Die Krankenstände sind auf Rekordniveau und wirken sich auch wirtschaftlich aus: Aufträge können nicht bearbeitet werden, es kann nicht pünktlich geliefert werden, Arbeitsprozesse geraten durcheinander und die Mehrbelastung der gesunden Mitarbeiter im Unternehmen steigt.
Krankschreibungen dieses Jahr auf Rekordwert
Arbeitgeber sehen die telefonische Krankschreibung als Ursache für die hohen Krankenstände Ihrer Mitarbeiter und fordern jetzt, die Regelung wieder abzuschaffen. Hausärzte sind dagegen, denn tatsächlich ist vor allem eine Art von Leiden auf dem Vormarsch.
In der Coronavirus-Pandemie wurde die telefonische Krankschreibung eingeführt und später fest verankert. Wer nur leichte Symptome hat, kann sich bis zu fünf Tage krankschreiben lassen, ohne zum Arzt zu müssen. Die Regel war im Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungsgesetz angelegt, um Praxen zu entlasten, Bürokratie abzubauen und unnötige Arztbesuche zu vermeiden.
Deutschen melden sich immer häufiger krank
Die Techniker Krankenkasse (TK) vermeldet für das erste Dreivierteljahr 2024 einen neuen Rekord bei Krankschreibungen. Von ihren 5,7 Millionen erwerbstätigen Versicherten sei im letzten Dreivierteljahr jeder Erwerbstätige im Durchschnitt 14,3 Tage krankgeschrieben gewesen, teilte die Krankenkasse der „Welt am Sonntag“ mit.
Nie zuvor haben sich in den ersten neun Monaten eines Jahres so viele Versicherte krankschreiben lassen wie 2024, teilte die TK mit.
Junge und Männer lassen sich öfter telefonisch krankschreiben
Laut einer YouGov-Umfrage vom Juli hat bisher gut jeder vierte Nutzer telefonischer Krankschreibung schon mal krankgefeiert – vor allem junge Menschen. Insgesamt hat knapp jeder fünfte Deutsche (18 Prozent) die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung schon einmal genutzt, 11 Prozent sogar schon mehrmals. 65 Prozent verneinen hingegen bei der Frage nach der bisherigen Nutzung.
Unter denjenigen, die die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung schon mindestens einmal genutzt haben, geben 27 Prozent an, damit schon einmal „krankgefeiert“ zu haben, obwohl sie eigentlich nicht wirklich krank gewesen seien. Männer sagen dies deutlich häufiger als Frauen (36. vs. 19 Prozent der Frauen). Vollzeit-Erwerbstätige treffen diese Aussage leicht unterdurchschnittlich oft (25 Prozent). Dies zeigen Ergebnisse einer aktuellen YouGov-Umfrage in Kooperation mit Statista.
Krankschreibungen wegen Grippe und Corona-Infektion
Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es durchschnittlich 13,82 Tage. Vor der Corona-Pandemie lagen die Fehlzeiten deutlich niedriger, 2019 beispielsweise bei 11,40 Tagen. Die Hauptursache für den hohen Anstieg sind laut TK Erkältungsdiagnosen wie zum Beispiel Grippe, Bronchitis, aber auch Corona-Infektionen.
In den ersten neun Monaten dieses Jahres war jede TK-versicherte Erwerbsperson demnach 3,24 Tage mit einer Erkältungsdiagnose krankgeschrieben. Damit haben sich diese zum Vergleichszeitraum im Jahr 2019 fast verdoppelt. Damals lag der Wert bei 1,71 Fehltagen je Erwerbstätigen.
Die Krankmeldungen in Deutschland liegen damit weit über dem Niveau von Ländern wie den USA, Kanada oder der Schweiz. Schweizer Beschäftigte sind nur 7,6 Tage pro Jahr krankgeschrieben, die Tendenz ist überdies rückläufig, im Vorjahr betrug die Zahl dort noch 9,2 Tage.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Gleichzeitig warnen Experten davor, zu einfache Erklärungen wie „Blaumachen“ zu akzeptieren. Denn die Daten der Techniker Krankenkasse zeigen, dass neben Erkältungen vor allem psychische Erkrankungen stark zunehmen: Das zweitgrößte Volumen bei Arbeitsunfähigkeitstagen bilden laut TK die psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen oder Angststörungen.
„Hier beobachten wir seit Jahren einen kontinuierlichen Anstieg“, hieß es. Die Fehlzeiten bei den Erwerbstätigen mit einer psychischen Diagnose im ersten Dreivierteljahr 2024 beliefen sich auf durchschnittlich 2,80 Fehltage (Vergleichszeitraum 2019: 2,13).
An dritter Stelle stehen die Krankheiten des Muskelskelettsystems wie Rückenschmerzen. Diese halten sich seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau. 2024 war jede TK-versicherte Erwerbsperson von Januar bis einschließlich September im Schnitt 2,05 Tage mit dieser Diagnose krankgeschrieben, 2019 waren es 2,00 Fehltage.
Krankheitswelle belastet Wirtschaft
Deutschland kränkelt, andere schuften. Das ist zumindest das Bild in vielen weltweit tätigen deutschen Konzernen. Die von der „Techniker Krankenkasse“ vorgelegten Zahlen sind keine Ausnahme. Wie das „Handelsblatt“ schreibt, waren die Beschäftigten des weltweit agierenden Versicherungsunternehmens Allianz im vergangenen Jahr weltweit durchschnittlich 7,8 Tage krank.
In Zentraleuropa, wozu auch Deutschland gehört, lag der Durchschnitt mit 12,3 Tagen fast 60 Prozent höher. In Deutschland sei der Wert noch höher. Allianz-Vorstandschef Oliver Bäte beruft sich dabei auf Zahlen, die der „Verband forschender Arzneimittelhersteller“ (VfA) Anfang des Jahres errechnet hatte.
Oliver Bäte: "Ohne den enorm hohen Krankenstand wäre die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft, sondern um knapp 0,5 Prozent gewachsen.“
Allianz-Chef fordert Mehrarbeit
Wenn man über den Fachkräftemangel als Wachstumsbremse spreche, dann gehe die Debatte am eigentlichen Problem vorbei. „Denn streng genommen hat Deutschland keinen Mangel an Fachkräften. Vielmehr haben wir einen Mangel an Fachkräften, die genug arbeiten können und vor allem motiviert sind, mehr zu arbeiten“, so der Allianz-Vorstandschef Oliver Bäte.
„Wir müssen nun dringend wieder ein Verständnis dafür herstellen, dass unser Wohlstand auch etwas mit dem Willen zu tun hat, sich für den Erhalt dieses Wohlstands anzustrengen.“
Finanzminister Lindner will Abschaffung prüfen
Aktuell wird die Maßnahme von der Bundesregierung überprüft. Finanzminister Christian Lindner gilt als Gegner der telefonischen Krankschreibung. Er hatte bereits Mitte September angekündigt: „Man wird für die Krankmeldung künftig wieder zum Arzt gehen müssen und das nicht einfach telefonisch erledigen können.“
Dass die telefonische Krankschreibung tatsächlich abgeschafft wird, gilt aber als unwahrscheinlich. Denn bisher setzt sich nur Lindners FDP dafür ein.