Weltwirtschaft

Chinas Exportillusion: Warum der Weg aus der Wirtschaftskrise nicht im Ausland liegt

Lesezeit: 7 min
17.06.2024 10:01
In nicht einmal einem Monat werden sich Wirtschaftslenker, führende Regierungsvertreter und Spitzen der Zivilgesellschaft und internationaler Organisationen nach China aufmachen zu einer vom Weltwirtschaftsforum organisierten Jahrestagung. Es wird erwartet, dass das diesjährige „Sommer-Davos“ sich auf neue Wachstumsbereiche konzentriert, und im Rampenlicht dürfte Chinas Wirtschaft stehen.

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Es ist bekannt, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sich angesichts hoher Kapitalabflüsse, einer Immobilienblase, einer sich anbahnenden Schuldenkrise und anderer Probleme schwertut, das von der Regierung angestrebte Wachstumsniveau zu erreichen. Doch den genauen Zustand der Wirtschaft des Landes zu entschlüsseln ist schwierig. Einige Analysten stellen angesichts des sich rasch verringernden Zugangs zu offiziellen Daten inzwischen die Glaubwürdigkeit der veröffentlichten BIP-Statistiken in Frage.

Eine prominente Rolle dürfte in Dalian neben anderen Themen mit China-Bezug der Handel einnehmen. Das liegt an seinen direkten Auswirkungen auf die übrige Welt. Chinas Exportleistung war 2020 und 2021, als das Land überschüssige Kapazitäten zur Produktion für eine Welt im Lockdown hatte, außergewöhnlich hoch. Und 2023 war sein vermeldeter Handelsüberschuss mit 823 Milliarden Dollar mehr als doppelt so hoch wie vor Covid - obwohl Chinas Exporte seit 2022 etwas gesunken sind, war das von einem sehr hohen Ausgangswert.

Die Importentwicklung derweil verlief weiterhin gedämpft, da China ausländische Waren insbesondere im Fertigungssektor durch heimische Produkte ersetzt hat. All dies klingt intuitiv nach einer Wirtschaft mit sehr starken Fundamenten, was Chinas zuletzt flaue gesamtwirtschaftliche Entwicklung wie einen zyklischen Abschwung erscheinen lässt. Doch die Wahrheit sieht deutlich anders aus.

Ein Krankheitssymptom

Exporte gelten normalerweise als gut für das Wachstum einer Schwellenvolkswirtschaft, weil sie die Außennachfrage darstellen, welche die wirtschaftliche Konvergenz (ein im Vergleich zu einkommensstarken Volkswirtschaften höheres Einkommenswachstum pro Kopf) unterstützt. Dies traf auf China in den letzten Jahrzehnten eindeutig zu, und man findet ähnliche Entwicklungsmuster in anderen asiatischen Volkswirtschaften. Tatsächlich waren alle Episoden eines „Wachstumswunders“ in Schwellenmärkten seit den 1950er Jahren mit einer raschen Ausweitung der Exporte verknüpft.

Doch Chinas großer Handelsüberschuss ist kein Zeichen neuerlicher Stärke und verbesserter industrieller Kapazitäten. Im Gegenteil: Chinas enormer Anteil an den weltweiten Exporten (darunter 21 % der Exporte von Industrieprodukten) ist eine unmittelbare Folge der Unfähigkeit der Regierung, durch Verringerung der weiterhin übermäßig hohen heimischen Sparquote den Binnenkonsum zu steigern. Wenn dieses Problem ungelöst bleibt, wird es Chinas Aufstieg in die Ränge der einkommensstarken Länder stark beeinträchtigen.

Während der vergangenen rund zwei Jahrzehnte stützte sich China zur Ankurbelung der Anlageinvestitionen und damit der Binnennachfrage auf den Immobiliensektor. Der jüngste Boom bei chinesischen Immobilien verringerte die sehr hohen Leistungsbilanzdefizite, die China viele Jahre lang und insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 aufrechterhalten hatte. Der Binnenkonsum allerdings blieb niedrig und verharrte bei ca. 35 % vom BIP; das ist etwa die Hälfte des Durchschnitts in entwickelten Ländern. Schlimmer noch: Der Immobilienboom sollte sich aufgrund der hohen Kreditaufnahmen der Immobilienentwickler und der übermäßigen Bautätigkeit rasch zu einer Blase entwickeln.

Eine Kombination aus immer geringeren Grenzerträgen aus ihren Investitionen und einem harten Vorgehen der Regulierungsbehörden gegen Immobilienentwickler hat nun Chinas große gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte aufgezeigt. Der neuerliche hohe Leistungsbilanz-Überschuss ist ein klares Anzeichen hierfür, und mit der Umstellung von einer übermäßigen Abhängigkeit von Immobilieninvestitionen auf eine übermäßige Abhängigkeit von Investitionen in den Fertigungssektor hat sich die Situation nur noch verschlimmert. Man beachte, dass dieser Strukturwandel nur zum Teil das Ergebnis einer großen industriepolitischen Anstrengung ist. Subventionen repräsentieren dabei mit rund zwei Prozent vom BIP nur die Spitze des Eisbergs. Die Ursprünge der Investitionsorgie im Fertigungsbereich liegen angesichts niedriger Kapitalrenditen bei Immobilien und Infrastruktur im Mangel an besseren Alternativen begründet.

Diese neuerlichen Investitionen haben mehr Kapazitäten geschaffen, als Chinas Wirtschaft verkraften kann. Der Binnenkonsum bleibt hartnäckig niedrig, und die diskretionären Ersparnisse hartnäckig hoch, weil die chinesischen Verbraucher sich über die wirtschaftlichen Aussichten unsicher sind. Eine pessimistische Stimmung ergibt intuitiv Sinn. Die chinesischen Verbraucher haben eine drakonische „Null-Covid-Politik“ durchgemacht und miterlebt, wie die Regulierungsbehörden willkürlich hart gegen bestimmte Branchen wie die Gaming-Branche und den privaten Bildungssektor vorgingen. Sie dürften zudem die Auswirkungen des sich verstärkenden deflationären Drucks insbesondere bei Immobilien zu spüren bekommen haben. Wenn der größte Teil des Vermögens Ihres Haushalts in einer Wohnung steckt, wird Ihnen ein allgemeiner Rückgang der Wohnungspreise das Gefühl verleihen, ärmer zu sein, und Ihre Konsumneigung verringern.

Dumping und Entglobalisierung

Die absehbaren Folgen hoher Investitionen in den Fertigungssektor und einer schwachen Binnennachfrage sind ein Abwärtsdruck auf die Preise und Überkapazitäten. Unter diesen Umständen muss die Außennachfrage die Lücke füllen. China exportiert nicht nur mehr Industriewaren insgesamt; es verschifft sie zudem wohin immer es nur kann.

Einer der Hauptabnehmer ist die Europäische Union, die Chinas größter Exportmarkt bleibt, obwohl die EU-Volkswirtschaft kleiner ist als die der USA. Besonders auffällig ist der Trend bei bestimmten Waren, bei denen europäische Unternehmen bisher einen Wettbewerbsvorteil genossen. Der Anteil des chinesischen Autoherstellers BYD an den in Europa verkauften Elektrofahrzeugen beispielsweise ist von 0,4 Prozent im Jahr 2019 auf acht Prozent im Jahr 2023 gestiegen, und laut einigen Schätzungen könnten chinesische Importe 2024 25 Prozent des europäischen Marktes für Elektrofahrzeuge ausmachen. Bei Batterien und Solarmodulen entfallen 80 bzw. 90 Prozent des europäischen Marktes auf Importe aus China.

Die Ansichten darüber, ob die anderen Volkswirtschaften bereit oder auch nur in der Lage sind, Chinas Überkapazitäten zu absorbieren, unterscheiden sich weltweit deutlich. An einem Ende des Spektrums wiedersetzen sich die USA zunehmend Importen von Industriewaren – insbesondere strategisch bedeutsamen Produkten wie Umwelttechnologien – aus China. Die Biden-Regierung hat chinesische Produkte nicht nur von ihrem enormen Subventionsprogramm ausgenommen; sie zieht zudem neben Zollerhöhungen auf Elektrofahrzeuge, Batterien, Halbleiter, Solarzellen und andere Waren zusätzlich mit der nationalen Sicherheit begründete direkte Verbote in Betracht.

Die EU ihrerseits hat sich zur Verringerung ihrer Abhängigkeit von Importen aus China für eine „De-Risking“-Strategie ausgesprochen und mehrere Untersuchungen des chinesischen Einsatzes von Subventionen eingeleitet, darunter in Bezug auf Elektrofahrzeuge, Windparks, Solarunternehmen, Eisenbahnunternehmen, medizinische Geräte und Weißblech. Doch bisher bleiben die europäischen Volkswirtschaften offen für Geschäfte mit China, und bei seiner jüngsten diplomatischen Tour durch Frankreich, Serbien und Ungarn bemühte sich der chinesische Präsident Xi Jinping, dafür zu sorgen, dass das so bleibt.

Auch die meisten Schwellenvolkswirtschaften bleiben weitgehend offen für Importe aus China. In Ländern wie Indien und der Türkei allerdings, die selbst danach streben, zu Industriemächten und bedeutenden geopolitischen Akteuren zu werden, könnte die Stimmung inzwischen kippen.

Während einige Regierungen sich beschweren, dass Chinas Handelspraktiken laut den Regeln der Welthandelsorganisation unfair seien, ist es sehr schwierig, diesen Vorwurf zu belegen, weil sich Chinas Industriepolitik nicht auf direkte Subventionen beschränkt. Diese sind bestenfalls die Spitze des Eisbergs. Angebotsseitig sind die Subventionen gering; sie werden ergänzt durch staatlich gesteuerte Fonds, die im Rahmen des nationalen Plans „Made in China 2025“ Kapital in für die Stärkung der industriellen Kapazitäten Chinas als relevant erachtete Unternehmen und Sektoren lenken. Zudem trüben weitere Formen der Unterstützung – wie eine bevorzugte steuerliche Behandlung und Finanzierungen zu Sonderkonditionen – das Bild, was eine Einschätzung der Bedeutsamkeit der Subventionen für die chinesische Wettbewerbsfähigkeit erschwert.

Ausmaß und Undurchsichtigkeit der chinesischen Industriepolitik haben bei anderen Regierungen – auch solchen, die wie die EU traditionell als Fürsprecher des regelbasierten multilateralen Handelssystems aufgetreten sind – protektionistische Reflexe ausgelöst. Die Befürworter derartiger Maßnahmen verweisen nicht nur auf angebotsseitige Probleme, sondern auch auf die Nachfrage. Chinas eigene Importe von Industriewaren aus der übrigen Welt – und insbesondere aus der EU – schrumpfen infolge seiner defensiven Handelsbarrieren, Bestimmungen über nationale Inhalte und Maßnahmen zur Kontrolle des Marktzugangs im Namen der nationalen Sicherheit.

Ein Problem „made in China“

Die chinesische Führung hat große Anstrengungen unternommen, Chinas industrielle Kapazitäten durch „Made in China 2025“, die jüngste Initiative der „neuen industriellen Kräfte“, und andere Programme zu stärken, die globale Wertschöpfungskette zu erklimmen und größere wirtschaftliche Autarkie zu erreichen. Doch das Gesamtergebnis dieser Strategie fällt weniger positiv aus, als man angesichts der Größe des Leistungsbilanzüberschusses erwarten sollte.

In einem Umfeld wachsender geopolitischer Spannungen ist eine derart starke Abhängigkeit vom Export eine riskante Strategie. Angesichts der Tatsache, dass Großmachtkonflikte und -rivalitäten enge wirtschaftliche Überlegungen zunehmend an Bedeutung übertreffen, verleiht China anderen Ländern damit erheblichen Einfluss auf seine Wirtschaft. Und während China einer der großen Nutznießer des regelbasierten internationalen Handelssystems und der Globalisierung im Allgemeinen war, scheint die Weltordnung derzeit einen Wandel zu durchlaufen. Der regelbasierte Handel ist keine derart heilige Kuh mehr, und wirtschaftliche und handelspolitische Abhängigkeiten werden bereitwilliger als Waffen genutzt. Die Ironie dabei ist natürlich, dass China seit Jahren strategische Abhängigkeiten geschaffen hat, ohne sich anscheinend bewusst zu machen, dass der Westen irgendwann nachziehen könnte.

Angesichts der sich verstärkenden Rivalität Chinas gegenüber dem Westen hat das Land sich bemüht, seine Exporte in den Globalen Süden zu erhöhen, da dessen Volkswirtschaften als ein sichererer Ort zur Anhäufung großer Handelsüberschüsse angesehen werden. Doch auch in diesen Ländern kippt die Stimmung. So erwägen Brasilien und Indien aus erkennbarer Sorge vor einer Überflutung mit chinesischen Industriewaren eigene neue Mechanismen zum Schutz des Handels.

Nun, da die Industriepolitik wieder in Mode gekommen ist, sind viele Länder überall im Globalen Süden eifrig darauf bedacht, Chinas Strategie nachzuahmen. Warum sollten sie ihre im Aufbau begriffenen Branchen nicht schützen und versuchen, dem fertigungsgestützten Wachstumsmodell zu folgen, das China während der letzten vier Jahrzehnte so erfolgreich umgesetzt hat? So sehr China sich als Führungsmacht des Globalen Südens – oder zumindest als Führungsmacht der kürzlich erweiterten BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika sowie Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) – positionieren möchte: Es wird vorsichtig vorgehen müssen. Neue politische Spannungen im Bereich des Handels und anderer Fragen sind praktisch garantiert.

In die falsche Richtung unterwegs

Falls die chinesische Führung glaubt, dass eine Steigerung der Exporte von Industriewaren die strukturelle Entschleunigung der Volkswirtschaft abmildern wird, steht ihr eine böse Überraschung bevor. Diese Strategie stützt sich auf eine Welt, die nicht mehr existiert – nämlich eine, die sich völlig dem unbeschränkten Freihandel verschrieben hat. Die USA sind bereits während der Präsidentschaft Donald Trumps aus dem Freihandelszug ausgestiegen, und inzwischen stehen viele Länder im Globalen Süden davor, das Gleiche zu tun.

Statt die Grundursache zu bekämpfen, doktert das chinesische Regime weiter lediglich an den Symptomen seiner wirtschaftlichen Malaise herum. Es sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um den Binnenkonsum anzukurbeln. Doch stattdessen setzt es auf die Auslandsnachfrage. Für ein nicht-demokratisches Regime, das seine Legitimität seit langem aus dem Erreichen seiner BIP-Wachstumsziele zieht, ist das eine besonders problematische Strategie. Sie ermöglicht es ausländischen Regierungen, durch Errichtung von Handelsbarrieren die politische Legitimität der Kommunistischen Partei Chinas zu untergraben, und diese Aussicht könnte sie besonders geneigt machen, das zu tun.

Die Frage ist, ob China noch Kurs ändern kann, bevor seine Wirtschaft ins Trudeln gerät. Sein kleiner Wohlfahrtsstaat ist eine chronische Ursache von Vorsorgeansparungen, und angesichts einer Staatsverschuldung von inzwischen 100 % vom BIP hat die Regierung nicht mehr die Haushaltsspielräume früherer Tage. Die chinesische Politik wird sich innovativere Methoden einfallen lassen müssen, um den Konsum zu stützen und die Abhängigkeit der Volkswirtschaft von den Exportmärkten zu verringern. Bisher scheint sie zumindest bereit, über die Fiskal- und die Geldpolitik mehr zur Unterstützung der Binnennachfrage zu tun, u. a. durch weitere Emissionen von Kommunalobligationen.

Natürlich hat China für den Fall, dass der Westen den Handel mit China zur Waffe macht, selbst viele strategische Abhängigkeiten aufgebaut, über die es Vergeltung üben kann. Doch verfügt der Westen über eine Menge eigener Instrumente – nicht zuletzt seine riesigen Märkte und seine enorme Kaufkraft. Der Weg voran ist schmal, und den Strukturproblemen der chinesischen Wirtschaft zu begegnen wird eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Strategien und Ansätze erfordern. Eine weitere Steigerung der Exporte gehört nicht dazu.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

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Alicia García-Herrero ist Senior Fellow bei Bruegel, Chefökonomin der französischen Investmentbank Natixis für den asiatisch-pazifischen Raum und unabhängiges Mitglied des Verwaltungsrates des Versicherungskonzerns AGEAS.

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Alessio Terzi ist Lehrbeauftragter an den Universitäten Cambridge und Sciences Po, Ökonom bei der Europäischen Kommission. 



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