesem Thema stehe ich völlig hilflos gegenüber; ich fühle mich machtlos. Ich betrachte das Geschehen mit Schrecken. Ich lebe schon zu lange, um nicht zu begreifen, was die Hamas-Invasion vom 7. Oktober für Israel bedeutet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, was wäre, wenn eine derartige Horde nach Warschau käme und dort links und rechts Leute umbrächte.

Wenn ich andererseits sehe, dass Gaza behandelt wird wie Warschau nach dem Aufstand des Jahres 1944 von den Deutschen, weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich verstehe den wachsenden Hass der Palästinenser, weil ihre Angehörigen und Freunde vor ihren Augen getötet werden – nicht die Hamas-Leute, sondern der Tischler, der Schuster, der Bäcker, der Apotheker. Natürlich verstehe ich jene Israelis, die fragen, warum es einen Palästinenserstaat geben sollte, wenn sie die Israelis angegriffen, ermordet, vergewaltigt und als Geiseln genommen werden können. Und der Iran ist bereit, Israel bis zum letzten Palästinenser zu bekämpfen ...

Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es eine Zweistaatenlösung geben sollte, wenn auch offensichtlich nicht heute. Ein gemeinsamer Staat ist unmöglich: Israel wird dem nie zustimmen, zumindest nicht für die nächsten 50 Jahre. Die Israelis wollen einen jüdischen Staat. In diesem Fall ist unklar, was man tun kann, insbesondere da Netanjahu, nach dem zu urteilen, was er mit der Justiz machen wollte, für mich ein jüdischer Orbán ist.

Irena Grudzińska Gross: Das Jahr ist noch jung. Sehen Sie irgendwelchen Grund zum Optimismus?

Adam Michnik: Im Jahr 1989, dem Jahr der großen Veränderungen in Europa, begannen die Dominos in eine demokratische Richtung zu fallen. Das fing an mit Polen – dem ersten Land, wo sich die Kommunisten mit der Opposition an den Verhandlungstisch setzten. Und dann griff diese Entwicklung auf die DDR, die Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und Albanien über. Das war nicht das einzig mögliche Szenario. Am 4. Juni 1989 gaben die Kommunisten in Polen die Macht ab. Aber das war nicht die große Schlagzeile in den Weltmedien.

Irena Grudzińska Gross: Nein, das war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Pekings größtem Platz.

Adam Michnik: Richtig, der Platz des Himmlischen Friedens. Es gab also unterschiedliche Szenarien, und in Polen verwirklichte sich ein gutes. Doch um dieses Potenzial auszuschöpfen, muss man sich an die Arbeit machen und stur immer weiter machen. Man muss sich weigern, aufzugeben. Wir in Polen haben gezeigt, was möglich ist.

Zu den Personen:

Adam Michnik war einer der Anführer der Solidarność-Bewegung des Jahres 1989 und Teilnehmer der Verhandlungen am Runden Tisch, die die kommunistische Herrschaft in Polen beendeten. Er ist Herausgeber der Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

Irena Grudzińska Gross ist Professorin am Institut für slawische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Fellow der Guggenheim Foundation des Jahres 2018. Zu ihren Büchern gehören Miłosz i długi cień wojny (Miłosz und der lange Schatten des Krieges) (Pogranicze, 2020) und Czesław Miłosz and Joseph Brodsky: Fellowship of Poets (Yale University Press, 2009; Deutsch: ‎Czesław Miłosz und Joseph Brodsky: Die Freundschaft zweier Dichter, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2012).

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Von der Leyen unter Druck: Geheimnisvolle Pfizer-SMS vor Gericht
17.11.2024

Welche Nachrichten tauschte Ursula von der Leyen auf dem Höhepunkt der Corona-Krise mit Pfizer-Chef Albert Bourla aus? Diese Frage...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Unwetter in Spanien: Mandarinen können teurer werden
17.11.2024

Wegen der starken Regenfälle in Spanien stehen viele Obst-Plantagen unter Wasser. Experten halten es für möglich, dass das auch Kunden...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersvorsorgedepot: Mit Aktien 600 Euro pro Jahr vom Staat - so funktioniert das!
17.11.2024

Ein sogenanntes Altersvorsorgedepot soll eingeführt werden, ein bezuschusstes und steuerbegünstigtes Wertpapierdepot. Doch was ist das...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Weniger Gewerbeaufgaben bei größeren Betrieben: Was Unternehmer wissen sollten!
17.11.2024

Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen eine interessante Entwicklung in der deutschen Wirtschaft: Während die Zahl der...

DWN
Finanzen
Finanzen Was sich bei Ihren Finanzen 2025 ändert: Diese Steuern belasten Ihren Geldbeutel
17.11.2024

Zu Beginn des Jahres 2025 gibt es einige neue Regeln und gesetzliche Änderungen, die Ihren Geldbeutel belasten können. Martin Kahllund,...

DWN
Politik
Politik Wahl-Marathon an der Elbe: BSW will zur Bürgerschaftswahl in Hamburg antreten
17.11.2024

Lange hat das Bündnis Sahra Wagenknecht eine Kandidatur bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg am 2. März offen gelassen. Nun scheinen die...

DWN
Finanzen
Finanzen Commerzbank erwartet 2025 in Deutschland nur ein schwaches Wachstum
17.11.2024

Die gefühlte Erholung am Wirtschaftsstandort Deutschland sei vor allem den Zinssenkungen der EZB geschuldet. Das sagt Chefvolkswirt Jörg...

DWN
Finanzen
Finanzen Mehr Lohn für Gebäudereiniger in Deutschland ab Januar
17.11.2024

Seit Monaten ringt die IG BAU mit den Arbeitgebern um eine Lohnerhöhung für Beschäftigte in der Gebäudereinigung. Jetzt ist die...