Wirtschaft

Top-Ökonomin: China wird langfristig zur größten Volkswirtschaft

China wird zur größten Volkswirtschaft der Welt und überholt die Vereinigten Staaten. Dies ist die Prognose der führenden chinesischen Wirtschaftsexpertin Keyu Jin in einem Interview mit dem dänischen Wirtschaftsblatt Børsen (Bonnier). Die Ökonomin sieht dennoch großen Bedarf an strukturellen Reformen, einem stärkeren Binnenkonsum und technologischen Investitionen im Reich der Mitte.
19.03.2025 15:59
Lesezeit: 4 min

Seit 40 Jahren wird immer wieder prophezeit, dass Chinas Wirtschaft ihren Zenit überschritten habe und der Abschwung bevorstehe. Doch bislang hat sich das als Irrtum erwiesen – Chinas Wirtschaft ist weiter gewachsen. Nun wird die Debatte erneut geführt: Droht China ein Jahrzehnt ohne Wachstum, ähnlich wie Japan? Wird die Immobilienkrise zu einer umfassenden Wirtschaftskrise? Die renommierte Ökonomin Keyu Jin, Professorin an der Hong Kong University of Science and Technology, sieht die düsteren Prognosen skeptisch. „Es herrscht übermäßiger Pessimismus hinsichtlich der chinesischen Wirtschaft“, sagt sie in einem Interview mit der dänischen Wirtschaftszeitung Børsen (Bonnier).

Keyu Jin gilt als eine der weltweit führenden China-Ökonominnen. Sie wird regelmäßig in internationalen Wirtschaftsmedien wie der Financial Times zitiert und hat akademische Stationen an Harvard und der London School of Economics durchlaufen. Vergangene Woche war sie in Kopenhagen, um am McKinsey-Børsen-Gipfel teilzunehmen. Dort stellte man ihr eine zentrale Frage: Wird China die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen? Ihre Antwort: „Ja.“ Der Westen habe Chinas wirtschaftlichen Zusammenbruch seit Jahrzehnten vorhergesagt, erklärt sie. Doch das Land habe in dieser Zeit ein beispielloses Wachstum erlebt.

Die Immobilienkrise und das Vertrauen der Verbraucher

Ein zentrales Problem bleibt der krisengeschüttelte Immobilienmarkt in China, so Keyu Jin. Jahrelang wurde übermäßig investiert, eine Blase entstand, und die Regierung versucht nun, diese kontrolliert abzubauen. Luft entweicht zwar noch, aber die Ökonomin ist zuversichtlich: In drei bis fünf Jahren werde sich die Wirtschaft stabilisieren, und der Immobiliensektor werde eine geringere Rolle spielen – zugunsten zukunftsorientierter Branchen, insbesondere im Technologiebereich. Allerdings hat die Immobilienkrise eine Vertrauenskrise ausgelöst. Die chinesischen Verbraucher sind zurückhaltend, sparen statt zu konsumieren. Doch Konsum ist entscheidend – gerade in Zeiten geopolitischer Spannungen, in denen China weniger auf den Export angewiesen sein sollte. „Es ist leicht, Vertrauen in eine Wirtschaft zu zerstören – es wiederherzustellen ist viel schwieriger“, warnt Keyu Jin. Die Regierung sei sich dessen bewusst. Tatsächlich hat sie kürzlich angekündigt, den privaten Konsum mit einem neuen Wirtschaftsplan gezielt anzukurbeln.

Doch laut Jin agiert die Regierung hier unentschlossen: „Sie weiß nicht genau, wie der private Konsum am effektivsten gefördert werden kann.“ Ein Vergleich mit den USA zeigt die unterschiedlichen Herangehensweisen: Während der Coronakrise verteilte die US-Regierung großzügige Schecks an die Bevölkerung – mit der Folge steigender Inflation. China hingegen setzt auf einen vorsichtigen, schrittweisen Ansatz. Die Regierung zögert nicht aus Unwissenheit, sondern aus Kalkül, meint Jin: „China will nicht den Fehler der Amerikaner wiederholen und eine neue Schuldenblase schaffen.“ Das zentrale Problem: Wie lässt sich Wachstum ankurbeln, ohne eine neue Schuldenkrise zu provozieren? Die Regierung hat bereits Finanzspritzen gegeben, doch diese waren bislang zu gering, um eine spürbare Konsumsteigerung zu bewirken.

Ein Balanceakt zwischen Wachstum und Schulden und das ungenutzte Potenzial der Bevölkerung

China steht vor einem schwierigen Kompromiss: Einerseits muss das Wachstum aufrechterhalten werden, andererseits will man keine neue Schuldenwelle auslösen. Sollte sich die Lage weiter verschlechtern, werde die Regierung jedoch nicht zögern, „alles zu tun, was nötig ist“, so Jin – eine Anspielung auf die berühmten Worte des früheren EZB-Chefs Mario Draghi. Mögliche Maßnahmen könnten eine massive Liquiditätszufuhr für den Aktienmarkt, Rettungsaktionen für strauchelnde Unternehmen und Schuldenerlasse für private Unternehmen sowie lokale Regierungen sein. Ein weiteres Problem ist die Funktionsweise des chinesischen Finanzsystems. Obwohl geldpolitische Anreize geschaffen wurden, gelangen diese nicht in ausreichendem Maße zur Realwirtschaft. Banken bevorzugen die Kreditvergabe an staatliche Unternehmen, während private Unternehmen und Verbraucher oft leer ausgehen. „Solange die Menschen keine nachhaltigen Lohnerhöhungen und Arbeitsplatzsicherheit erleben, werden sie ihr Geld nicht ausgeben“, erklärt Jin.

Ein entscheidender Schlüssel für Chinas wirtschaftliche Zukunft liegt laut Jin in der Binnennachfrage – insbesondere in den einkommensschwachen Schichten. China hat 300 Millionen Wanderarbeiter und 500 Millionen Landarbeiter, die wenig soziale Absicherung und kaum Rentenansprüche haben. Diese Gruppen sparen, statt zu konsumieren. Die Lösung? Investitionen in die ländlichen Gebiete, den Ausbau der Infrastruktur und neue wirtschaftliche Impulse in diesen Regionen.

Ein Wandel in der Wirtschaftspolitik?

Ein weiteres Element, das Chinas Wirtschaft beeinflusst, ist die Rolle der lokalen Regierungen. Jahrzehntelang wurden Bürgermeister primär an der Wachstumsrate ihrer Städte gemessen. Heute müsste der Fokus stärker auf der Förderung des privaten Konsums liegen, argumentiert Jin. Die Regierung hat bereits reagiert und einen „Sonderaktionsplan zur Ankurbelung des Konsums“ vorgestellt, der unter anderem höhere Mindestlöhne, bessere Bildungschancen und eine stärkere Kinderbetreuung vorsieht.

Die Frage ist nicht nur, ob China wächst, sondern wie dieses Wachstum zustande kommt. „Es geht darum, ob wir Immobilien abreißen und neu bauen – oder ob wir Wachstum durch Produktivität und steigenden privaten Konsum erzielen“, sagt Jin. Die OECD prognostiziert für China ein Wachstum von 4,8 Prozent in diesem Jahr und 4,4 Prozent im nächsten. Keyu Jin hält selbst ein niedrigeres Wachstum für akzeptabel, solange es qualitativ hochwertig sei.

China ist nicht Japan

Einige Ökonomen, darunter Michael Pettis von der Peking-Universität, warnen, China könnte das Schicksal Japans erleiden und in eine lange Phase des Stagnierens geraten. Jin widerspricht: „Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede.“ China sei heute ärmer, als es Japan damals war, habe aber noch erhebliches Wachstumspotenzial. Während Japans Immobilienblase abrupt platzte, werde Chinas Blase kontrolliert abgebaut. Zudem sei Chinas Finanzsystem robuster, und das Land investiere massiv in Technologien, die die Produktivität steigern könnten. Abschließend gibt Jin zu bedenken: „Wenn Chinas Wirtschaftsmodell so schlecht ist, warum ähnelt das US-Wirtschaftsmodell mit seiner hohen Staatsverschuldung und Industriepolitik immer mehr dem chinesischen Modell?“ Chinas Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen – aber auch vor enormen Chancen. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob es dem Land gelingt, einen neuen wirtschaftlichen Kurs zu finden.

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