Anscheinend hatte die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi einige der wichtigsten Bankkonten der Partei gesperrt und dieser eine enorme Rechnung für ein geringfügiges Versäumnis in einer fünf Jahre alten Steuererklärung gestellt, wodurch die Partei ohne Geld dastand, um auch nur für Strom und Gehälter zu bezahlen – von der Führung eines Wahlkampfes gar nicht zu reden. Diese Sperre wurde rasch wieder aufgehoben, doch die Botschaft war klar: Dies würde keine reguläre Wahl werden.
Obwohl die Kongresspartei Indien seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 die meiste Zeit über regiert hatte, hatte sie Modi seit dessen Aufstieg zu nationaler Macht 2014 wenig entgegenzusetzen. Parteivertreter haben die Kontosperrung als „tiefgreifenden Anschlag auf Indiens Demokratie“ verurteilt, doch war sie nur das jüngste Beispiel in einer länger währenden Saga. In den letzten zehn Jahren hat Modis Regierung die bürgerlichen Freiheiten und die Minderheitenrechte aushöhlt, abweichende Meinungen unterdrückt, die demokratischen Institutionen untergraben und einen Personenkult errichtet. Während die westlichen Regierungen weiterhin so tun, als sei Indien die weltgrößte Demokratie, ähnelt das Land zunehmend einer zentralasiatischen Diktatur.
„Einer der schlimmsten Autokratisierer“
Beobachter des Zustands der Demokratie in der Welt sind sich in ihren düsteren Prognosen für den Subkontinent Indien unter Modi einig. Freedom House beschreibt Indien als nur „teilweise frei“, und das V-Dem Institut in Schweden stuft das Land bereits seit 2018 als „Wahlautokratie“ ein. In seinem Democracy Report 2024 bezeichnet V-Dem Indien als „einen der schlimmsten Autokratisierer der letzten Zeit“.
Gemein ist den Autokratisierern des 21. Jahrhunderts von Russland über Ungarn bis hin zur Türkei und (bis vor kurzem) Polen, dass die neuen Despoten anders als traditionelle autoritäre Politiker in gerissener Weise davon absehen, die Demokratie komplett abzuschaffen. Sie haben die legitimierende Kraft der Demokratie erkannt und nutzen ihre Prozesse für ihren Aufstieg an die Macht, häufig durch eine polarisierende Identitätspolitik. Sobald sie dann im Amt sind, fangen sie an, die demokratischen Institutionen einschließlich der Justiz und der unabhängigen Medien – die andernfalls als Kontrollmechanismen gegenüber ihrem Streben nach ungebremster Mehrheitsherrschaft dienen könnten – zu vereinnahmen und auszuhöhlen. Modis Jahrzehnt an der Macht war ein Paradebeispiel für diesen Prozess.
Es wird oft gesagt, dass der größte Vorteil der Demokratie gegenüber anderen Regierungsformen in der ihr innewohnenden Fähigkeit zur Selbstkorrektur bestünde. In der Theorie sorgen regelmäßig angesetzte Wahlen dafür, dass die Verantwortlichen für Inkompetenz, Korruption und Missherrschaft zur Verantwortung gezogenen werden, während in der Zeit zwischen den Wahlen die Kraft der öffentlichen Meinung die willkürliche Machtausübung hemmt. In der realen Welt jedoch reduziert die Anfälligkeit demokratischer Institutionen Wahlen zu lärmenden Ritualen, die lediglich die Macht des amtierenden Herrschers bestätigen. Wahlentscheidungen lassen sich durch die Macht des Geldes manipulieren, Oppositionskandidaten durch die Staatsorgane (wie z. B. die Steuerbehörden) unter Kontrolle bringen, und den Bürgern kann man die unabhängigen, objektiven Informationen vorenthalten, die sie brauchen, um die Regierung zu bewerten und zu entscheiden, für wen sie stimmen sollen. Wenn das geschieht, dienen Wahlen nicht länger als Schutzmechanismus vor schleichendem Despotismus, sondern ermöglichen diesen.
Die Inder neigen zur Verklärung von Wahlen. Diese bestimmen inzwischen komplett ihr Selbstbild als demokratische Gesellschaft, was andere institutionelle Notwendigkeiten verdeckt. Die karnevalsartige Qualität des weltgrößten Wahlprozesses (siehe Foto) verbirgt eine bitte Wahrheit: Das diesjährige aufwendige Verfahren, mit dem 970 Millionen Menschen die Möglichkeit zum Urnengang eröffnet wird, weist alle Kennzeichen einer despotischen Wahl auf. Die Stimmabgabe ist (anders als bei Russlands possenhafter Wahl) nicht in offensichtlicher Weise manipuliert, doch die herrschende Partei wird konsequent bevorzugt. Ein Überraschungssieg der Opposition wird dadurch nicht unmöglich gemacht, aber sehr viel unwahrscheinlicher.
Bargeld lacht
Das Vorgehen der Modi-Regierung gegen die Bankkonten und Finanzierungsmöglichkeiten der Opposition ist hierfür eine effiziente Methode. Die Wahlergebnisse sind in Indien inzwischen fast komplett zu einer Funktion des Geldes geworden. Die letzte Parlamentswahl im Jahr 2019 war laut Schätzungen die weltweit teuerste Wahl aller Zeiten. Die Gesamtausgaben überstiegen sieben Milliarden Dollar; das ist mehr als die Ausgaben von 6,5 Milliarden Dollar bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA 2016 (obwohl das BIP pro Kopf der USA 32 Mal so hoch ist).
Es mangelt Indiens System der Wahlkampffinanzierung seit jeher an Transparenz und Rechenschaftslegung, doch unter Modi ist es noch undurchsichtiger geworden. Im Jahr 2017 öffnete die Regierung dunklem Geld Tür und Tor, indem sie Wahlanleihen einführte, die verdeckte Parteispenden in unbegrenzter Höhe ermöglichten. Dunkles Geld deformiert die Demokratie, indem es die Manipulation von Wahlen erleichtert und bei der Gestaltung der Politik im Verborgenen agierenden Sonderinteressen den Vorrang vor den Wählern einräumt. Nachdem zivilgesellschaftliche Gruppen die Rechtmäßigkeit der Wahlanleihen jahrelang vor den Gerichten angefochten hatten, erklärte der Oberste Gerichtshof Indiens dieses Finanzierungsinstrument im Februar endlich für ungesetzlich.
Seitdem haben gerichtlich angeordnete Auskünfte über bisher unveröffentlichte Spenden aufgezeigt, wie stark Wirtschaft und Politik inzwischen verflochten sind. Modis Partei Bharatiya Janata (BJP) – die im Wahlkampf 2019 angeblich rund 3 Milliarden Dollar ausgab – erhielt mit 84 % den Löwenanteil des über Wahlanleihen zur Verfügung gestellten Geldes. Die Leitlinien der Politik werden regelmäßig auf der Basis von Spenden festgelegt und umgestoßen. In einem eklatanten Interessenkonflikt hat die BJP Millionenbeträge von staatlichen Auftragnehmern angenommen, die auf öffentliche Aufträge (etwa im Rahmen von Ausschreibungen für den Bau von Tunneln und Eisenbahnlinien) angewiesen sind. Ermittlungen von Regulierungsbehörden gegen Unternehmen lösten sich plötzlich wie von Zauberhand in Luft auf, nachdem diese Unternehmen BJP-Anleihen gekauft hatten. Modi hat eindeutig keine Hemmungen, die Wirtschaft durch Einsatz der Staatsmacht seinem Willen zu unterwerfen und Firmen unter Druck zu setzen, den Despotismus zu unterstützen.
Die Geldflüsse zeigen zudem, dass Indiens traditionell unpolitische Bürokratie inzwischen ungeniert für die herrschende Partei arbeitet und jeden Anschein der Neutralität aufgegeben hat. Und die BJP sieht sich auch nicht gezwungen, ihr brachiales Vorhaben zu verschleiern. Überdeutlich wurde dies kurz vor Wahlbeginn, als Modi zwei Mitglieder der Wahlkommission benannte, um die dreiköpfige Kommission zu seinen Gunsten zu manipulieren. Ermöglicht wurde dieser Schritt durch ein vergangenes Jahr verabschiedetes neues Gesetz, das das Ernennungsverfahren für Kommissionmitglieder änderte. (Ein zuvor dem neutralen Gerichtspräsidenten vorbehaltener Sitz fällt nun einem Regierungsminister zu.)
Unkontrollierte Ungleichgewichte
Wie vorherzusehen hat die Wahlkommission seitdem selbst bei offensichtlichsten Verstößen der BJP weggeschaut, die offen mit bösartigen, ausgrenzenden Tropen gegen Muslime hetzt, um die Stimmen der Hindus zu gewinnen. Eines ihrer Werbevideos strotzte derart von Hassrede, dass Instagram es löschte. Und Modi selbst hält Reden, in denen er die Muslime als „Eindringlinge“ bezeichnet, die mehr Kinder in die Welt setzen als die Hindus, und behauptet, dass, wenn die Kongresspartei an die Macht kommen sollte, sie das Vermögen der Hindus beschlagnahmen und an die Muslime verteilen würde.
Obwohl diese Äußerungen gegen Wahlbestimmungen verstoßen, die die Verwendung der Religion im Wahlkampf eindeutig untersagen, werden sie von der Kommission schlicht ignoriert. Gleiches gilt für gegen den Ministerpräsidenten eingereichte Beschwerden wegen Hassrede. Zugleich sagt eine unterwürfige Justiz, dass man dagegen nichts tun könne.
Die Wahlkommission hat zudem wiederholte Beschwerden von Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen über die Zuverlässigkeit elektronischer Wahlautomaten und das Fehlen entsprechender Papierunterlagen zur Überprüfung der Wählerzahlen ignoriert. Weil sie nicht aus uneingeschränkt sicher gilt, verlässt sich keine andere wichtige Demokratie ausschließlich auf die elektronische Stimmabgabe.
Die Handlungen der Kommission werfen mit Fortschreiten der siebenphasigen Wahlen zunehmend Fragen auf. Die BJP hat bereits zwei Parlamentssitze ohne Abstimmung gewonnen, weil Oppositionskandidaten aus dem Rennen ausstiegen. Einer zog schlicht seine Kandidatur zurück, und obwohl weithin angenommen wird, dass Druck auf ihn ausgeübt wurde, hat die Kommission die Angelegenheit nicht untersucht. Es gibt zudem weit verbreitete Berichte, dass muslimische Wähler so wie schon bei den Wahlen 2019 aus den Wählerlisten gestrichen werden. Was die Befürchtungen über Wahlmanipulationen noch erhöht ist die unerklärliche Langsamkeit der Kommission bei der Veröffentlichung von Daten zur Wahlbeteiligung. Und selbst dort, wo die Kommission Zahlen veröffentlicht, sind diese unvollständig und strotzen vor Ungereimtheiten.
Eine der herrschenden Regierung derart offenkundig nahestehende Wahlprüfungsbehörde wirft, insbesondere im Verbund mit dem schamlosen Einsatz anderer staatlicher Institutionen zur Stärkung der Macht der Exekutive, ernste Fragen über die Plausibilität des Verfahrens auf. Bundesbehörden schikanieren Oppositionsmitglieder routinemäßig durch Razzien, Verhaftungen und Vernehmungen, bis sie spuren. Das führt zur zersplitterten Oppositionsparteien und zu Parteiführern, die zum Schweigen gebracht werden oder gezwungen sind, die Seite zu wechseln. Zwei oppositionelle Ministerpräsidenten von Bundesstaaten wurden wegen unbewiesener Vorwürfe ins Gefängnis gesteckt, sodass sich die Wahlen in diesen beiden Staaten von Scheinwahlen, wie man sie in Ländern wie Bangladesch sieht, kaum noch unterscheiden.
In einer funktionierenden Demokratie hätten die Medien ein Schlaglicht auf diese schweren Verstöße gegen die demokratischen Spielregeln geworfen. Doch gehören die Medien zu den Institutionen, die Modi sich am stärksten gefügig gemacht hat. Die etablierten Medien – einst ein konfliktfreudiger Haufen, der darum wetteiferte, Regierungsversäumnisse aufzudecken – weiteifern nun um die Gunst der Regierung. Dies gilt im Besonderen für die nationalen Nachrichtensender.
Diese inzwischen als godi (Schoßhündchen) bekannten Medien sind kein Kontrollorgan mehr, sondern produzieren in willfähriger Weise fließbandartig regierungsfreundliche Nachrichten. Kleinste Veranstaltungen Modis werden live übertragen, während selbst die größten Oppositionskundgebungen manchmal unerwähnt bleiben. Die etablierten Medien verbreiten zudem begeistert Hass gegen Modis ausgewählte Feinde – Muslime, die Opposition und Liberale. Sie verspotten Oppositionsvertreter, lobpreisen alle Handlungen und Äußerungen Modis und bejubeln es, wenn gewaltlose Andersdenkende ins Gefängnis geworfen werden.
Wie in Viktor Orbáns Ungarn wurde diese umfassende Transformation der indischen Medienlandschaft u. a. dadurch erreicht, dass Modi-Spezis und sympathisierende Wirtschaftsmagnaten die großen Verlage aufkauften und anschließend deren Nachrichtenredaktionen Säuberungsaktionen unterzogen. Die Regierung nutzt zudem ihren Status als wichtige Quelle von Werbeeinnahmen und geschäftlichen Gefälligkeiten, um die Medienunternehmen auf Linie zu halten. Tatsächlich waren einige der größten Käufer von Wahlanleihen Medienunternehmen mit anderen Wirtschaftsinteressen.
Bombardiert mit dieser Modi-freundlichen Medienberichterstattung und berauscht von der öffentlichen Hetze gegen Minderheiten, betrachtet ein erheblicher Anteil der indischen Wähler Modi inzwischen als Retter der Nation. Modis Kontrolle über seine Stammwähler ist genauso ausgeprägt wie die über die Großunternehmen und die demokratischen Institutionen.
Angesichts der fundamentalen Schwächung vieler institutioneller Kontrollmechanismen, die man mit einer Demokratie verbindet, hat sich in Indien etwas entwickelt, was Thomas Jefferson als „Wahldespotismus“ bezeichnen würde. Die Macht konzentriert sich zunehmend in den Händen der (technisch gesehen) gewählten politischen Exekutive. Während einige der demokratischen Defizite Indiens Modis Herrschaft vorweggehen, haben sie sich unter der BJP deutlich verschlimmert. Zum Beispiel gibt es keine parteiinterne Demokratie mehr, weil die Gesetze gegen Parteiabweichlertum den Parteien die uneingeschränkte Kontrolle über die Abgeordneten ermöglichen. Infolgedessen kann eine herrschende Partei mit genügend Sitzen – wie die BJP – jedes Gesetz ohne Debatte oder Beratungen durchs Parlament peitschen, was dieses redundant macht. Im Dezember schlossen die von der BJP benannten Parlamentspräsidenten 141 oppositionelle Abgeordnete aus beiden Kammern des Parlaments aus und verabschiedeten dann für den Rest der Sitzungsperiode Gesetze ohne Widerstand der Opposition.
Während Aufsichtseinrichtungen – wie die hochrangige Bürokratie und Ermittlungs- und Regulierungsbehörden – nie besonders viel Autonomie genossen, geben sie inzwischen nicht einmal mehr vor, demokratische Normen und Konventionen zu respektieren. Ein Regime, das entschlossen ist, den indischen Staat von Grund auf umzugestalten, hält sich nicht an Gentlemen-Agreements. Selbst die relativ unabhängige Justiz wurde inzwischen gezwungen, den Weg des geringsten Widerstands einzuschlagen.
Die Konzentration politischer Macht unter der BJP fällt mit der Konzentration wirtschaftlicher Macht zusammen, und beide verstärken einander gegenseitig. Der Marktanteil der fünf größten Konglomerate hat sich seit den 1990er Jahren verdoppelt, während sich der Marktanteil der fünf nächstgrößten Konzerne halbiert hat. Wie Wladimir Putins Russland entwickelt sich der indische Markt zum Oligopol, da Modis Regierung ausgewählte Unternehmen mit Gefälligkeiten überschüttet.
Indien ist nicht länger ein Modell marktwirtschaftlicher Demokratie, so wie viele im Westen das jahrelang glaubten, förderten und propagierten. Sowohl seine Märkte als auch seine Politik sind zunehmend unfrei – und immer stärker miteinander verwoben. Bei der jetzigen Wahl manifestiert sich diese Tendenz erneut. Freie und faire Wahlen sind das grundlegendste Kriterium einer Demokratie. Modis Indien verfehlt es bei weitem.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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