Politik

Grundgesetz und Demokratie: Herausforderungen und Lehren nach 75 Jahren

Das Grundgesetz und die Lehren aus Weimar: Wie entstand die deutsche Verfassung, welche Herausforderungen stehen heute an und warum ist die Demokratie weiterhin gefährdet? Erfahren Sie mehr in diesem Beitrag.
23.05.2024 03:01
Aktualisiert: 23.05.2024 09:17
Lesezeit: 4 min

In der Ruinenlandschaft, die Hitlers Weltkrieg in Deutschland hinterlassen hatte, wirkte die Pädagogische Akademie in Bonn wie ein Ufo von einem fernen Planeten, der menschlichen Zivilisation um Zeitalter voraus. Die Akademie war von 1930 bis 1933 im nüchternen Bauhausstil errichtet und durch Zufall vom Bombenhagel verschont worden. Es hätte keinen besseren Versammlungsort für den Parlamentarischen Rat geben können, der eben hier vom 1. September 1948 bis zum Mai 1949 die Verfassung für eine neue deutsche Demokratie entwarf – das Grundgesetz. Am 8. Mai vor 75 Jahren wurde es beschlossen, am 23. Mai offiziell verkündet.

Es war der zweite Versuch der Deutschen, eine Demokratie zu begründen. Der erste war 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gescheitert. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten aus dieser Katastrophe Lehren ziehen. Eine davon war, dem Staatsoberhaupt eine wesentlich schwächere Position zu geben. In der Weimarer Republik war der Reichspräsident eine Art Ersatzkaiser gewesen, der direkt gewählt wurde und mit enormen Machtbefugnissen ausgestattet war, was in der Endphase wesentlich zur Destabilisierung der Demokratie beigetragen hatte.

Eine zweite Lehre war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums: Ein Kanzler sollte nur noch dann gestürzt werden können, wenn sich das Parlament gleichzeitig auf einen neuen einigen konnte. In der Weimarer Republik war das nicht so gewesen, was den Eindruck der Lähmung verstärkt hatte. Mit am wichtigsten: Auch auf Drängen der westlichen Besatzungsmächte wurden die Grundrechte ganz nach oben an den Anfang des Textes gesetzt. Und es wurde ein wirkmächtiges Verfassungsgericht begründet. „Es bringt das Grundgesetz zum Sprechen und wendet es auf neue Lebensumstände an“, sagt der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP).

Debatte über besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts

Das und mehr sind Reaktionen auf Weimar. „Gleichwohl muss man sagen, dass die Mär, die viele Jahre in Deutschland verbreitet wurde, dass Weimar nämlich an seiner Verfassung gescheitert sei, nicht haltbar ist“, sagt Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der Deutschen Presse-Agentur. „Weimar fehlte es vor allem an Demokraten – Personen, die sich mit der demokratischen Verfassung identifizierten.“

Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus noch unmittelbar vor Augen bauten die Verfasser des Grundgesetzes viele Elemente der wehrhaften Demokratie in die neue Staatsordnung ein. Dazu gehören hohe Hürden für Parteiverbote, für die Aberkennung von Grundrechten oder eine Veränderung des Grundgesetzes in essenziellen Punkten. „Aber wir müssen auch hier feststellen, dass es keine völlige juristische Absicherung der Demokratie gibt“, so Voßkuhle. „Letztlich kommt es darauf an, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger die demokratische Ordnung unterstützen. Zurzeit beobachten wir weltweit einen Trend zu einer elektoralen Autokratie.“

Das Ungarn von Viktor Orban und das Polen unter der früheren nationalkonservativen PiS-Regierung sind Beispiele für Staaten, die die Meinungsvielfalt systematisch beschneiden, Medien auf Linie bringen und Gerichte als Kontrollinstanzen schwächen. Es gibt dort zwar noch Wahlen, aber die Regierung versucht sicherzustellen, dass ihr die Macht nicht mehr entgleitet. Voßkuhle zweifelt nicht daran, dass das in gewissem Umfang auch in Deutschland möglich wäre.

Leben in der Demokratie

Vor diesem Hintergrund läuft schon seit längerem eine Diskussion darüber, wie das Bundesverfassungsgericht besser vor Demokratiefeinden geschützt werden kann. Konkret geht es darum, die Amtszeit von Verfassungsrichtern im Grundgesetz festzuschreiben: Das könnte verhindern, dass sie bei einem Regierungswechsel Richter vergleichsweise einfach aus dem Amt entfernt werden könnten.

„Demokratien haben stets auch die Neigung, sich gegen sich selbst zu wenden“, meint Voßkuhle. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger gebe es immer ein gewisses Misstrauen, ob die Politiker ihre Wahlversprechen einhielten und sich nicht von egoistischen Motiven leiten ließen. Und umgekehrt seien die Politiker immer der Versuchung ausgesetzt, sich nicht mehr an die Spielregeln zu halten, wenn sie erst einmal gewählt seien. „Deshalb wird über die Ausgestaltung der Demokratie immer gerungen. Das kann gar nicht anders sein. Ich warne auch davor zu glauben, dass es einmal so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Demokratie gegeben hat.“

Heute leben nur noch wenige Menschen, die sich an die Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren erinnern können – und damit auch noch an den Krieg und den Holocaust. Voßkuhles Vater, verstorben 2010, war so jemand - er war im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen. „Wieviele Nächte sind wir zusammengesessen und haben über den Nationalsozialismus gesprochen?“, erinnert sich der heute 60 Jahre alte Sohn. „Das fällt mittlerweile weg.“ Und damit verschwinde auch ein gewisses Maß an Sensibilität dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer Demokratie zu leben. Ähnlich sieht es der 91 Jahre alte Gerhart Baum, der durchaus noch Erinnerungen an den Krieg hat. „In der Tat geht Sensibilität verloren, wenn sie nicht immer wieder aktiviert wird“, sagt er der dpa. Die Demokratie werde heute nicht nur von Verfassungsfeinden bedroht, sondern vor allem auch von Gleichgültigkeit.

Bedrohung der Demokratie durch AfD-Erfolge

Voßkuhle erzählt von einer Untersuchung, die er neulich gelesen hat: „Der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat festgestellt, dass zwischen 1788 und 2008 die Macht 554 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen Umsturz in andere Hände überging und dass 68 Länder, darunter Russland und China, noch nie einen Regierungswechsel zwischen Parteien infolge einer Wahl erlebt haben.“ In Westdeutschland gibt es die Demokratie jetzt seit 75 Jahren, in Ostdeutschland seit 34. Eigentlich sind das noch keine langen Zeiträume – und doch scheint sich bei vielen Wählern eine gewisse Unbekümmertheit breitzumachen.

„Wir sind jetzt in der bedrückenden Situation, dass wir in einigen Bundesländern erwarten müssen, dass die AfD stärkste Partei im Parlament wird – eine Partei mit einem problematischen Verständnis von Demokratie“, sagt Voßkuhle. „Das wäre eine Zäsur. Das würde das politische System verändern. Insofern sind wir gerade in einem Moment, in dem die Situation kippen könnte.“ Das Jahr des Grundgesetz-Jubiläums dürfte ein entscheidendes werden in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Politik
Politik Rutte warnt in Berlin: Russland sieht Europa als nächstes Ziel
11.12.2025

Bundeskanzler Merz und Nato-Generalsekretär Rutte haben in Berlin Alarm geschlagen. Russland ziele nicht nur auf die Ukraine, sondern...

DWN
Finanzen
Finanzen Münchener Rück-Aktie: Neue Strategie setzt deutliche Gewinneffekte frei
11.12.2025

Die Münchener Rück-Aktie gewinnt an Tempo – und das aus gutem Grund. Die neue Strategie Ambition 2030 verspricht höhere Gewinne,...

DWN
Politik
Politik Analyse: Putin und Trump spielen im selben Team gegen Europa
11.12.2025

Putin und Trump sprechen plötzlich dieselbe Sprache. Europas Zukunft steht auf dem Spiel, während Washington und Moskau ein gemeinsames...

DWN
Technologie
Technologie Halbleiter-Förderung: Dresden und Erfurt erhalten grünes Licht
11.12.2025

Europa hängt bei Chips weiter an Asien – nun greift die EU zu einem Milliardenhebel. Deutschland darf zwei neue Werke in Dresden und...

DWN
Finanzen
Finanzen EZB erhöht Druck: Vereinfachte Regeln für Europas Banken
11.12.2025

Die EZB drängt auf einfachere EU-Bankenvorschriften und will kleinere Institute entlasten. Doch wie weit darf eine Reform gehen, ohne...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Ifo-Institut korrigiert Wirtschaftsprognose: Deutschlands Aufschwung bleibt schwach
11.12.2025

Die neue Wirtschaftsprognose des Ifo-Instituts dämpft Hoffnungen auf einen kräftigen Aufschwung. Trotz Milliardeninvestitionen und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Klimarisiken: Unternehmen gefährden ihre Umsätze durch schwaches Risikomanagement
11.12.2025

Unternehmen geraten weltweit unter Druck, ihre Klimarisiken präziser zu bewerten und belastbare Strategien für den Übergang in eine...

DWN
Politik
Politik Trump warnt die Ukraine und verspottet Europa. „Am Ende gewinnt der Stärkere“
11.12.2025

US-Präsident Donald Trump erhöht den Druck auf die Ukraine und attackiert gleichzeitig europäische Staatschefs. Seine Aussagen im...