Steigende Mieten und unbezahlbare Immobilienpreise drohen zum zentralen Kampf-Thema der europäischen Politik zu werden. Laut Experten beginnen Rechtsextreme und populistische Parteien, die wachsende öffentliche Wut über die Wohnungskrise auf dem Kontinent auszunutzen.
Einem Guardian-Bericht zufolge hat die Wohnungskrise in Europa in den Europawahlen das Potenzial, ebenso wichtig zu werden wie die Einwanderung, um die Unterstützung rechtsextremer Parteien zu sichern.
„Rechtsextreme Parteien florieren, wenn sie die soziale Kluft ausnutzen können, die durch unzureichende Investitionen und unzureichende staatliche Planung entsteht, … und wenn sie Außenstehenden die Schuld geben können“, sagte Balakrishnan Rajagopal, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf angemessenen Wohnraum vor Kurzem gegenüber der englischen Tageszeitung.
„Das ist die Situation, in der sich viele EU-Länder jetzt befinden“, so Rajagopal. „Die Wohnungskrise betrifft nicht mehr nur Geringverdiener, Migranten und Alleinerziehende, sondern auch die Mittelschicht. Dies ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“
Proteste in Lissabon, Amsterdam, Prag, London
Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum hat schon Proteste in Lissabon, Amsterdam, Prag, Mailand und - außerhalb der EU - in London ausgelöst. Dem Guardian zufolge wüten vor allem junge Menschen gegen Mieten, die die Hälfte ihres Einkommens verschlingen, und gegen Hypotheken, die das Zehnfache eines durchschnittlichen Gehalts betragen.
Bei den niederländischen Wahlen im vergangenen Jahr, die die rechtsextreme Partei für die Freiheit des islamfeindlichen Geert Wilders gewann, war das Thema eines der wichtigsten Anliegen der Wähler. Das Thema Wohnungsgkrise trug auch zum Anstieg der Unterstützung für die rechtsextreme Chega-Partei in Portugal bei, die ihren Stimmenanteil im März fast verdreifachen konnte.
Deutschland: Stark steigenden Mieten schüren „Angst vor Statusverlust“
In Deutschland spiegeln sich die stark steigenden Mieten in wachsende Unterstützung für die AfD Partei wider. EU-Politikexperte Tarik Abou-Chadi sagte gegenüber dem Guardian, dass die „Angst vor Statusverlust“ ein entscheidender Faktor sei. „Die Daten zeigen, dass die Wohnungsfrage heute Teil eines größeren Pakets wirtschaftlicher und sozialer Bedrohungen und Unsicherheiten ist, die Ängste schüren“, kommentierte Abou-Chadi. „Die Angst, dass man umziehen muss, weil man es sich nicht leisten kann, führt zu einem Anstieg der Unterstützung für die radikale Rechte.“
Ein Großteil der AfD-Unterstützung kommt aus ländlichen Regionen, wo die Mieten relativ niedrig geblieben sind, so Abou-Chadi. Der Effekt sei in Städten sogar noch stärker - eine mögliche Erklärung für den steigenden Stimmenanteil der Partei in den Metropolen. „Interessant ist, dass der Zusammenhang auch dann besteht, wenn die Mieten nicht gestiegen sind. Es geht also nicht nur um die tatsächliche Notlage, sondern auch um die Sorge - die Bedrohung des sozialen und wirtschaftlichen Status.“
EU-Haushalte geben mehr als 40 Prozent für Wohnen aus
Eurostat-Daten zeigen, dass die Hauspreise in den 27 EU-Mitgliedstaaten zwischen 2010 und 2022 um 47 Prozent gestiegen sind, während Mieten im gleichen Zeitraum um 18 Prozent zunahmen. In einigen Ländern gibt mehr als ein Fünftel der Haushalte 40 Prozent oder mehr ihres Nettoeinkommens für Wohnen aus.
Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen haben einen eindeutigen Zusammenhang zwischen steigenden Mieten und der Wahlbeteiligung der Rechtsextremen festgestellt - auch ohne starke einwanderungsfeindliche Botschaften.
Politische Parteien beginnen, sich der Wohnungsnot-Bedrohung bewusst zu werden. Im Januar forderten Abgeordnete des Europäischen Parlaments und EU-Wohnungsbauminister, dass der Wohnungsbau - der nicht in die Zuständigkeit der EU fällt - zur obersten Priorität erklärt wird.
„Erschwinglichen Wohnraum als Rechtsanspruch verankern“
Rajagopal sagte, ein erster Schritt sei, erschwinglichen und sicheren Wohnraum als Rechtsanspruch zu verankern. „Die EU-Länder haben eine lange und lobenswerte Tradition des sozialen Schutzes und des Wohlfahrtsstaates“, sagte er. „Aber wenn es um die Anerkennung von Wohnraum als gesetzliches Menschenrecht geht, hinkt Europa dem internationalen Recht hinterher. EU-Bürger können sich in Wohnungsfragen nicht an ihre nationalen Gerichte wenden. Die europäischen Länder erkennen dies an, unternehmen aber nichts dagegen.“
Darüber hinaus sei die Wohnungskrise in Europa das Ergebnis der Behandlung von Wohnraum „wie jede andere Ware, die man kaufen und verkaufen kann“, und des Verzichts auf staatliche Planung, so Rajagopal. „Wenn wir den Aufstieg der extremen Rechten stoppen wollen, müssen wir das Wohnen als Grundrechte betrachten.“
In der unmittelbar bevorstehenden Europawahl-Abstimmung entscheidet sich, wie das Europäische Parlament sich in den kommenden fünf Jahren zusammensetzen wird. Deutschland hat knapp 65 Millionen Wahlberechtigte und stellt mit 96 Abgeordneten von insgesamt 751 Abgeordneten, die meisten Parlamentsmitglieder.