Politik

Experte fürchtet politischen Schock in Europa: „Es ist tatsächlich beängstigend“

Europa taumelt: Rechte Parteien sind auf dem Vormarsch, Frankreich droht der Machtwechsel. Experte Rahman warnt: Das „Trump-Moment“ steht vor der Tür – auch in Deutschland.
28.06.2025 17:27
Lesezeit: 6 min
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Experte fürchtet politischen Schock in Europa: „Es ist tatsächlich beängstigend“
„Ich kann mir kein EU-Europa vorstellen, wie wir es heute kennen, mit einer Präsidentin Le Pen“, betont Rahman, Geschäftsführer für Europa beim Risikoberatungsunternehmen Eurasia Group. (Foto: dpa) Foto: Julien De Rosa

Rechte Parteien auf dem Vormarsch: Europa wankt

Wie ist der Status in Europa nach dem ersten halben Jahr mit Trump zurück im Weißen Haus? Wohl nur wenige sind besser geeignet, das einzuschätzen, als Mujtaba Rahman. Als Geschäftsführer für Europa beim Risikoberatungsunternehmen Eurasia Group hat er seinen Sitz in London, doch in diesem Frühjahr verbrachte er Zeit in mehreren europäischen Hauptstädten, unter anderem in Berlin und Brüssel.

Die Eurasia Group verfügt über sieben Büros auf vier Kontinenten. Zu den Kunden zählen unter anderem Hedgefonds, Pensions- und Versicherungsgesellschaften sowie große US-amerikanische und multinationale Unternehmen. Die Experten der Eurasia Group sind auch regelmäßig in internationalen Medien präsent. Ihr Geschäftsfeld ist die Analyse geopolitischer Szenarien und Risiken. Und jetzt geht es um den politischen Zustand Europas.

Im Exklusivinterview mit der dänischen Zeitung Borsen kommen einige wichtige Dinge ans Licht. Während seines Aufenthalts in Kopenhagen hat Mujtaba Rahman sowohl Termine mit Privatkunden als auch Kontakte innerhalb der dänischen Regierung. Außerdem spricht er auf einer Konferenz des Thinktanks Europa und gibt dieses Interview.

Wie gelingt es den europäischen Ländern, mit Trump 2.0 umzugehen? Und kann man überhaupt von einer Bestandsaufnahme sprechen, wenn der Nachrichtenfluss permanent auf Höchstgeschwindigkeit läuft?

Drei Wahlergebnisse

Hier die harten Fakten über die Wahlen, die seit Januar stattgefunden haben:

  • In Deutschland hat Kanzler Merz das Ruder übernommen – mit einer neuen Regierung und einer hauchdünnen Mehrheit.
  • In Rumänien endete eine turbulente Präsidentschaftswahl mit dem Sieg des gemäßigten Kandidaten über einen Herausforderer von der äußersten Rechten.
  • In Polen verlief es genau umgekehrt: Der Kandidat der Rechten gewann gegen einen gemäßigten Kontrahenten, der zuvor in den Umfragen leicht vorne gelegen hatte.
  • In Portugal endeten die Parlamentswahlen ohne klare Mehrheitsverhältnisse – unter anderem weil die rechte Partei Chega massiv zulegte und zweitstärkste Kraft wurde.

In mehreren europäischen Ländern bleiben Parteien von ganz rechts weiterhin stark:

  • In Frankreich führen die rechten Kandidaten mit Blick auf die Präsidentschaftswahl in knapp zwei Jahren.
  • In Deutschland belegt die AfD den zweiten Platz, lag aber im Frühjahr in einzelnen Umfragen sogar als stärkste Partei vorn.
  • In Großbritannien hat sich die rechte Reformpartei an die Spitze der Umfragen geschoben.

Mujtaba Rahman warnt: Europa sei jederzeit „nur eine Wahl“ von einer Situation entfernt, in der die nationalistischen oder rechtspopulistischen Kräfte die Macht in einem der größten und einflussreichsten Länder übernehmen. Europa könnte sein eigenes „Trump-Moment“ schneller erleben, als viele glauben. Und das könnte unabsehbare Konsequenzen haben.

Französisches Patt

Das Interview beginnt dort, wo die Lage derzeit am kritischsten erscheint: in Frankreich. Eine schwache Mitte-Regierung unter Premierminister François Bayrou wird kaum eine lange Lebensdauer eingeräumt. Und Frankreich verzeichnete im vergangenen Jahr ein Haushaltsdefizit von 5,8 Prozent des BIP – weit über der formalen EU-Obergrenze von 3 Prozent. Bayrou versucht, Einsparungen zu finden. Gelingt das nicht, könnte das Defizit in diesem und im nächsten Jahr erneut viel zu hoch ausfallen.

„Das finanzpolitische Gesamtbild ist ein einziges Durcheinander, und innenpolitisch ist er verwundbar“, sagt Mujtaba Rahman, Europachef der Eurasia Group.

Der liberale Präsident Macron befindet sich in der zweiten Hälfte seiner zweiten Amtszeit und darf bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2027 nicht erneut kandidieren. „Frankreich bleibt weiterhin eine Macht, und Macron hat sich bei allen großen außenpolitischen Themen gut geschlagen. Wenn es um Außenpolitik und Machtprojektion in der Welt geht, bleibt Frankreichs Einfluss ungebrochen“, sagt Rahman.

Macron war beispielsweise der erste europäische Regierungschef, der nach Trumps Amtsantritt ins Weiße Haus eingeladen wurde. Das Problem sei jedoch, dass die innenpolitische Lage „extrem fragil“ sei, so Rahman. „Das finanzpolitische Bild ist ein einziges Durcheinander, und innenpolitisch ist er verwundbar.“

Beim NATO-Gipfel in Den Haag am Mittwoch einigten sich die Mitgliedstaaten auf ein neues Ziel für Verteidigungsausgaben von 5 Prozent des BIP. Doch Frankreich werde dieses Ziel keineswegs erreichen, stellt Rahman klar. Gleichzeitig führen Frankreich und Großbritannien die Diskussionen über eine mögliche Friedensmission in der Ukraine an. „Sie haben Truppen, sie haben eine militärische Tradition, und sie verfügen über Atomwaffen. Dass sie an der Spitze dieser Koalition williger Staaten stehen, zeigt, dass sie versuchen, sich nützlich zu machen – selbst wenn sie vermutlich kurzfristig weder die 3,5 noch die 5 Prozent Verteidigungsausgaben erreichen.“

Wahlgerüchte kursieren

Es gibt Spekulationen, ob Macron bald ein neues Parlamentswahlrisiko eingehen wird – obwohl die letzte Wahl vor einem Jahr ein zutiefst zersplittertes Parlament hinterließ. Rahman rechnet nicht mit unmittelbaren Neuwahlen, hält es aber für sehr wahrscheinlich, dass es noch dieses Jahr dazu kommt, unter anderem wegen Trumps Drohungen eines Handelskriegs, die Unsicherheit schaffen und das Wachstum bremsen. „Erst sollten 20 Milliarden Euro eingespart werden. Jetzt ist die Rede von 40 Milliarden, manche sprechen sogar von noch mehr. Das sind gewaltige Summen.“ Hinzu kommt, dass Regierung und Opposition bereits den Blick auf die Präsidentschaftswahl 2027 richten.

Auf der äußersten Rechten hat Marine Le Pen indes ihr eigenes Problem: In einem Betrugsverfahren wegen Missbrauchs von EU-Geldern wurde sie für fünf Jahre von politischen Ämtern ausgeschlossen. Le Pen hat Einspruch eingelegt, das Urteil wird in etwa einem Jahr erwartet. Ihr junger Protegé Jordan Bardella zeigte zudem zuletzt Schwächen im Wahlkampf, erklärt Rahman.

Es kann also noch viel passieren. Doch aktuell liegen Le Pen und Bardella in den Umfragen vorn.

Eine europäische Krankheit?

Frankreich steht möglicherweise besonders schwierig da. Doch ein ähnliches Muster wiederholt sich in vielen Ländern, betont Rahman: Schwache Regierungen mit dünner Mehrheit. Starke Herausforderer von der äußersten Rechten. Das gelte für Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien und Polen gleichermaßen.

„Viele westliche Demokratien kämpfen mit denselben Problemen: schwache politische Führung und ungeduldige Bürger. Große Herausforderungen bei Migration, hohen Lebenshaltungskosten und wirtschaftlichen Schwierigkeiten – verschärft durch Trump.“

„Das ist ein Problem in Europa, und ich glaube nicht, dass es verschwinden wird“, sagt Rahman.

Die Regierungen könnten „einfach nicht liefern, was ihre Bürger verlangen“, erklärt er weiter. „Es ist nicht so, dass die Staaten komplett versagen. Aber die amtierenden Führungen haben entweder nicht den Mut oder das Mandat, um die Wünsche der Wähler umzusetzen. Deshalb sehen wir, dass mehr Menschen die Eliten ablehnen und bereit sind, Protestparteien zu wählen.“ Parteien, die zuvor als irrelevant oder nicht wählbar galten, gewinnen an Boden. „Auch wenn sie kontroverse, unerprobte oder experimentelle Ideen haben. Das ist eine Herausforderung für Europa, und sie wird nicht verschwinden.“

Doppelzüngige US-Regierung

Nach einem halben Jahr Trump 2.0 zeigt sich laut Rahman, dass die neue US-Regierung „zwei Köpfe“ habe. Das eine sei „revolutionär“ und verfolge das Ziel, unsere Gesellschaftsordnung und das europäische Projekt zu zerstören.

Das repräsentieren Namen wie Vizepräsident J.D. Vance oder Ex-Trump-Berater Elon Musk. Deren Agenda wurde etwa in Vances Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich, wo er Europa scharf und unverblümt kritisierte. Auch Musks Unterstützung rechter Parteien in mehreren Ländern sei Ausdruck dieser Linie. „Es ist kein Raubtier, aber es verfolgt klar eigene Interessen“, sagt Rahman.

Das andere „Kopf“ sei pragmatischer, kompromissbereiter, „transactional“, also ergebnisorientiert. „Es ist kein Raubtier, aber es geht darum, Gegenleistungen zu erhalten“, erklärt er und nennt Beispiele wie Außenminister Marco Rubio oder NATO-Botschafter Matt Whitaker.

Das Hauptanliegen dieser Seite sei Lastenteilung – Europa solle mehr Verantwortung übernehmen. Dasselbe Bild zeigt sich auch in der Wirtschaftspolitik, fügt Rahman hinzu: Einerseits revolutionäre Kräfte, die den globalen Handel umkrempeln wollen. Andererseits Akteure, die schlicht Einnahmen suchen, um Steuersenkungen im Inland zu finanzieren.

Die Gefahr ist nicht gebannt

In Europa herrscht derzeit das Gefühl, die Lage sei weniger bedrohlich, so Rahman. Es scheint möglich, einen NATO-Kompromiss zu finden, ohne dass Trump die USA aus dem Bündnis zieht oder die Unterstützung für die Ukraine einstellt. Auch eine vollständige Eskalation des Handelsstreits wurde bislang vermieden.

Doch je weniger akut die Bedrohung erscheint, desto geringer die Bereitschaft, grundlegende Reformen anzugehen, warnt Rahman. Und mit dem Erstarken extremer Parteien bleiben möglicherweise nur zwei bis drei Jahre Zeit, um Ergebnisse zu liefern. Die wichtigsten Prioritäten für Europa seien Aufrüstung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. „Ein stärkeres Militär bedeutet Verzicht auf andere Dinge, an die wir uns gewöhnt haben“, sagt Rahman.

Wer Optimismus bewahren wolle, solle auf Berlin schauen: „Wir sehen ein Bewusstsein dafür, dass wir in einer neuen Welt leben. Europa muss mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und seinen Wohlstand übernehmen. Das ist an sich eine gute Entwicklung.“

Nun gehe es darum, die Konsequenzen zu durchdenken: „Dazu gehört der Aufbau militärischer Kapazitäten, aber auch die ehrliche Debatte mit den Bürgern über öffentliche Leistungen – etwa, dass ein stärkeres Militär auf Kosten anderer Errungenschaften geht.“

Nichts ist sicher

Führungsfiguren wie Merz, Macron, der britische Premier Keir Starmer oder Polens Donald Tusk erkennen die Herausforderungen laut Rahman glasklar. „Jetzt geht es darum, in den nächsten zwei bis drei Jahren so große Fortschritte wie möglich zu erzielen, solange diese Führungen im Amt sind.“

„Ich kann mir kein EU-Europa vorstellen, wie wir es heute kennen, mit einer Präsidentin Le Pen“, betont Rahman.

Soll die militärische Aufrüstung ernsthaft vorangetrieben werden, komme Europa laut Rahman um mehr gemeinsame Verschuldung nicht herum. Zuletzt gab es Spekulationen, die EU könne sich bereits beim aktuellen Gipfel auf gemeinsame Schulden für Verteidigungsinvestitionen einigen. Doch diese Pläne seien nun vom Tisch. „Europa ist ein reicher Kontinent, es gibt Ressourcen, die man nutzen könnte, wenn man wollte. Tempo und Ambition hängen davon ab, wie ernst und akut die Bedrohung wahrgenommen wird.“

Derzeit bestehe das Gefühl, die Trump-Regierung strebe keine völlige Konfrontation an. „Damit rutscht das Thema gemeinsame Finanzierung schnell von der Tagesordnung. Sollte Trump jedoch erneut irrationale Aussagen über die NATO machen oder sich aus der Ukraine zurückziehen, könnte sich das ändern.“

Man dürfe nichts ausschließen. Das Risiko eines europäischen „Trump-Moments“ bleibe jederzeit bestehen, betont Rahman. „Bei nahezu jeder Wahl sehen wir einen Kampf zwischen schwachen Amtsinhabern und Herausforderern von ganz rechts. Das Risiko ist real, dass früher oder später das ,Trump-Moment‘ kommt – und zwar nicht in einem kleinen Land, sondern in einem der großen Staaten Europas.“

Ein EU-Europa, wie wir es kennen, würde dann wohl nicht weiter existieren. „Das wäre ein fundamentaler Bruch – von innen heraus. Und sich bewusst zu machen, dass das nur eine Wahl entfernt ist, ist tatsächlich beängstigend.“

Gibt es Grund zur Hoffnung? „Ja“, sagt Rahman. „Es beginnt und endet mit Merz. Er ist ein Gamechanger, er versteht die Herausforderungen, vor denen er steht. Nun ist die Frage, ob er seine Regierung mitnehmen und das Nötige umsetzen kann.“ Deutschland habe den finanziellen Spielraum, den andere nicht haben. „Wenn Merz die Debatte in Deutschland gewinnt und für ganz Europa investiert, gibt es Grund für Optimismus.“

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