Wie könnte der Wiederaufbau finanziert werden?
Die Tragödie ereignete sich kurz vor 22 Uhr – 11 Uhr morgens am Palmsonntag. Zwei russische Raketen schlugen mitten auf einer belebten Straße in der Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine ein.
Auf Videos, die Anwohner unmittelbar nach dem Angriff aufnahmen, sind zerstörte Gebäude der Universität, brennende Fahrzeuge und ein völlig zerfetzter Linienbus zu sehen. Überlebende werden aus den Trümmern geborgen, während in ausgebrannten Autos verkohlte Leichen am Steuer zurückbleiben.
Mindestens 35 Menschen, darunter zwei Kinder, kamen bei dem Angriff ums Leben.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor über drei Jahren wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 12.000 Zivilisten getötet. Hinzu kommt die massive Zerstörung von Wohnhäusern, Krankenhäusern, Schulen, Energieanlagen und Verkehrsinfrastruktur – Schäden, die laut Weltbank Kosten von mindestens 150 Milliarden Euro verursachen werden.
Ein naheliegender Gedanke
Angesichts dieser Zahlen stellt sich eine naheliegende Frage: Könnte der Wiederaufbau der Ukraine mit russischem Vermögen finanziert werden?
Genau das fordern viele Unterstützer der Ukraine. Im Fokus stehen rund 260 Milliarden Euro, die der russischen Zentralbank gehören und von der EU, den USA, Großbritannien, Kanada, Japan und Australien seit Kriegsbeginn eingefroren wurden.
„Wenn wir über russisches Vermögen in dieser Größenordnung verfügen, warum nutzen wir es nicht für den Wiederaufbau der von russischen Raketen zerstörten Regionen?“, fragte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Doch so einfach ist es nicht – und das liegt vor allem am internationalen Recht.
Ein riskanter Weg
Der Traum von einer milliardenschweren Finanzierung des Wiederaufbaus könnte sich schnell in einen politischen Albtraum verwandeln. Denn eine direkte Beschlagnahmung russischer Zentralbankgelder wäre ein beispielloser Schritt. Kritiker sprechen von einem gefährlichen Präzedenzfall, der den Rechtsfrieden unter Staaten bedrohen und Vertrauen in europäische Finanzsysteme erschüttern könnte.
Der Druck auf die EU wächst dennoch. In Brüssel ist die Diskussion über die Nutzung dieser Gelder längst keine theoretische mehr. Immer mehr Länder, darunter auch einige, die sich früher strikt dagegen aussprachen, rücken von ihrer ablehnenden Haltung ab. Die EU-Kommission arbeitet mit Regierungen in Paris, London und anderswo an einer rechtlichen Grundlage, um die Mittel nutzbar zu machen.
„Die Arbeit läuft“, erklärte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas im Februar. „Am Ende wird sich jeder fragen: Warum sollen unsere Steuerzahler die Rechnung für die Zerstörung durch Russland tragen?“
Europa könnte bald allein dastehen
Ein weiteres Argument für die Nutzung der eingefrorenen Gelder: Europa könnte bald nahezu allein für die Ukraine verantwortlich sein. Der neue US-Präsident Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass er Europa stärker in die Pflicht nehmen will. Kommt es zu einem Friedensschluss – möglicherweise zu russischen Bedingungen – müsste Europa die Last von Wiederaufbau, Verteidigung und Stabilisierung der Ukraine allein schultern.
Vor allem deshalb rückt das russische Zentralbankvermögen ins Zentrum der europäischen Strategie. Ein Großteil – rund 191 Milliarden Euro – liegt in Belgien, beim Finanzdienstleister Euroclear.
Bereits 2024 hatte die EU gemeinsam mit der G7 beschlossen, die Zinserträge aus den eingefrorenen Geldern für einen Kredit an die Ukraine in Höhe von 45 Milliarden Euro zu verwenden.
Rechtliche Grauzonen und politische Risiken
Doch noch immer ist umstritten, ob internationale Gesetze überhaupt die Beschlagnahmung von Zentralbankvermögen zulassen. Einige Rechtsexperten sehen einen gangbaren Weg – etwa über die Einrichtung eines internationalen Treuhandfonds, der das Geld treuhänderisch verwaltet und für den Wiederaufbau einsetzt, sollte Russland sich weiterhin weigern, für die Zerstörung aufzukommen.
Andere warnen: Jede Option, bei der Zentralbankgeld als Sicherheit dient, sei mit erheblichen Risiken verbunden – sowohl rechtlich als auch geopolitisch.
Die Stimmung kippt
Noch ist eine Beschlagnahmung nur mit der Einstimmigkeit aller 27 EU-Mitgliedstaaten möglich. Länder wie Polen, die baltischen Staaten, Finnland und Spanien unterstützen den Vorschlag bereits offen. Auch die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen spricht sich dafür aus, „solange die rechtliche Grundlage stimmt“.
Ein hochrangiger EU-Diplomat brachte es kürzlich auf den Punkt: „Niemand hält die Idee noch für lächerlich. Wir haben nur ein sehr kleines Zeitfenster.“ Gleichzeitig mahnte er zur „Lastenteilung“ der Risiken – besonders mit Blick auf Belgien, das bei einer Beschlagnahmung rechtlich im Mittelpunkt stehen würde.
Ein gefährlicher Präzedenzfall?
Gegner des Plans warnen davor, das Vertrauen in die EU als sicheren Anlageort zu zerstören. Die EZB befürchtet, dass Drittstaaten ihre Gelder aus Europa abziehen könnten. Christine Lagarde betonte: „Der Schritt vom Einfrieren zur Beschlagnahmung muss sehr sorgfältig geprüft werden.“
Zudem droht eine diplomatische Gegenreaktion: Wenn die EU ausgerechnet der internationalen Rechtsordnung zuwiderhandelt, die sie sonst weltweit verteidigt, könnte der Vorwurf der Doppelmoral laut werden – insbesondere von Ländern außerhalb des westlichen Bündnisses.
Belgien und Ungarn bremsen – Frankreich und Deutschland suchen Lösungen
Besonders Belgien zeigt sich bislang entschieden ablehnend. Premierminister Bart De Wever nannte die Beschlagnahmung gar eine „Kriegshandlung“ und warnte: „Wir leben nicht in einer Fantasiewelt. Es hat Konsequenzen, wenn man jemandem 200 Milliarden Euro wegnimmt.“
Auch Ungarns Premier Viktor Orbán steht auf der Bremse und droht, eine Verlängerung der Sanktionen gegen Russland zu blockieren. Damit stellt sich die Frage, ob Brüssel überhaupt weiter auf Einstimmigkeit setzen kann – oder alternative Wege finden muss.
Gleichzeitig arbeiten Deutschland und Frankreich an kreativen Ansätzen: Laut Financial Times wird über einen Mechanismus verhandelt, der die Gelder als Sicherheit für Kredite nutzen würde – etwa für den Fall, dass Russland ein künftiges Waffenstillstandsabkommen bricht.
Alles hängt am politischen Willen
Eines ist klar: Das russische Geld in Europa könnte den Unterschied machen – zwischen einem schmerzhaften und einem machbaren Wiederaufbau der Ukraine.
Doch die Frage bleibt: Hat Europa den Mut, den nächsten Schritt zu gehen?
Denn so verlockend die Milliarden auch sind – ihre Nutzung ist ein politischer, juristischer und moralischer Kraftakt. Und noch zögern viele. Doch die Zeit läuft. Und die Ukraine wartet.