Im Januar stellte die ehemalige Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, nach dem Bruch mit der Linkspartei, das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (kurz: BSW) auf. Sie ist Mitgründerin und Namensgeberin. Im Deutschen Bundestag ist die Partei durch Übertritte von Mandatsträgern in drei Landesparlamenten vertreten.
Auf dem Gründungsparteitag am 27. Januar veröffentlichte und beschloss die neue Partei das Programm zur Europawahl 2024, mit dem sie dieses Jahr zum ersten Mal antritt. Als Spitzenkandidaten wurden Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf und der ehemalige EU-Parlamentarier der Linkspartei, Fabio De Masi, gewählt. Der Ökonom gehörte von 2014 bis 2017 dem Europäischen Parlament und von 2017 bis 2021 dem Deutschen Bundestag an. Er war Obmann im Wirecard-Untersuchungsausschuss.
„Eine Stimme für ein besseres Europa“
Das BSW sei „keine Linke 2.0“, so die Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht. In ihrem Wahlprogramm setzt die Partei auf ein unabhängiges Europa souveräner Demokratien. Das Programm enthält eine fundamentale Kritik an der EU in ihrer jetzigen Form und fordert einen Rückbau: „Die EU in ihrer aktuellen Verfassung schadet der europäischen Idee.“ Weiter heißt es: „Was lokal, regional oder nationalstaatlich besser und demokratischer regelbar ist, darf nicht der Regelungswut der EU-Technokratie überlassen werden.“
Wahlprogramm für „Wirtschaftliche Vernunft“
Die BSW fordert in ihrem Programm ferner: „Wir wollen eine starke, innovative und sozial verantwortliche europäische Wirtschaft. Die EU sollte ihre wirtschaftliche und industrielle Basis durch gute Rahmenbedingungen und gemeinsame Zukunftsprojekte sichern, den Nationalstaaten haushalts-, sozial- und wirtschaftspolitische Souveränität garantieren, die Macht von Big Tech, Big Pharma und Big Finance einschränken und den Mittelstand vor ruinösem Steuerwettbewerb und sinnlosen Auflagen und Berichtspflichten schützen.“
Wirtschaftspolitik
Das BSW setzt sich für eine umfassende Reform der europäischen Wirtschaftspolitik ein. Ihr Hauptanliegen besteht darin, kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) zu unterstützen, eine länderübergreifende Zusammenarbeit zu fördern und auch dem Ziel einer klimaneutralen, naturverträglichen Wirtschaft zu folgen.
„Gerade KMU ohne eigene Rechtsabteilung ächzen unter dem immer unübersichtlicher werdenden Regulierungsdickicht aus EU-Gesetzgebung, nationalen Vorschriften und endlosen Antragsformularen für EU- oder nationale Fördergelder. Auch das Vergaberecht benachteiligt KMU gegenüber multinationalen Konzernen durch EU-weite Ausschreibungspflichten und komplizierte Vergaberichtlinien. Zudem reduziert es die Möglichkeiten von Kommunen und anderen staatlichen Körperschaften, durch die öffentliche Auftragsvergabe regionale Unternehmen und Wirtschaftskreisläufe zu stärken und hohe soziale und ökologische Standards zu setzen“, heißt es programmatisch.
Die Partei plädiert für die Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen durch eine schärfere Kartellpolitik. Dahingehend soll zudem eine eigenständige europäischen digitale Infrastruktur geschaffen werden. Des Weiteren wird die Vergabe kommunaler Aufträge an regionale Unternehmen gefordert. Hierfür bedarf es laut des BSW einer grundlegenden Reform des Vergaberechts auf Basis sozialer Kriterien. So sollen zum Beispiel die Schwellenwerte für Dienstleistungen und Bauaufträge substanziell erhöht werden, damit nicht EU-weit ausgeschrieben werden muss.
Die Partei fordert außerdem eine radikale Reform des EU-Beihilferechts, um fairere Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Kurzfristig sollten bestehende Ausnahmeregeln gestärkt und langfristig das Beihilfeverbot aus den EU-Verträgen auf den extremen Subventionswettbewerb oder allgemeinwohlfeindliche Diskriminierungen im Binnenmarkt beschränkt werden.
Das BSW meint dazu: „Kleine und mittlere Unternehmen sind der Motor der europäischen und besonders der deutschen Wirtschaft. Vor allem sie brauchen Planungssicherheit, eine krisenfeste, preiswerte Energieversorgung und den Schutz vor marktbeherrschenden Konzernen.“
Finanzpolitik
Das BSW möchte mehr öffentliche Investitionen, eine gezielte Kreditlenkung der EZB zur Bekämpfung von Preisblasen und die Stärkung des Kartellrechts sowie Preisdeckel auf einzelnen Märkten.
Zunächst wird eine Reform der europäischen Schuldenbremse gefordert. Damit einhergehend soll eine „Goldene Investitionsregel“ eingeführt werden, die öffentlichen Investitionen zur Modernisierung der Infrastruktur und zur Förderung von Zukunftstechnologien aus der Defizitrechnung herausnehmen würde.
Ebenso wird vorgeschlagen, das sogenannte „Europäische Semester“ abzuschaffen, nach dem nationale Haushaltsplanentwürfe von der EU-Kommission noch vor der nationalen Verabschiedung geprüft werden. Das BSW sieht darin eine undemokratische Einmischung der EU-Kommission in die nationalen Haushalte.
Generell fordert das BSW eine Neuausrichtung des EU-Haushalts: Die Verteilung soll transparenter werden und nationale Parlamente sollen mehr Mitbestimmungsrechte haben. Die Einführung neuer Eigenmittel wird abgelehnt, um den Einfluss der Kommission einzugrenzen.
Steuerpolitik
Das BSW möchte, dass sich Deutschland in der EU für einen Mindeststeuersatz auf Unternehmensgewinne von 25 Prozent einsetzt, um den Staaten sichere Einnahmen und Unternehmen aus verschiedenen Ländern die gleichen Startbedingungen zu gewährleisten.
Zudem sollten internationale Gewinnverschiebungen in Steueroasen und Steuervermeidung unterbunden werden. Als mögliche Maßnahme werden Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen genannt. Geldwäsche soll durch ein EU-weit verknüpftes Immobilienregister bekämpft werden.
BSW: „Wir brauchen eine möglichst einheitliche europäische Unternehmensbesteuerung, die Steuersenkungswettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten verhindert und den Mittelstand vor Steuerdumping der Konzerne schützt, eine gemeinsame, breite Definition der Unternehmensgewinne schafft, Steueroasen trockenlegt und durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen internationale Kooperation erzwingt.“
Fabio De Masi möchte „Ampel die Rote Karte zu zeigen“
In ihrem Wahlprogramm kritisiert die Partei die Europäische Union scharf und fordert auch ein Umdenken in der bisherigen EU-Klimapolitik. Gelingt es ihr am 9. Juni genügend Stimmen zu mobilisieren, möchte das BSW auch den Handel mit CO₂-Zertifikaten abschaffen.
Laut ZDF-Politbarometer vom 17. Mai kommt das BSW bisher auf fünf Prozentpunkte. Gelingt es der neuen Partei noch mehr und auch Erst- sowie Nichtwähler zu mobilisieren? Die Europawahl ist ein erster Stimmungstest für das BSW und die kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland.