Politik

Stunde der Wahrheit für Ursula von der Leyen: Wiederwahl auf Messers Schneide

Lesezeit: 4 min
17.07.2024 16:01
Ursula von der Leyen hofft auf Wiederwahl als Präsidentin der EU-Kommission. Am Donnerstag schlägt in Brüssel ihre Stunde der Wahrheit. Ob es für die CDU-Politikerin aus Niedersachsen noch einmal reicht, ist mehr als fraglich. Man könnte auch eine Münze über den Ausgang der Abstimmung in die Höhe werfen - zu viele Parlamentarier haben Rechnungen offen.
Stunde der Wahrheit für Ursula von der Leyen: Wiederwahl auf Messers Schneide
Auf Giorgia Melonis Einfluss könnte es ankommen: Italiens Ministerpräsidentin neben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Gipfeltreffen der G7-Staaten (Foto: dpa).
Foto: Michael Kappeler

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Sie hat verbissen gekämpft seit der Wahl und noch einmal kräftig hinter den Kulissen an sämtlichen Strippen gezogen. Ob es für die 65-Jährige im EU-Parlament zu einer zweiten Amtszeit an der Spitze der mächtigen EU-Kommission reicht, ist allerdings diesmal eher Glücksache. Anders als im Bundestag, wo es zumeist auf die Bataillonsstärke der Fraktionen ankommt, kann Ursula von der Leyen überall Stimmen gewinnen, aber auch an Zustimmung verlieren – sogar in ihrer eigenen Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP).

Wirkung des Manövers gegen Viktor Orbán bereits wieder verpufft?

Am Wochenende schien es noch so, als habe sie mit einem mutigen Schachzug neue Mehrheiten in den Reihen von Sozialdemokraten und Grünen gewinnen können, als sie Viktor Orbán, dem amtierenden Ratsvorsitzenden der EU, die Grenzen aufzeigte. Mit Winkelzügen – freilich auch mit klaren Worten des Missvergnügens und Unverständnisses.

Um weitere Alleingänge des Ungarn bei Putin, Trump und anderen Despoten zu verhindern, versucht die Kommission jetzt mit protokollarischen Nadelstichen dem Ego-Darsteller auf europäischer Bühne zuzusetzen. Für das kommende halbe Jahr darf Orbán zwar nominell die Agenda bestimmen, die EU-Kommission indessen entscheidet, ob sie überhaupt Kommissare oder Minister zu den Runden nach Budapest entsendet oder nur subalterne Chargen. Statt schöner Bilder droht so ein Image-Verlust für die Ungarn.

Doch die Woche wird längst wieder von klassischen Schwarzbrot-Themen bestimmt: dem umstrittenen Verbrenner-Verbot und vor allem von den allmächtigen Alleingängen Ursula von der Leyens bei der Beschaffung von Impfstoffen während der Corona-Pandemie. Europa-Abgeordnete der Grünen wähnten, dass dabei womöglich Korruption im Spiel war, und klagten beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Das ganze Verfahren hat Zweifel gesät, während Ursula von der Leyen mauert und bisher so gut wie keinen Beitrag zur Aufklärung geleistet hat.

Vertrauen des Parlaments? Nicht wenn man Milliarden-Deals per SMS einfädelt

Für die Kommissionschefin geht es um nichts weniger als das Vertrauen des Parlaments. In Krisenzeiten ohne hinreichende Kontrollen Milliarden freizugeben, wirft manche Fragen auf – der Deal mit Biontech und Pfizer war 35 Milliarden Euro schwer und soll weitestgehend nur auf Zuruf bzw. per SMS erfolgt sein. Die Richter in Luxemburg kritisierten die Geheimhaltung und sehen einen Verstoß gegen EU-Recht. Dass obendrein weiterhin die belgische Justiz in der Causa ermittelt, sorgt am Mittwoch für massive Präsenz im Bewusstsein der Brüsseler Parlamentarier. Die Zweifel könnten bis zur Abstimmung nachwirken und von der Leyen schnell und unverblümt ihre sicher geglaubte Wiederwahl kosten. Wohlgemerkt, die EVP hatte sich als Wahlsieger bei den Europa-Wahlen gewähnt.

Inzwischen dominieren die Durchhalte-Parolen. Parteifreund Peter Liese von der CDU stellt sich hinter von der Leyen und beschwichtigt: „Sich zu kümmern, lag in ihrer Verantwortung, das ist nicht zu kritisieren.“ Ob das wirklich alle so sehen, scheint seit dem heutigen Verhandlungstag am EuGH in Luxemburg wieder fraglich. Die Aktualität bestimmt verständlicherweise die Stimmungslage im EU-Parlament, darüber sollte sich von der Leyen am Donnerstag keinerlei Illusionen hingeben. Denn die Hinterbänke des EU-Parlaments sind voller Politiker, die der resoluten Dame gern ein Schnippchen schlagen würden. Da es bekanntlich keinen Fraktionszwang bei der Abstimmung gibt, ist bereits unter normalen Umständen mit rund 50 Abweichlern zu rechnen.

Normalerweise sollten die Stimmen von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen der amtierenden Kommissionspräsidentin eine sichere Mehrheit von 401 der 720 Abgeordneten sichern. Doch die erforderliche absolute Mehrheit von 361 Stimmen könnte schnell schmelzen. Schon bei ihrer Wahl anno 2019 hatte von der Leyen nur neun Stimmen mehr als nötig gewinnen können. Damals war die deutsch-französische Freundschaft und parlamentarische Allianz der Christdemokraten auch noch intakt. Selbst bei den Grünen und Sozialdemokraten, die beileibe kein Interesse an Chaos-Tagen in Brüssel haben sollten, sind indessen deutliche Absetzbewegungen zu vernehmen.

Teile der EVP erwarten, dass die Grünen von der Leyens Wiederwahl unterstützen. Hannah Neumann von den Grünen indes gab zu Protokoll, dass die Zustimmung in ihrer Fraktion derzeit völlig offen sei. Und das, obwohl von der Leyen die vergangenen fünf Jahre ganz klar einem anspruchsvollen Green Deal gefolgt ist. Auch die FDP warnte bereits in Stellungnahmen: „Sicher ist nichts!“ Am Donnerstag wird es deshalb wohl ganz entscheidend auf ihre Rede vor dem Plenum ankommen. Schafft sie es, Visionen und Begeisterung zu vermitteln?

Wohl deshalb hegt Ursula von der Leyen insgeheim auch große Hoffnung auf Unterstützung aus den Reihen der rechtspopulistischen EKR-Fraktion. Es handelt sich um jenen Block von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni.

Biegsamkeit beim Spagat zeigen und auf Wohlwollen der Punktrichter hoffen

Kann von der Leyen Spagat? Und wie bewerten die Punktrichter solch extreme Biegsamkeit? Drohungen und Beschwichtigungen bestimmen die Stunden vor der Abstimmung. Von der Leyen muss lavieren, taktieren und womöglich bittere Zugeständnisse machen. In ihrer niedersächsischen Heimat nennt man das: „Flöhe hüten!“

Doch eine Krise innerhalb der EU ist angesichts der immer wahrscheinlicher werdenden Wiederwahl Donald Trumps in den USA im November so ziemlich das Letzte, was das Vielvölker-Gebilde auf dem Kontinent verkraften könnte.

Die Fliehkräfte üben schon jetzt enormen Druck auf das Chassis aus. Die einst verlässliche Achse Berlin-Paris hat auf den französischen Landstraßen einen erheblichen Schlag bekommen – und eiert seither ganz erheblich. Seit dem Brexit ist die Limousine ohnehin nur noch ein Cabrio. Von den Beulen an den Rändern ganz zu schweigen. Sollte die Regierung in Berlin ein oder gleich zwei Räder verlieren, dürfte der Crash unvermeidlich sein. Bleibt zu hoffen, dass dieses Horror-Szenario für zähneknirschende Zustimmung sorgt.

Die Wahl von der Leyens muss übrigens auf Anhieb gelingen. Mehrere Wahlgänge sind in Brüssel nicht vorgesehen. Donnerstag wird erst am Nachmittag abgestimmt – wobei Enthaltungen im EU-Parlament als Ablehnung gelten. Für Ursula von der Leyen könnte es also auch kritisch werden, wer sich schon alles vorzeitig auf dem Weg in die Heimat begeben hat, ins parlamentarische Wochenende. Womöglich müssen sich die Staatschefs der Mitgliedsländer schon bald über einen neuen Kandidaten verständigen. Das wird dauern.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.


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