Dänemark hat nach der Drohnensichtung gerade mehrere hundert Reservisten zum Dienst einberufen. Zeitgleich ruft Verteidigungsminister Pistorius 100.000 neue Bundeswehr-Reservisten aus. Die politische Debatte um Reservistenzahlen ist auch hierzulande voll im Gange – mittendrin plötzlich Ex-NVA-Soldaten der DDR, denn wer bei der Nationalen Volksarmee der DDR war, kann bisher nicht als Reservist zur Bundeswehr.
Der Linke-Politiker Dietmar Bartsch und der Unions-Bundestags-Fraktionsvorsitzende Sepp Müller wollen das ändern. NVA-Soldaten könnten laut dem CDU-Politiker zu „Heimatschützern“ werden und nachträglich auf das Grundgesetz schwören. Doch unter anderem die Grünen und auch der Koalitionspartner SPD äußern sich eher skeptisch dazu.
NVA-Soldaten als Reservisten? SPD, Grüne und ein Verbandssprecher kritisieren die Forderung
SPD und Grüne haben verhalten, bis skeptisch auf einen Vorstoß aus der CDU reagiert, ehemalige NVA-Soldaten der DDR als Reservisten der Bundeswehr heranzuziehen. „Es ist grundsätzlich gut, wenn sich alle darüber Gedanken machen, wie wir den Ausbau der Reserve voranbringen“, sagte die SPD-Fraktionsvize und Verteidigungsexpertin Siemtje Möller dem Stern. Sie empfehle jedoch, die Aufmerksamkeit eher auf aktuelle und künftige Wehrdienstleistende zu richten. „Mit Freude und Spannung“ sehe sie Vorschlägen des Verteidigungsministeriums zur Stärkung der Reserve entgegen, erklärte die SPD-Politikerin, die selbst parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium war.
NVA-Soldaten aktivieren? Ostbeauftragte ist skeptisch
Auch die Ostbeauftragte Elisabeth Kaiser sieht den Vorschlag skeptisch, ehemalige Soldaten der Nationalen Volksarmee für die Bundeswehr zu aktivieren. „Ich glaube, das ist jetzt vielleicht nicht die naheliegendste Lösung“, sagte die SPD-Politikerin der DPA.
Sie verwies auf das Alter der ehemaligen Soldaten der NVA, die mit der deutschen Vereinigung 1990 aufgelöst und teilweise in die Bundeswehr integriert worden war. Die Betroffenen hätten seither keine Schulungen gehabt. Aus ihrer Sicht sei es nicht „die Maßnahme, die wir verfolgen sollten“, sagte Kaiser.
Unionsfraktionsvize will ehemalige NVA-Soldaten zur Bundeswehr holen
Der für Ostdeutschland zuständige Unionsfraktionsvize Sepp Müller hatte zuletzt in einem Interview mit der Berliner Zeitung gefordert, wegen des Personalmangels bei der Bundeswehr 35 Jahre nach der deutschen Einheit auch auf ehemalige DDR-Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) zurückzugreifen. Der aus Sachsen-Anhalt stammende Politiker begründete seinen Vorstoß damit, dass es aktuell nur 51.000 beorderte Reservisten gebe und damit nur ein Viertel der geplanten 200.000 Reservisten, um die Nato-Vorgaben zu erfüllen.
CDU-Politiker Müller schlägt vor, dazu eine Regelung der Wiedervereinigung zu überarbeiten, damit Ex-NVA-Soldaten in der Bundeswehr dienen können. Bislang können ehemalige NVA-Angehörige nicht als Reservisten herangezogen werden, es sei denn, sie wurden nach der Wiedervereinigung in der Bundeswehr weiterbeschäftigt. Das traf damals für rund 18.000 der mehr als 170.000 NVA-Soldaten zu.
Das wurde im Einigungsvertrag so festgelegt. Generell galt bis zum 1. März 2005 die in der NVA geleistete Dienstzeit als „gedient in fremden Streitkräften“. Heute lautet die Bezeichnung „gedient außerhalb der Bundeswehr“. Laut Einigungsvertrag ist es den ehemaligen NVA-Angehörigen, im Gegensatz zu früheren Angehörigen der Wehrmacht, nicht gestattet, in der Bundesrepublik ihren letzten Dienstgrad mit dem Zusatz „a. D.“ (außer Dienst) zu führen.
Linken-Politiker: Auch NVA-Soldaten könnten Reservisten sein
Angesichts der Personalprobleme der Bundeswehr schlägt auch der Linken-Politiker Dietmar Bartsch vor, frühere Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR als Reservisten heranzuziehen. „Auch wenn alle früheren NVA-Soldaten inzwischen über 50 Jahre alt sind, sollte man überdenken, ob ihr kompletter Ausschluss aufrechterhalten werden soll“, forderte vorab Linken-Politiker Bartsch gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
Es könnte unter anderem im Heimatschutz viele Aufgaben geben. Bartsch selbst hatte seinen Grundwehrdienst in einem Fallschirmjägerbataillon der NVA absolviert. Die Heimatschutzregimenter der Bundeswehr bestehen zum Großteil aus Reservisten, sie stellen im Krisen- und Verteidigungsfall sicher, dass Truppen schnell und sicher zu ihrem Einsatzort kommen und die Infrastruktur geschützt wird.
Grüne üben deutliche Kritik an NVA-Vorstoß der CDU
Deutliche Kritik an der Idee kam hingegen seitens der Grünen. Der Vorschlag „offenbart, wie wenig die Union die aktuellen Herausforderungen bei der Truppe kennt“, sagte die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Sara Nanni, dem Stern. Das Problem sei nicht, dass es zu wenig interessierte Reservisten gebe, „sondern dass die Bundeswehr nicht genügend Kapazitäten hat, die vielen Interessierten – gedient und ungedient – zu absorbieren“, erklärte die Grünen-Politikerin. Auch sind NVA-Reservisten heute schon meist weit über 50 Jahre alt.
NVA-Verband: Vorstoß kommt spät
Ebenfalls kritisch äußerte sich der Verband zur Pflege der Tradition der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR. „Auf die Idee hätten sie mal 35 Jahre früher kommen sollen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Vereins, Harald Neubauer, dem Magazin. Bislang seien ehemalige NVA-Soldaten als „gedient in fremden Streitkräften“ eingestuft worden. Deshalb dürfen ehemalige NVA-Angehörige bisher nicht als Reservisten der Bundeswehr herangezogen werden – außer, wenn sie nach der Wiedervereinigung in der Bundeswehr weiterbeschäftigt wurden.
Kriegsdienstverweigerer und der Wunsch nach 260.000 aktive Soldaten
Die Bundesregierung sieht es als notwendig, angesichts der Bedrohung durch Russland, die Bundeswehr von derzeit rund 182.000 auf 260.000 aktive Soldaten anwachsen zu lassen. Hinzukommen sollen 200.000 Reservisten, deren Zahl vor allem mit dem neuen, zunächst auf Freiwilligkeit beruhenden Wehrdienst gesteigert werden soll. Manche Heimatschutzregimenter haben zuletzt auch „Ungediente“ ausgebildet, also Interessierte ohne Berührungspunkte zur Bundeswehr.
Unterdessen steigt die Zahl der Kriegsdienstverweigerer: Wie Bundesfamilienministerin Karin Prien dem RND mitteilte, gab es allein in der ersten Jahreshälfte rund 1.500 Anträge. Im gesamten Vorjahr seien es gut 2.200 Anträge gewesen. Die Verweigerer wollen sicherstellen, dass sie in Zukunft nicht gemustert oder eingezogen werden. Ende August hatte die Bundesregierung einen freiwilligen Wehrdienst beschlossen. Für den Fall, dass sich nicht genug Freiwillige melden, wird bereits von Kanzler Merz angeführt eine Rückkehr zur Wehrpflicht diskutiert.
Fazit: Die politische Debatte kommt zu spät
Reservist ist in der Bundesrepublik jeder, der in der Bundeswehr gedient und seinen Dienstgrad nicht verloren hat – rechnerisch sind das aktuell etwa 860.000 Menschen. Weil der Militärdienst in der DDR Pflicht war, könnte eine entsprechende Neuregelung mehrere Hunderttausend Männer zwischen Anfang 50 und 65 Jahren betreffen. Denn die „Allgemeine Wehrpflicht“ war in der DDR seit 1962 ein Grundwehrdienst von 18 Monaten für alle Männer zwischen 18 und 26 Jahren. Einen zivilen Wehrersatzdienst gab es nicht, die einzige Alternative war, als „Bausoldat“ den Dienst ohne Waffe abzuleisten.
Mit Auflösung der NVA am 3. Oktober 1990 wurde das Dienstverhältnis Hunderttausender Soldaten der DDR-Armee beendet, weil sie bis dahin zum Schutz der sozialistischen Staatsform verpflichtet waren. Viele der ausgeschiedenen Berufssoldaten, Fähnriche und Offiziere haben sich beruflich neu orientiert und eine neue Existenz aufgebaut, was durch die Nichtanerkennung beruflicher Abschlüsse erschwert wurde.
Da die Politik es verschlafen hat, die ehemaligen NVA-Soldaten als Reservisten für die wiedervereinte Bundesrepublik im System einzugliedern, anzuerkennen und auszubilden, können sie jetzt im Ernstfall der Bundeswehr nicht helfen. Auch sind sie inzwischen aufgrund ihres Alters nicht mehr so einsatz- und leistungsfähig und nicht mit den Waffen der Bundeswehr vertraut. Ehemalige NVA-Angehörige werden also nur bedingt die Personalnot der Bundeswehr lindern können – die Frage ist, ob sie das überhaupt noch wollen.

