Politik

Reservisten-Präsident und Militärexperte Patrick Sensburg: „Die Ukraine braucht Langstreckenwaffen“

Lesezeit: 7 min
23.06.2024 13:40  Aktualisiert: 23.06.2024 15:30
Seit Ende Mai ist es der Ukraine erlaubt, mit westlichen Waffen Ziele in Russland zu beschießen. Im DWN-Interview erklärt Patrick Sensburg, Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr, was das militärisch ändert und wie ernst die Gefahr eines gesamteuropäischen Krieges zwischen der NATO und Moskau ist.
Reservisten-Präsident und Militärexperte Patrick Sensburg: „Die Ukraine braucht Langstreckenwaffen“
Patrick Sensburg hält die Entscheidung der Bundesregierung, den Einsatz deutscher Waffen gegen Ziele in Russland zu genehmigen, für richtig, um russische Angriffe abzuwehren. (Foto: dpa)
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DWN: Herr Sensburg, Ende Mai hat die Bundesregierung den Einsatz deutscher Waffen gegen Ziele in Russland genehmigt. Hat diese Entscheidung Auswirkungen auf den Kriegsverlauf?

Patrick Sensburg: Ich halte diese Entscheidung für richtig, gerade wenn es darum geht, im grenznahen Raum Waffenlager und Nachschubstützpunkte zu treffen. Es wäre unsinnig, wenn sich russische Truppen an der Grenze darauf vorbereiten, in die Ukraine einzumarschieren oder zu schießen, die Ukraine aber nicht zurückschießen darf. Natürlich ist es völkerrechtlich zulässig, wenn man angegriffen wird, auch den Angreifer auf seinem Territorium anzugreifen. Man stelle sich vor, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg nicht nach Deutschland hätten schießen dürfen. Für die Ukraine ist dies auch deshalb wichtig, weil es ihr ermöglicht, russische Angriffe frühzeitig abzuwehren, indem sie die Versorgung Russlands unterbricht und sich so Vorteile verschafft, wenn Russland sich nicht direkt hinter der Grenze vorbereiten kann.

DWN: Um welche Waffensysteme handelt es sich konkret und was bedeutet diese Entscheidung für das Nein des Bundeskanzlers zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine – ist es damit hinfällig?

Sensburg: Zunächst geht es um alle Waffen, die eine große Reichweite haben, aber auch um Drohnen und natürlich auch um die erwähnten Taurus. Es ist falsch, der Ukraine zu verbieten, über die Grenze zu schießen, von wo aus sie permanent von Russland angegriffen wird. Zudem ist eine Differenzierung nach Waffen und deren Reichweite in der Praxis schwierig. Diese Differenzierung macht nur bedingt Sinn. Wir müssen akzeptieren, dass Russland von Russland aus in die Ukraine einmarschiert ist und von dort weiter Kräfte und Waffen heranführt und die Ukraine weiter angreift. Dann kann man nicht sagen, wir schießen nur bis zur Grenze in der Ukraine.

DWN: Wie wichtig ist es für die Ukraine, dass sie nun die Möglichkeit hat, Russland mit westlichen Waffen anzugreifen?

Sensburg: Ich würde das Wort „angreifen“ nicht benutzen. Die Ukraine verteidigt sich. Ich habe noch nie gehört, dass die Ukraine in Russland einmarschieren wollte oder will. Es geht vielmehr darum, russische Angriffe abzuwehren, bevor sie Menschen in der Ukraine töten, und zwar auch dadurch, dass die Ukraine Waffenlager oder wichtige militärische Einrichtungen auf russischer Seite zerstört, weil sie nicht warten will, bis diese Waffen in der Ukraine Menschen töten.

Oft wird gefragt, ob die Ukraine den Krieg gewinnen kann. Richtiger wäre die Frage: Kann Russland den Krieg gewinnen? Schließlich hat die Ukraine den Krieg nicht begonnen. Letztlich geht es um die Frage, ob sich die Ukraine effektiv verteidigen kann. Wenn man militärisch weiß, dass der Angreifer dreimal so viele Truppen braucht wie der Verteidiger, dann wird es Russland sehr schwer haben, gegen die Ukraine zu gewinnen und erst Recht Landgewinne zu halten. Russland sollte diesen Krieg beenden, indem es abzieht.

DWN: Würden Gegenschläge der Ukraine mit westlichen Waffen auf russischem Territorium Putins bisherige und künftige Erfolge in den Augen der Russen in Frage stellen?

Sensburg: Das hängt vom Narrativ in Russland ab. Russland pflegt das Narrativ, angegriffen zu werden. Somit werden Gegenschläge auch immer propagandistisch genutzt. Zugleich wird man sich aber doch auch in Russland fragen: „Was machen wir eigentlich in der Ukraine?“ und „wie lange wird dieser Krieg noch gehen?“ Je länger und verlustreicher der Krieg ist, desto mehr schwindet auch die Unterstützung für ihn in Russland.

DWN: Das Völkerrecht erlaubt es, in einem Angriffskrieg den Feind auch auf seinem Territorium zu bekämpfen. Warum hat man sich nicht schon vor zwei Jahren dazu entschlossen?

Sensburg: Das Völkerrecht wird gerne vorgeschoben, allerdings halte ich es bei dieser Fragestellung nicht für relevant, denn die Rechtslage ist eindeutig. Die Diskussion, die zu Recht von Deutschland und anderen NATO-Staaten geführt worden ist, war, ob wir Kriegspartei werden könnten? Und da haben wir immer gesagt: Nein, die NATO darf nicht Kriegspartei werden. Das halte ich für richtig.

Ich habe mich auch gefragt, warum das nicht schon viel früher entschieden worden ist, denn es gab mehrere Kipppunkte in diesem Krieg, wo man hätte sagen können, dass die Ukraine, wenn sie ausreichend bewaffnet gewesen wäre, einen großen militärischen Vorteil gehabt hätte. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man die Ukraine gerade so am Leben hält, ihr aber nicht den entscheidenden Vorteil gibt, die russischen Truppen wieder aus dem Land zu drängen. Es geht aber nicht darum, die Ukraine am Leben zu erhalten und Russland nicht zu verletzen. Russland ist der Aggressor. Es muss klar sein, dass die Ukraine in der Lage sein muss, Russland vom ukrainischen Territorium vertreiben zu können. Dies ist weit über diesen Krieg hinaus relevant. Wenn Russland nicht verliert, werden wir in Zukunft mehr und mehr Kriege in unserer Welt erleben.

DWN: Worauf beruht die fortwährende Zögerlichkeit des Bundeskanzlers bei der Einschätzung der Bestimmungsfaktoren russischer Verhaltensmodi?

Sensburg: Als Präsident eines großen Verbandes will ich keine Parteipolitik machen. Aber ich würde mir wünschen, dass Deutschland mit seinen Verbündeten klare Positionen nach außen kommuniziert und dass die Bundesregierung das auch nach innen deutlich macht. Das vermisse ich. Man kann darüber nachdenken, aber den Entscheidungsprozess und die Entscheidung klar zu erklären, die richtigen kommunikativen Signale zu setzen, die Bevölkerung mitzunehmen und Vertrauen zu schaffen, das muss eine Bundesregierung können – egal, welche Parteien sie stellen. Es geht um die Sicherheit unseres Landes, es geht um die Sicherheit Europas insgesamt.

DWN: Sehen Sie diese Sicherheit derzeit in Gefahr?

Sensburg: Die aktuelle Situation erinnert mich an die Zeit vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Fast alle politisch Verantwortlichen sind davon ausgegangen, dass Russland nicht einmarschieren wird. Jetzt heißt es wieder: Russland wird nicht in Europa einmarschieren. Die baltischen Staaten, Polen und Rumänien sehen das anders, denn dort ist die Bedrohung im Moment sehr deutlich spürbar. Putin wartet nur auf den Moment, an dem er sein Reich weiter vergrößern kann. Wenn wir auf diesen Moment nicht vorbereitet sind, wird er kommen.

Schauen Sie, Putin ist nicht mehr der Jüngste. Wenn er sein Lebenswerk, die Schaffung der „Heiligen Rus“, vollenden will, bleiben ihm nicht mehr viele Jahre. Putin will als der Heilige eines großen Russischen Reiches in die Geschichte eingehen. Ein Führer, der das Reich wiedervereinigt hat, während Gorbatschow und Jelzin es verspielt haben. Mit anderen Worten: Er wird nicht zögern. Menschenleben spielen dabei für ihn keine Rolle.

DWN: Kommen wir noch einmal auf das Zögern der Bundesregierung zurück. Hat diese Zurückhaltung im Nachhinein betrachtet Russland zu einer weiteren Eskalation eingeladen?

Sensburg: Das würde ich nicht sagen. Es hat verhindert, dass die Ukraine früher ausreichende militärische Erfolge erzielen konnte. Diese wurden durch das zögerliche Verhalten des Westens verhindert. Die Ukraine konnte die Russen zurückhalten, aber mehr war nicht möglich. Das war nicht nur die deutsche Zurückhaltung, sondern die Zurückhaltung vieler Länder. Was Deutschland bisher an Rüstungsgütern geliefert hat, ist nicht wenig. Jetzt müssen aber alle alles liefern, was nötig ist, um Russland aus der Ukraine zu drängen.

DWN: Die Russische Föderation baut derzeit eine gigantische Logistik im Asowschen Meer auf, um ihr Hauptziel zu erreichen: die Ukraine komplett vom Meer abzuschneiden. Wie wichtig ist das vor diesem Hintergrund?

Sensburg: Russland weiß, dass die Ukraine mit asymmetrischen Mitteln wie Wasserdrohnen der Schwarzmeerflotte und der russischen Marine großen Schaden zufügen kann. Insofern stellt sich die Frage, was Russland macht, wie Russland agiert und wie Deutschland und die NATO ihre verschiedenen maritimen Bereiche, zum Beispiel den strategisch sehr wichtigen Ostseeraum, schützen können. Deshalb brauchen wir mit unseren Partnern die entsprechende Kompetenz, um russische Ambitionen in die Schranken weisen zu können. Dies geht über das Asowschen Meer hinaus.

DWN: Sehen Sie eine realistische Gefahr einer Eskalation der Spannungen bis hin zu einem gesamteuropäischen und nuklearen Krieg zwischen der NATO und Moskau?

Sensburg: Ich sehe die Gefahr in Europa, denn wenn das europäische und damit NATO-Territorium angegriffen wird, kommt es zu einer Eskalation. Deutschland liegt geostrategisch mitten in Europa. Jede Logistik geht durch Deutschland. Und wenn unsere deutsche Brigade in Litauen Krieg führt, weil sie Europa verteidigt, werden wir in Deutschland auch nicht mehr in Frieden leben können.

DWN: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die fortgesetzte Eskalationserpressung Putins? Welche Ziele verfolgt er damit und wie sollte der Westen, allen voran Deutschland, darauf reagieren?

Sensburg: Deutschland tut schon sehr viel, die hybriden Angriffe von russischer Seite abzuwehren. Die verantwortlichen Behörden können sie auch zuordnen. Das allein führt dazu, dass Putin damit keinen Erfolg hat. Unter dem Strich glaube ich, dass unsere Demokratie, unser Rechtsstaat und unsere freiheitliche Ordnung wirksam dagegenhalten. Das ist nicht immer einfach, weil die Fakten oft kompliziert sind. Aber es gelingt, so viel kann ich sagen. Putins Cyber-Trolle gewinnen nicht.

DWN: Abschließend gefragt: Was muss Deutschland an militärischer Unterstützung für die Ukraine leisten, damit sie diesem Angriffskrieg völkerrechtlich begegnen kann? Was wünschen Sie sich von der Politik im weiteren Umgang mit Russland?

Sensburg: Ich wünsche mir ein klares Bekenntnis, dass sich Investitionen in Sicherheit auch in Friedenszeiten auszahlen. Denn dieses Bekenntnis im Frieden sichert Infrastruktur, Stabilität und unsere wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften und verhindert nicht zuletzt den Krieg. Dass wir nicht nur in Fortschritt investieren, sondern auch in die Stabilität und Sicherheit des Fortschritts, dass das in Zukunft Hand in Hand geht. Und zwar nicht nur im militärischen Sinne, sondern im Sinne einer umfassenden Sicherheit. Wir sprechen dann von Gesamtverteidigung.

Wir haben das bei den Nordstream-Pipelines gesehen, dass man Alternativen haben muss. Das ist bei Glasfaserkabeln und Telekommunikation nicht anders. Wir haben das beim Hochwasser an der Ahr in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erlebt. Da waren Teile wochenlang ohne Telefon, obwohl Ersatzmasten aufgestellt wurden. Das hat einfach nicht gereicht. Wir haben in unserer gesamten Infrastruktur hierzulande wenig redundante Strukturen, die im Ernstfall für Stabilität sorgen könnten. Wenn wir im Verteidigungsfall Panzer auf der Schiene transportieren müssen, dann steht im Zweifelsfall ein ICE auf der Strecke davor und wir kommen nicht weiter, weil Personen- und Güterverkehr meistens auf einem Gleis laufen. Deshalb brauchen wir unbedingt redundante Strukturen. Wenn es dann nie zu einem Krieg kommt, was wir alle hoffen, haben wir auch im zivilen Leben viel davon.

DWN: Herr Sensburg, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Patrick Sensburg, Jahrgang 1971, ist Oberst der Reserve und Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e.V. Seit 2006 ist er Professor für Öffentliches Recht und Europarecht - zuerst an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und dann an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalens. Darüber hinaus ist er Gastprofessor an der Universität Wien und Gastprofessor an der University of Economic Studies Bukarest. Von 2009 bis 2021 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war Vorsitzender im NSA-Untersuchungsausschuss und des Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Ebenso war er Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, im Innenausschuss, im Parlamentarischen Kontrollgremium, im Verteidigungsausschuss und im Ältestenrat. Zurzeit ist er Mitglied der G10-Kommission des Deutschen Bundestages.


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