Deutschen Wirtschaftsnachrichten: Herr Wagner, Bundeskanzler Scholz hat in seiner gestrigen Erklärung zur Vertrauensfrage Christian Lindner die Hauptschuld am Scheitern der Ampel-Koalition gegeben. Wie bewerten Sie diese Schuldzuweisung?
Aiko Wagner: Dass sich die Ampel-Parteien, insbesondere SPD und FDP, gegenseitig die Schuld geben, ist vor dem Hintergrund des Wahlkampfes nachvollziehbar. Wer letztlich welchen Anteil am Scheitern der Regierung hat, ist schwer genau zu bemessen, aber zumindest ist von den anderen Parteien der Ampel bislang kein vergleichbares Papier wie das der FDP bekannt geworden.
DWN: Der Vertrauensfrage vorausgegangen war ein öffentlich gewordenes Strategiepapier der FDP mit dem Titel „D-Day Ablaufszenarien und Maßnahmen”. Es folgte die Entlassung Lindners und schließlich der Bruch der Ampel. Welche Folgen der “D-Day”-Affäre sehen Sie mit Blick auf die anstehenden Neuwahlen für die Liberalen?
Wagner: Affäre ist natürlich ein schwieriger Begriff, aber ich glaube schon, dass es nicht alltäglich ist, die Art und Weise, wie diese Koalition zu ihrem Ende kam. Gerade auch der Umgang der FDP damit. Metaphern wie „D-Day” sind zudem unpassend und offenbaren ein mangelndes Fingerspitzengefühl. Der Begriff „D-Day” steht schließlich für den Beginn der Offensive der Westalliierten gegen den Hitler-Faschismus.
Außerdem: Wenn die FDP sich in dieser Rolle sieht, was bedeutet das dann für die anderen? Der Schaden für die FDP könnte daher erheblich sein, vor allem weil sie ohnehin in einem engen Bereich um die 5-Prozent-Hürde kämpft. Fehlen am Ende ein paar tausend Stimmen, kann es genau dieser Umgang gewesen sein, der entscheidend war. Vielleicht kommt die FDP aber auch auf sechs Prozent und es war egal – das wissen wir nicht.
DWN: Wie schätzen Sie Lindners Position als Parteichef und Spitzenkandidat der Liberalen zum jetzigen Zeitpunkt ein?
Wagner: Lindner sitzt weiterhin fest im Sattel, da es in der FDP keine ernstzunehmende Konkurrenz gibt. Trotzdem steht und fällt seine Karriere mit dem Abschneiden bei den bevorstehenden Neuwahlen. Schafft die FDP den Wiedereinzug in den Bundestag nicht, dürfte Lindners Zeit als Parteichef beendet sein. Die FDP ist derzeit stark auf seine Person zugeschnitten – das birgt Chancen, aber auch erhebliche Risiken.
DWN: Haben die Liberalen damit überhaupt eine Chance auf die Rückgewinnung ihrer Kernwählerschaft?
Wagner: Die FDP war einmal zweigleisig aufgestellt: wirtschaftsliberal und bürgerrechtsliberal. Letzteres ist unter Lindner stark in den Hintergrund getreten. Die FDP muss glaubhaft vermitteln, dass sie ein liberales Korrektiv zur Union bleibt – das unterscheidet sie von der CDU. Hinzu kommt: Die Machtoption Schwarz-Gelb scheint aktuell unrealistisch. Wenn dieses Szenario wegfällt, verlieren viele konservative Wähler die Motivation, ihre Stimme der FDP zu geben.
DWN: Wie sind Ihrer Meinung nach die Chancen der FDP für eine Regierungsbeteiligung nach der nächsten Bundestagswahl?
Wagner: Die FDP könnte Teil einer Koalition werden, aber das hängt stark von den Mehrheitsverhältnissen ab. Schwarz-Gelb erscheint aktuell unrealistisch. Zudem fehlt der FDP ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn sie weiterhin nur die Schuldenbremse verteidigt, wird sie Schwierigkeiten haben, sich von der Union abzugrenzen.
DWN: Ist die kommende Bundestagswahl womöglich die letzte Chance der Liberalen für einen Neuanfang?
Wagner: Ein liberaler Ansatz – wirtschaftlich rechts, gesellschaftlich progressiv – hat durchaus Potenzial. Doch die FDP schafft es momentan nicht, diese Nische glaubhaft zu besetzen. Ein Teil der Bevölkerung wünscht sich weniger Staat in der Wirtschaft und im Privatleben. Wenn die FDP das nicht aufgreift, wird sie von anderen Parteien überholt.
DWN: Warum spielt das Thema Migration bei der FDP kaum eine Rolle, obwohl es die Gesellschaft so stark bewegt?
Wagner: Das Thema Migration ist komplex für die FDP. Einerseits entspricht Freizügigkeit ihrem liberalen Weltbild, andererseits sehen Teile ihrer Wählerschaft Migration kritisch. Die FDP kann hier wenig gewinnen: Wenn sie Migration als Problem thematisiert, stärkt das nur die AfD, die dieses Thema politisch besetzt. Dethematisierung ist daher aus strategischer Sicht für die FDP momentan vielleicht der sicherste Weg.
DWN: Polarisierung, Fragmentierung und der Aufstieg extremistischer Parteien – wie beurteilen Sie den aktuellen politischen Diskurs in Deutschland und den Zustand der Demokratie?
Wagner: Stress und Herausforderungen gehören zur Demokratie dazu. Wären wir uns alle einig, bräuchten wir keine Konfliktlösungsmechanismen. Das Problem ist eher, dass Parlamente fragmentierter werden und Koalitionsbildungen schwieriger sind. Dazu kommen extremistische Parteien wie die AfD, die demokratiefeindliche Tendenzen stärken. Es braucht neue Kooperationsmechanismen und ein Umlernen der politischen Eliten, um mit diesen Realitäten umzugehen. Das ist kein spezifisch deutsches Problem, sondern betrifft fast alle etablierten Demokratien.
DWN: Sie sprachen von neuen Kooperationsmechanismen, die notwendig sind. Sollte der CSU-Vorsitzende Söder in diesem Zusammenhang sein “Nein” zu einer Koalition mit den Grünen überdenken?
Wagner: Markus Söder verfolgt Interessen, die nicht zwangsläufig deckungsgleich mit denen der Bundes-CDU oder denen von Friedrich Merz sind. Söder spielt ein anderes Spiel. Dass eine Koalition zwischen Union und Grünen grundsätzlich ausgeschlossen ist, stimmt faktisch nicht. Gerade eine grüne Partei, die moderat ist und vom Realo-Flügel dominiert wird, kann durchaus auch für die Union ein Partner sein. Was Söder hier erzählt, ist strategisch motiviert und nicht inhaltlich begründbar. Die Union und die Grünen koalieren ja bereits erfolgreich in vielen Bundesländern. Das zeigt, dass Schwarz-Grün längst erprobt ist und funktioniert.
DWN: Was heißt das für die Union als Ganzes – droht der Partei eine Spaltung zwischen pragmatischen Kräften und strategischen Hardlinern wie Söder?
Wagner: Die politische Realität ist heute fragmentierter, es braucht neue Mehrheiten, die lagerübergreifend zustande kommen. Alte Gewissheiten gelten nicht mehr. Es ist legitim, dass Söder strategisch agiert, aber es ist auch klar: Wir werden in Zukunft nicht mehr die klassischen Zweierbündnisse wie früher erleben. Es wird neue Kooperationsmechanismen brauchen, um mit dieser Situation umzugehen. Die politischen Eliten müssen sich darauf einstellen und umlernen. Das mag für viele, die in anderen Zeiten sozialisiert wurden, ungewohnt sein – aber genau das wird die Herausforderung der kommenden Jahre sein.
DWN: Herr Wagner, vielen Dank für das Gespräch.
Info zur Person: Aiko Wagner, Jahrgang 1982, ist Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. 2012 promovierte er mit einer Arbeit zum strategischen Wählen in verschiedenen Wahlsystemen, und 2020 habilitierte er sich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Parteienforschungund der Analyse von Wahlverhalten. Wagner war viele Jahre Teil der German Longitudinal Election Study (GLES) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er hat zahlreiche Publikationen zu Themen wie Populismus, Wahlverhalten und politische Repräsentation verfasst.