DWN: Worauf basiert der politische Beschluss Deutschlands, neue Lenkwaffensysteme, wie den Marschflugkörper Tomahawk, die neue Standard Missile 6 (SM-6) zu kaufen sowie völlig neue hypersonische Waffen zu entwickeln?
Thomas Meuter: Der politische Entschluss basiert im Wesentlichen auf einer gemeinsamen Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland nach dem NATO-Gipfel im Sommer dieses Jahres in den USA. Ich darf an dieser Stelle einmal aus dem Beschluss zitieren: „Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen. Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Damit würde die Position der Bundeswehr innerhalb der NATO gestärkt werden. Vergleichbar ist dieser eingeleitete politische Schritt in seiner strategischen Bedeutung vielleicht mit dem NATO-Doppelbeschluss zu Beginn der achtziger Jahre. Doch damals gab es andere sicherheitspolitische Zielsetzungen in der NATO als heute. Die Bundeswehr war bisher nicht waffentechnisch in der Lage, Deutschland flächendeckend mit Waffensystemen zu schützen, die zur ballistischen Raketenabwehr konstruiert worden sind. Das ändert sich mit der Beschaffung der Arrow 3 und der SM-3. Die amerikanische SM-3 Entwicklung kann gegnerische Lenkwaffen, wie Mittel- oder Langstreckenraketen in einer Höhe von über 100 Kilometern abfangen und zerstören. Dies ermöglicht ein sehr genaues Steuerungs- und Erfassungssystem, um eine feindliche Lenkwaffe im Flug in über 100 Kilometer Höhe genau zu treffen.
Die SM-6 wirkt in der Version zur ballistischen Lenkwaffenabwehr nur durch kinetische Energie und hat keinen Sprengkopf an Bord. In einer anderen Bauversion der SM-6 gibt es einen konventionellen Sprengkopf, der effektiv gegen Bodenziele wirken kann. Die Kampfreichweite beträgt um die 460 Kilometer und die SM-6 Lenkwaffe ist ungemein schnell mit 3,3 Kilometer in der Sekunde. Das ist mehr als 4.000 Kilometer in der Stunde. Dem Gegner bleibt sehr wenig Zeit, die SM-6 zu orten und zu bekämpfen, wenn diese nicht gegen Flugziele eingesetzt werden sollte. Darüber hinaus muss bei der Abwehr von gegnerischen Lenkwaffen (Raketen) ein sehr schnell fliegendes Lenkwaffensystem zur Verfügung stehen, um diese in großen Höhen gezielt und sicher abzufangen. Insbesondere dann, wenn die angreifenden Waffen atomare, biologische oder chemische Gefechtsköpfe an Bord haben sollten.
Die amerikanische SM-6 kann von Schiffen und Lastwagen aus eingesetzt werden. Derzeit sind aber Schiffe der Hauptträger der Waffe. Diese steht in der japanischen und der amerikanischen Marine im Einsatz. Die ersten SM-6 Lenkwaffen für Deutschland werden den kommenden Jahren für die Deutsche Marine beschafft und ermöglichen dieser, einen besseren Raketenabwehrschirm zu errichten.
Darüber hinaus boten die USA schon vor längerer Zeit Deutschland den Kauf von Marschflugkörpern des Typs BGM-109 Tomahawk für den land- und seegestützten Einsatz an, um Hochwertziele in der Tiefe des gegnerischen Raumes anzugreifen. Die land- und seegestützte Tomahawk hat je nach Bauversion eine Kampfreichweite von ca. 2.500 Kilometern. Die Deutsche Marine wird die Tomahawk auf ihren neusten Fregatten stationieren, um diese gegen Land- aber auch Schiffziele einsetzen zu können. Hinzu kommt dann noch die Entwicklung einer völlig neuen Hyperschalllenkwaffe Namens Dark Eagle.
Alle drei sind Teil der neuen Multi-Domain Task Force, einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee, die dort bereits 2017 eingeführt wurde. Es gibt weltweit fünf derartige Task-Forces, die alle bis 2028 einsatzfähig sein sollen. Drei davon fokussieren sich auf den pazifischen Raum. Eine wird seit 2021 von Deutschland aus geführt und dient Operationen der US-Truppen in Europa und Afrika. Die Task-Forces integrieren Land-, Luft-, See-, Weltraum- und Cyberkräfte, um gegnerische Ziele flexibel zu bekämpfen. Hauptziel ist die Überwindung von sogenannten Anti-Access- und Area-Denial Zonen, in denen der Gegner den Zugang und die Bewegung einschränken will.
DWN: Das sind unterschiedliche Lenkwaffensysteme, die in einem Verbund einsetzt werden können, wie Sie es sagen. Wie ist durch die SM-6 und Arrow 3 Deutschlands Konfliktfähigkeit gestärkt?
Thomas Meuter: Deutschland hat im Zuge der Abrüstung als auch bei der deutlichen Verringerung von Streitkräften erhebliche militärische Fähigkeitslücken bei allen Teilstreitkräften geschaffen, die nun kostenintensiv sowie langfristig im Rahmen der Bündnis- und Landesverteidigung geschlossen werden müssen. Deutschland ist technisch nicht in der Lage, feindliche Lenkwaffen, die möglicherweise mit atomaren Gefechtsköpfen ausgerüstet sind, im Anflug und großen Höhen zu zerstören. Diese Fähigkeit wird aber mit den Arrow 3 und SM-6 Lenkwaffensystems in Kürze geschaffen.
Raketentechnologie ist heute durch viele Staaten beherrschbar und wird immer wieder angewendet, um politische Drohungen auszusprechen. Im Irakkrieg zu Beginn der neunziger Jahre zeigte sich, wie gefährlich damals die irakischen SUCD B Raketen für Israel oder Saudi-Arabien waren, denn die technische Problematik war, diese im Anflug und mit Hilfe der US-Waffe PATRIOT effektiv abzuwehren. Der Ukrainekrieg belegte zudem, wie problematisch es ist, russische Hyperschallwaffen im Anflug abzuwehren, die deutlich schneller als eine SCUD B sind. Es bleibt wenig Zeit, um eine anfliegende Hyperschallwaffe im Anflug und mit Hilfe eines Radars zu erfassen sowie dann mit Hilfe einer anderen Lenkwaffe im Anflug zu treffen.
Dazu benötigt man sehr gute, weitreichende Radargeräte sowie hochgenaue Abwehrlenkwaffensysteme, die mit hoher Geschwindigkeit einer angreifenden feindlichen Rakete entgegenfliegen, da die Zeit ein sehr wichtiger Faktor ist. Dabei darf man nicht vergessen, dass meist nur wenige Minuten vom Erfassen einer angreifenden Lenkwaffe bis zu deren erfolgreichen Bekämpfung vergehen dürfen. Geschwindigkeit und Präzision ist dabei der entscheidende Faktor und der Schlüssel zum Abwehrerfolg. Die landgestützte Arrow 3 als auch die schiffsbasierte SM-6 können diese militärisch-technischen Anforderungen auf einem unterschiedlichen Niveau abbilden und müssen meiner Ansicht nach ihrer Wirkungsweise nach gemeinsam betrachtet werden.
Wie schon gesagt: Die SM-6 Lenkwaffensysteme werden zukünftig auf deutschen Fregatten stationiert, um auch auf den Meeren einen Raketenschutzschirm zu generieren. Diese können dann einen Schutzschirm beispielsweise in der Ostsee und dort für die Anrainerstaaten effektiv abbilden. Mit Hilfe der deutschen Lenkwaffennachrüstung SM-6 und der Arrow 3 hat Deutschland seinen ballistischen Raketenschutzschirm deutlich verstärkt. Das war für die Landesverteidigung sehr wichtig und sicherheitspolitisch absolut notwendig.
Dabei gilt es zu beachten, dass die Arrow 3 nicht in das eigentliche Ausrüstungspaket gehört, was die Multi-Domain Task Force-Fähigkeit ermöglicht. Es ist ein ergänzender und wichtiger technischer Baustein dazu, aber nicht der Hauptbestandteil!
DWN: Nun bleiben noch die Tomahawks und die in der Entwicklung stehende Hyperschallwaffe Dark Eagle. Was hat es damit auf sich?
Thomas Meuter: Die Tomahawk ist ein Lenkwaffe, die see-, land- oder luftgestützt eingesetzt werden kann. Ein wesentlicher Punkt dieses Marschflugkörpers ist die Tatsache, dass er die gegnerische Luftraumüberwachung unterfliegen und so unter dem elektronischen Zaun herfliegen kann, ohne gesehen zu werden. Dies macht alle Tomahawk-Varianten zu einem hoch gefährlichen Instrument, wichtige Ziele wie Flugplätze, Kommunikationseinrichtungen, Kraftwerke, Nachschublager oder verbunkerte Befehlsstellen weit hinter feindlichen Linien nachhaltig anzugreifen. Während der beiden Kriege gegen den Irak, bei Schlägen gegen Ziele in Libyen oder in anderen Ländern, war dieser US-Marschflugkörper sehr erfolgreich und erwies sich als effektiv in der Bekämpfung von Hochwertzielen.
Der Marschflugkörper ist immer wieder modernisiert worden, was seine Kampfreichweite, seine Fähigkeiten angeht, im Tiefflug und mit hoher Unterschallgeschwindigkeit, seine Ziele zu erreichen sowie gegen gegnerische Abwehrmaßnahmen, wie elektronische Störungen oder Radarerfassungen unempfindlich zu sein. Ebenso wurde die Treffgenauigkeit mit Hilfe von modernen Navigationssystemen immer wieder verbessert. Die neuen US-Tomahawk-Marschflugkörper können sogar im Flug auf neue Bodenziele umprogrammiert werden und verschiedene konventionelle Gefechtsköpfe tragen. In Europa nutzt die britische Marine Tomahawks auf ihren strategischen Atom-U-Booten, um damit Land- oder Schiffsziele zu bekämpfen. Die Niederlande und Spanien bestellten auch dieses Waffensystem in den USA.
Deutschland wäre ein weiterer europäische Nutzer dieses Marschflugkörpers, der später dann auf den neuen Fregatten stationiert werden soll, um von diesen auch in Krisenregionen von Seeseite und bei Bedarf eingesetzt werden zu können. Damit erhält die deutsche Marine eine hochmoderne Lenkwaffe mit der eine strategische Zielbekämpfung über große Distanzen möglich ist. Die Überlegung, die deutsche Nukleare Teilhabe (NT) möglicherweise auf die neuen Schiffstypen, die zukünftig mit Tomahawks ausgerüstet sind, auszustatten, umzulegen und damit die Luftwaffe zu entlasten ist mit der US-Entscheidung im Jahre 2012, die atomaren Tomahawk-Gefechtsköpfe vom Typ W80-0 zu vernichten, gänzlich vom Tisch. Es wäre eine mögliche technische Alternative gewesen, Atomsprengköpfe mit Hilfe von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk bis zu einer Reichweite von 2.500 Kilometern zu verbringen. Es gab bis zum INF-Abrüstungsvertrag eine Tomahawk-Version, die Nuklearsprengköpfe tragen konnte. Dieser Typ wurde aber bis 1991 völlig abgerüstet.
Die veralteten deutschen TORNADOS und die neuen F-35 Kampfflugzeuge, beides Träger für Atomwaffen, müssen heute Ziele im gegnerischen Hinterland anfliegen und über diesen eine B61 Atombombe werfen. Dies ist ein hoch risikoreiches Unterfangen, da die Deutsche Luftwaffe hierfür keine atomar bestückbaren Abstandswaffen hat, die dies ermöglichen könnten und letztlich den Piloten vor Bekämpfungsmaßnahmen des Gegners schützt. Dies wäre mit einem weitreichenden Lenkwaffensystem einfacher darzustellen, wenn die NT auch auf eine andere Teilstreitkraft ausgedehnt werden sollte. Dies steht aber zurzeit nicht an.
Die in der Entwicklung stehende Dark Eagle ist eine völlig neue Hyperschallwaffe, deren Entwicklung schon unter dem US-Präsidenten Donald Trump begann. Diese ist die jüngste Waffe in der Multi-Domain Task Force und trägt die militärische Bezeichnung Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW). Gebaut wird diese Waffe gemeinsam von den US-Konzernen Northrop Grumman und Lockheed Martin. Die Kampfreichweite liegt mit 2.500 Kilometern schon im oberen Bereich. Die Höchstgeschwindigkeit ist mit Mach 5 (6.115 km/h) angegeben, was ein Abfangen der Lenkwaffe für einen Verteidiger nochmals deutlich erschwert. Bedingt durch die hohe Geschwindigkeit sind die Vorwarnzeiten für einen angegriffenen Gegner sehr kurz und es bleibt keine Zeit für effektive Abwehrmaßnahmen, da die Geschwindigkeit ein entscheidender Faktor ist. Bei der Dark Eagle handelt es sich um eine strategische Lenkwaffe.
Diese ist auf zeitkritische Hochwertziele („high payoff/time critical targets“) wie kurz vor dem Auslaufen stehende Schiffe, Nachschubkolonen, die eine wichtige Position passieren oder bestimmte Truppenbewegungen ausgerichtet. Also Hochwertziele, die sich schnell von Ort zu Ort bewegen können und aus taktischen Gründen auf dem Gefechtsfeld nie lange an einem Ort verweilen dürfen, um eine gegnerische Aufklärung zu erschweren. Die Bedeutung des Waffensystems wird dadurch unterstrichen, dass das US Strategic Command (USSTRATCOM), welche ebenfalls zuständig für die Atomwaffen der USA ist, die Angriffsziele und Aufgaben der neuen Dark-Eagle-Batterien festlegt. In Deutschland werden die Dark Eagles zukünftig durch das 56th Artillery Command geführt. Das Kommando ist in Mainz-Kastel ansässig. Vom einem osteuropäischen Bündnisgebiet wie Polen, Ungarn oder Bulgarien aus könnten die in Deutschland stationierte Dark-Eagle-Batterien, rein technisch gesehen, Bodenziele in Russland westlich des Urals mit diesem System sehr kurzzeitig angreifen.
Damit eine entsprechende Verlegung der Hyperschalllenkwaffe schnell möglich ist, sind die Abschussrampen auf einem LKW montiert und können auch mit Flugzeugen transportiert werden. In den USA will die Marine und die Armee diese Waffensysteme schnellstmöglich einführen. Optimiert ist diese Boden-Boden-Waffe in Sachen Geschwindigkeit, Flughöhe und Manövrierfähigkeit, um die Bekämpfung von Zielen wie mobile Raketeneinheiten, Artilleriestellungen oder wichtige Nachschubkolonen mit wertvollen Gütern in sehr kurzer Zeit zu ermöglichen sowie Ziele blitzartig anzugreifen, die schwer zu verteidigen sind. Die bisherigen Entwicklungskosten werden mit nur 40 Millionen Dollar beziffert. Der letzte Flugtest wurde am 28.07.2024 erfolgreich absolviert.
DWN: Deutschland strebt in diesem Zusammenhang auch eine europäische Lenkwaffenentwicklung an. Was wird dies sein?
Thomas Meuter: Europa hat verschiedene Lenkwaffenhersteller, die unterschiedlichste Erfahrungen haben, Lenkwaffen mit hohen Kampfreichweiten zu entwickeln. Darunter die norwegische Kongsberg, die deutsch-französische-englische MBDA und das deutsche Unternehmen Diehl. Diese drei Unternehmen sind in der Lage und in einer europäischen Kooperation eine Langstreckenwaffe zu entwickeln, die es noch in den militärischen Leistungsparameter festzulegen es gilt, wenn dies gefordert werden sollte. Der Grund: Man möchte in Europa nicht immer auf technische Lösungen zurückgreifen, die aus den USA kommen, sondern unabhängiger sein. Aus diesem Grunde hat die Industrie nach dem NATO-Gipfel in Washington in Frankreich, Polen und aus Deutschland sich schon verständigt, um mögliche zukünftige europäische Entwicklungen auszuloten.
In Europa gibt es genügend industrielle Kapazitäten, Langstreckenwaffensysteme zu entwickeln und zu bauen. Der Beschaffungsmarkt ist in Europa und darüber hinaus recht groß. Der militärische Bedarf nach Abstandswaffen mit hoher Kampfreichweite mit mehr als 2.000 Kilometern ist in den letzten Jahren in den NATO-Staaten stark angestiegen. Der Bedarf wuchs mit dem Beginn des Ukrainekriegs weiter und wird in den kommenden Jahren mit Sicherheit nochmals zunehmen, so mutmaßen es Rüstungsanalysten. Derzeit haben die meisten europäischen Streitkräfte nicht die militärische Kapazität, über Reichweiten von deutlich über 1.000 Kilometern mit Hilfe von nicht atomar bestückten Langstreckenwaffen zu wirken.
Diese militärische Fähigkeit ist insbesondere bei Ländern mit einer großen geografischen Ausdehnung sehr wichtig und militärisch unabdingbar. Allerdings muss man dabei auch die internationalen Abrüstungsverträge im Auge behalten, denn diese beschränken die militärischen Fähigkeiten, mit weitreichenden und neu entwickelten Lenkwaffensystemen zu wirken. Die Einführung derartiger Lenkwaffensysteme muss also auch der internationalen Vertragslage entsprechen, um regelkonform zu handeln.
DWN: Ist die Nachrüstung mit neuen Lenkwaffensystemen in der NATO auch als eine Reaktion auf die russischen Entwicklungen neuer Mittelstreckenraketen zu sehen?
Thomas Meuter: In der Tat, dies ist es. Russland hat eine ganze Menge an land- und seegestützten Lenkwaffensystemen entwickelt und gebaut. Im Mittelpunkt der deutschen Entscheidung eine schnelle Nachrüstung zu betreiben, steht derzeit der russische Marschflugkörper des Typs 9M729 (NATO-Code SSC-8), dessen rasche Entwicklung 2019 maßgeblich zum Ende des wichtigen INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckenraketen beitrug. Der INF-Vertrag verbot es, landgestützte Lenkwaffen mit einer Reichweite von 500 bis zu maximal 5.500 Kilometer in Europa zu bauen und zu stationieren.
Offiziell bestreitet Russland bis heute, dass der SSC-8-Marschflugkörper eine Reichweite von mehr als 500 Kilometer besitzt und damit klar gegen den INF-Vertrag verstößt. Der russische Präsident Wladimir Putin schlug nach Auflösung des INF-Vertrags im Jahre 2019 und 2020 ein neues Moratorium für landgestützte Mittelstreckenraketen vor. Russland will keine neuen Raketensysteme entwickeln, bauen und stationieren, wenn die USA auch darauf vertraglich verzichten. Moskau bot hierzu zusätzlich noch gegenseitige Verifikationsmaßnahmen an. Im Dezember 2021 griffen die USA den politischen Vorschlag auf und erklärten sich grundsätzlich zu Inspektionen bereit. Der Krieg in der Ukraine beendete dieses Rüstungsbegrenzungsvorhaben.
DWN: Wird damit nicht eine Rüstungsspirale ausgelöst, die wir zu Beginn der achtziger Jahre hatten?
Thomas Meuter: Die Entwicklung neuer Lenkwaffensysteme auf der einen Seite löst fast automatisch eine militärische Antwort auf der anderen Seite aus. Die Frage ist aber hier zu stellen, ob es sich um die Nachrüstung von nuklearen oder konventionellen Waffenträgern handelt. Das ist ein erheblicher und wichtiger sicherheitspolitischer Unterschied mit einer ungeheuren politischen Reichweite. Der Ukrainekrieg hat eine Nachrüstung auf vielen Gebieten der konventionellen Rüstung anlaufen lassen. Die NATO-Armeen und auch die Bundeswehr müssen bedrohungsgerecht konventionell nachgerüstet werden. Vielen Politikern es nun schmerzlich bewusst geworden ist, dass die verkleinerten Streitkräfte in Europa ihrem Verteidigungsauftrag nicht nachkommen können, da es an Personal und leistungsfähigen Wehrmaterial fehlt. Man muss eine Modernisierung von nationalen Streitkräften immer sehr langfristig sehen.
Militärische Fähigkeiten von Streitkräften können sie politisch innerhalb weniger Monate zerschlagen und gänzlich abschaffen. Dies ist kein Problem. Das sehen wir an der deutschen Panzertruppe sehr deutlich. Dort rüsteten wir auf rund 10 Prozent des damals vorhandenen Bestands ab. Heute muss diese Truppe wieder unter hohem zeitlichem Druck und teuer aufrüsten, was in der jüngsten Vergangenheit leichtfertig abgerüstet wurde, um Haushaltsmittel einzusparen. Eine Modernisierung der deutschen Streitkräfte wird mindestens noch 15 Jahre dauern, um besser für militärische Bedrohungen gerüstet zu sein. Das ist ein sehr langer, ja fast zu langer Zeitraum. Aber die Weichen sind gestellt und das Thema aufgegleist. Da ist die Beschaffung von neuen US-Lenkwaffensystemen schon fast als zügig zu bezeichnen, da diese nur wenige Jahre dauert.
DWN: Ist der deutsche Entschluss, Raketen aus den USA zu beschaffen als eine Wiederbelebung der transatlantischen Achse zu sehen?
Thomas Meuter: In der Tat ist der Entschluss Deutschlands und seiner Definition, weitere Waffensysteme, neben einem Mittleren Transporthubschrauber des Typs Chinook C-47 oder des Kampfflugzeugs F-35 für die Bundeswehr zu beschaffen, ein wichtiges politisches Zeichen an die USA, weiter mit dem Land und auf lange Sicht, militärisch zu kooperieren. Dahinter steht aber auch der starke wirtschaftlich Zwang in den USA militärisch zu beschaffen, was dort marktverfügbar ist. In Europa gibt es diese Waffensysteme nicht. Die europäische Rüstungsindustrie entwickelt und baut derartige Systeme, wie die SM-6 oder Tomahawk nicht. Dies trifft auch für moderne Lenkwaffensystemen zu, die hyperschallfähig sind.
Diese Waffensysteme werden aber schnell gebraucht, um Fähigkeitslücken zu schließen, die seit Jahren sicherheitspolitisch bekannt sind. Nun haben wir Krieg in der Ukraine und der ist als Motor für neue Rüstungsprogramme zu verstehen, die in der NATO dringend benötigt werden, um die beschriebenen Fähigkeitslücken zu schließen. Die ersten Schritte sind in Deutschland gemacht und weitere werden in der näheren Zukunft folgen. Es bleibt dabei aber abzuwarten, wie ein neuer Präsident/-in dies in den USA sieht. Sicher ist nur, dass Trump kein guter Partner in den wichtigen transatlantischen Fragenstellungen der Sicherheits- und Rüstungspolitik ist. Wie dies eine neue Präsidentin im Weißen Haus sehen könnte, bleibt derzeit noch abzuwarten.
Info zur Person: Thomas Alexander Meuter (61) ist seit rund 35 Jahren wehrtechnischer Journalist und beschäftigt sich mit militärischen Fragen und Ausrüstungen von Streitkräften. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der weltweiten Luftwaffen- und Heeresrüstung und militärische Analysen von Konflikten und Technologien, die dort zum Einsatz kommen. Das Thema Altmunition, Landminen und militärische Altlasten bearbeitet er redaktionell. Er ist erfolgreicher Fachbuchautor und Chefredakteur des Verlags MD&Partner in Meckenheim bei Bonn. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Thomas Meuter mit dem Aufspüren und der Entsorgung von Altmunitionen in vom Krieg betroffenen Ländern.