Kein Trabant, kein Wartburg – dafür Multicar. Waltershausen in Thüringen war zwar kein Zentrum der volkseigenen Pkw-Produktion in der einstigen DDR, doch bei kompakten Nutzfahrzeugen schrieb Multicar in Waltershausen ostdeutsche Technikgeschichte. Und zwar eine einmalige.
Die Wurzeln von Multicar reichen bis ins Jahr 1920 zurück. Damals gründeten der Ingenieur Arthur Ade und der Kaufmann Hermann Irrgang die Maschinenfabrik Hörselgau im Saal des örtlichen Gasthauses. Schon wenige Jahre später siedelte das expandierende Unternehmen ins vier Kilometer entfernte Waltershausen um. Anfangs entstanden dort Anhängeraufbauten und Bremsanlagen, ehe 1956 mit der „Dieselameise“ ein erster kompakter Transporter gefertigt wurde, der Vorläufer des Multicar. Seit 1959 ist der Markenname offiziell registriert.
Paris ließ seine Boulevards mit Multicars reinigen
In Waltershausen begann 1958 schließlich die Produktion des Multicar, eines kompakten Transporters mit damals revolutionärer Trittbrettlenkung. Was mit der sogenannten Dieselameise DK4 begann, entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zum Exportschlager.
Ab 1978 wurde der Multicar M21 in großer Stückzahl gefertigt, insbesondere der Typ M25. Über 100.000 Fahrzeuge wurden in Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem damaligen Wirtschaftsverbund sozialistischer Staaten in Osteuropa, und nach Westeuropa geliefert. Paris ließ seine mondänen Boulevards mit Multicars reinigen. Und selbst Russlands Präsident Wladimir Putin soll einen Multicar für seine Datscha vor den Toren Moskaus besessen haben.
Mit seinem charakteristischen Erscheinungsbild, kompakt, robust und mit den typischen Rundscheinwerfern, wurde Multicar bald zum Inbegriff ostdeutscher Zweckmäßigkeit. Das Fahrzeug war nicht nur nützlich, sondern auch identitätsstiftend. Kaum ein Kind in der DDR, das Multicar nicht kannte, sei es als Spielzeug oder echtes Fahrzeug im Sandmännchen-Vorspann.
Management-Buy-Out als Befreiungsschlag
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1989 stand die Marke vor dem Aus. Der wirtschaftliche Schock der Transformation traf auch das VEB Fahrzeugwerk Waltershausen mit voller Wucht. Manfred Windus, damals Direktor für Materialwirtschaft bei Multicar, erkannte frühzeitig den Ernst der Lage: „Ich habe Briefe an westdeutsche Firmen geschrieben und sie eingeladen“, erinnert sich Windus im MDR. „Die kamen auch alle, aber meine Mitarbeiter erklärten mich für verrückt.“
Nach ersten Gesprächen vermittelte die Treuhandanstalt, zwischen 1990 und 1994 zuständig für die Privatisierung von rund 14.000 volkseigenen DDR-Betrieben, einen Management-Buy-Out (MBO). Viele Ostbetriebe scheiterten an Kapitalmangel oder fehlenden Konzepten, nicht so in Waltershausen: Manfred Windus und Kollege Walter Botschatzki, beide mittlerweile Geschäftsführer, wagten gemeinsam den Schritt.
Die Treuhand legte den beiden recht bald nahe, selbst ein MBO durchzuführen: „Also Leute, wir haben das Gefühl, ihr beherrscht das persönlich recht gut”, erinnert sich Windus lachend, “wir empfehlen euch, ein Management Buy Out zu machen.” Multicar sei daraufhin nicht für eine symbolische D-Mark gekauft worden, sondern, wie Windus sagt, „war es ein einstelliger Millionenbetrag“.
Die Deutsche Bank stieg als Beteiligungsgesellschaft ein, verhandelte den Kaufpreis mit der Treuhandanstalt und übernahm die Altschulden von Multicar. „Die Deutsche Bank erreichte, dass wir von unseren Altschulden entlastet wurden.” Sämtliche DDR-Betriebe hatten bis 1990 Kredite gegenüber der Staatsbank der DDR, der Zentralbank der Deutschen Demokratischen Republik, auch Multicar.
Windus erinnert sich an den Moment, als der Kredit gewährt wurde: „Ich hatte das Geld, einen sechsstelligen Betrag, auf meinem Konto, bevor ich den Vertrag überhaupt unterschrieben hatte. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Doch zwei Tage später sei das Geld bereits zur Treuhand geflossen.
Der Wirtschaftshistoriker Dr. Matthias Judt ordnete das Vorgehen rückblickend so ein: „Hier wäre es von der Politik besser gewesen, ehemaligen DDR-Bürgern ganz bewusst zu helfen, ihre Betriebe, in denen sie bisher Betriebsdirektoren waren, zu übernehmen, fortzuführen und dafür Kapital zur Verfügung zu stellen.“ Im Fall Multicar sei das geglückt.
Vom Staatsauftrag zum Kundenwunsch
Multicar fertigte fortan bedarfsgerecht nach Kundenwunsch, ein Paradigmenwechsel in der Produktion. Das Prinzip „Auftrag vor Produktion“ wurde zum strategischen Eckpfeiler und verschaffte dem kleinen Hersteller eine beachtliche Resilienz gegenüber Marktschwankungen. Bereits 1991 stellte Multicar auf der Hannover Messe ein Fahrzeug mit westdeutschem Standard vor, ein psychologisch wichtiger Schritt: Der kleine Betrieb aus Thüringen war wieder auf Augenhöhe.
In den Jahren nach dem Management-Buy-Out erzielte Multicar erste wirtschaftliche Erfolge. So wurde 1995 ein Gewinn von 0,5 Millionen DM erzielt, bei einem Absatz von rund 1.400 Fahrzeugen. Doch gegen Ende der 1990er Jahre geriet das Unternehmen zunehmend unter Druck: Im Jahr 2000 sank der Umsatz um 7,9 Prozent, was die Geschäftsführung auf ein schwaches Investitionsklima in Ostdeutschland zurückführte.
1998 übernahm die Hako GmbH, ein Kommunaltechnik-Spezialist aus Bad Oldesloe, die Mehrheit an Multicar. Hako integrierte den Thüringer Standort in die eigene Produktstrategie und entwickelte Waltershausen gezielt zum Kompetenzzentrum für kommunale Geräteträger weiter. Im Rahmen dieser Integration wurden nicht nur frisches Kapital und technisches Know-how eingebracht, sondern auch neue Produktlinien wie TREMO und UX 100 nach Thüringen verlagert. In Kooperation mit Krauss-Maffei Wegmann entstand zudem das Bundeswehr-Spezialfahrzeug ESK Mungo.
Heute gehört Hako zur Possehl-Gruppe und erzielte im Jahr 2023 einen Umsatz von rund 340 Millionen Euro. Trotz rückläufiger Gewinne, von einem Hoch bei 25 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 17 Millionen im Jahr 2023, steht das Unternehmen wirtschaftlich solide da. Fördermittel in Höhe von rund zwei Millionen Euro in den Jahren 2017 bis 2019 unterstützten weitere Innovationsschritte.
Kommunaler Bedarf, modular gedacht
Vor diesem Hintergrund ist die Rolle von Multicar als spezialisierte Marke innerhalb der Hako-Gruppe besonders bemerkenswert. Waltershausen besetzt als Fertigungsstandort eine Marktnische, die große Anbieter wie Daimler nicht flexibel genug bedienen können: maßgeschneiderte, modulare Fahrzeuglösungen für kommunale Anwendungen.
Aus dem ehemaligen DDR-Nutzfahrzeug wurde unter dem Dach von Hako ein Hightech-Geräteträger für den kommunalen Einsatz. In Waltershausen entstehen Fahrzeuge mit Allradantrieb, modifizierbarer Hydraulik und über 300 kompatiblen Aufbauten, von der Kehrmaschine über den Schneepflug bis zur Fäkaliensauganlage.
Eberhard Schatt, seit 1979 im Unternehmen und heute für die Verkaufsförderung zuständig, beschreibt das Konzept so: „Ein Fahrzeug, ein ganzer Fuhrpark.“ Die aktuellen Baureihen M27compact, M29, M31 und Fumo decken praktisch alle Einsatzbereiche in Kommunen ab – individuell konfigurierbar und innerhalb von acht bis zehn Wochen lieferbar.
Produziert wird in Waltershausen ausschließlich auf Bestellung: “In etwa acht bis zehn Wochen nach Auftrag ist alles individuell lieferbar”, so Schatt. Die meistgewählte Farbe bleibt Kommunalorange RAL 2011, doch auch Pink ist möglich. Die Produktionsweise kombiniert Serienfertigung mit Manufakturelementen: hohe Fertigungstiefe, Einzelstückanpassung, persönliche Kundenbetreuung. In Zeiten globaler Lieferkettenkrisen zahlt sich diese Flexibilität aus.
Kaugummientfernung kostet Städte bis zu 900 Millionen Euro jährlich
Der Standort Waltershausen zählt heute rund 170 Mitarbeitende. In DDR-Zeiten waren es noch 800. Doch trotz schrumpfender Belegschaft hat Multicar den Wandel gemeistert: mit hoher Fertigungstiefe, Flexibilität und Spezialisierung auf Fahrzeuge unter 6 Tonnen Gesamtgewicht, ein Segment, das internationale Großanbieter kaum bedienen.
Multicar-Fahrzeuge sind heute auf Flughäfen, Baustellen und in über 30 Ländern im Einsatz. Doch das Rückgrat ist der kommunale Markt. Städte wie Hamburg, Leipzig oder Erfurt setzen auf den Multicar. Die Gründe: extreme Wendigkeit, schnelle Umrüstbarkeit und ein Fuhrpark-Service aus einer Hand. Ersatzteile sind auch für Altmodelle aus DDR-Zeiten noch verfügbar. Ein Verkaufsargument, das in Zeiten von Nachhaltigkeit und Budgetdruck immer mehr zieht.
Allein für die Entfernung von Kaugummi geben deutsche Kommunen jährlich geschätzt rund 900 Millionen Euro aus. Auf einem Quadratmeter Innenstadtfläche kleben bis zu 80 Stück, und die Entfernung jedes einzelnen kostet rund einen Euro.
Erfolgsfaktoren Identifikation und Kontinuität
Multicar verdankt seinen Fortbestand nicht nur strategischen Entscheidungen, sondern auch einer besonderen Unternehmenskultur. Viele der Beschäftigten sind seit Jahrzehnten im Betrieb, einige sogar seit DDR-Zeiten. Im MDR erinnert sich Manfred Windus: „Die meiste Zeit meines Lebens habe ich damit verbracht, Versorgungsprobleme zu lösen. Hat mir Spaß gemacht, es war nicht langweilig.“ Windus weiter: „Wir haben diese Zeit der Euphorie auf der westdeutschen Seite auch gnadenlos für uns genutzt.“
Dieser Geist, pragmatisch, anpassungsfähig, mit regionaler Bodenhaftung, prägt Multicar bis heute. Die Marke steht damit exemplarisch für eine gelungene Transformation: Aus einem volkseigenen Betrieb wurde ein marktfähiger Mittelständler mit internationaler Präsenz.
Der SPIEGEL, 1993 für eine Reportage bei Multicar in Waltershausen, illustrierte diesen Geist mit einer Szene, die bis heute sinnbildlich ist: Als ein russischer Kombinatsdirektor während einer Werksbesichtigung die Qualität der Fahrzeuge lobte und begeistert fragte, wie viele Multicars pro Schicht gebaut würden, zeigte Geschäftsführer Walter Botschatzki zehn Finger in die Luft. Der Russe staunte: „10.000?“, worauf Botschatzki nüchtern erwiderte: „Nein, zehn.“ Die Szene steht exemplarisch für das realistische Selbstverständnis in Waltershausen.
Das Magazin berichtete damals auch von einer weiteren Stärke des Unternehmens: dem Verzicht auf Überflüssiges. „Der Kunde bekommt bei uns einfach seine Problemlösung“, sagte Botschatzki. „Was er nicht braucht, lassen wir weg.“
Multicar
Die Geschichte von Multicar reicht bis ins Jahr 1958 zurück, als im VEB Fahrzeugwerk Waltershausen die Produktion des ersten Modells DK4 begann – besser bekannt als „Dieselameise“. 1978 folgte der Start der Serienfertigung des Multicar M25, der über 100.000 Mal gebaut und in mehr als 40 Länder exportiert wurde. Im Jahr 1991 gelang Manfred Windus, damals Direktor für Materialwirtschaft, und dem Technischen Leiter Walter Botschatzki mit Unterstützung der Deutschen Bank ein Management-Buy-Out. Nach dem Ausstieg der Bank übernahm 1998 die Hako GmbH, ein Kommunaltechnik-Spezialist aus Bad Oldesloe, das Unternehmen. Seither entstehen in Waltershausen moderne Geräteträger wie M27compact, M29, M31 und Fumo für den kommunalen Ganzjahreseinsatz.