Nach über 18-stündigen Beratungen haben sich der britische Premierminister David Cameron und die übrigen Staats- und Regierungschefs der EU am Freitagabend auf einen Kompromiss geeinigt. Dem Reuters vorliegenden Kompromisspapier zufolge soll die von der britischen Regierung geforderte "Notbremse", mit der EU-Ausländer von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können, maximal sieben Jahre gelten. Kindergeldzahlungen für Kinder, die nicht im Vereinigten Königreich leben, sollen umgehend für neue Antragssteller an die Lebenshaltungskosten im Ausland gekoppelt werden. Ab 2020 können andere EU-Staaten diese Regelung übernehmen. Die Ausnahmeregelung für Großbritannien von einer Verpflichtung zum immer engeren Zusammenschluss der EU soll in einer EU-Vertragsänderung verankert werden. Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Euro-Zone und Nicht-Euro-Ländern.
Die AFP berichtet: "Hart gerungen wurde auch um Camerons Forderung nach mehr Mitspracherecht bei Entscheidungen der Eurozone, der Großbritannien nicht angehört. Dem Parlamentsunterhändler zufolge wird in der Gipfelerklärung festgehalten, dass London keinerlei Vetorecht in Belangen der Währungsunion erhält."
Bei Lichte besehen, hat Cameron wenig bekommen. Er wollte 13 Jahre für die Aussetzung der Sozialleistungen, die Osteuropäer fünf. Die wirtschaftlichen Folgen beschreibt Bloomberg dahingehend, dass es für die britischen Märkte nun einige Monate der Unsicherheit geben werde.
Das Kernproblem dieses Deals: In Europa herrscht mittlerweile der Eindruck, dass die EU zwar komplexe Regeln hat - die alle gut gemeint sein mögen. Doch wenn es hart auf hart kommt, gilt das Recht des Stärkeren: Das hatte sich in der ersten Phase der Euro-Krise gezeigt, als die EU nach der Pfeife Deutschlands tanzte. Griechenland wurde mit seinem zaghaften Erpressungsversuch niedergebürstet.
Zugleich ist allen klar, dass die EZB die Politik für die EU macht - weshalb EZB-Chef Mario Draghi in Brüssel auch mit von der Partie war. Draghi hat weder von Politik noch von der Realwirtschaft übertriebene Kompetenz - und hat mit den Negativzinsen die Lunte gelegt, um die Sparguthaben und die Vermögen in Europa am Ende des gewaltigen, ungebremsten Schuldenzyklus auch noch zu verbrennen.
Alle, was über das Geld hinausgeht, kann die EU nicht durchsetzen, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. So lange es nationale Parlamente gibt, müssen die Parteien ein Minimum an Bürgerinteressen vertreten. Sie tun das seit langem halbherzig und widerwillig. Doch wenn das Scheitern der Ideologien so handgreiflich wird wie in der Sylvesternacht von Köln, dann gehen starke Schockwellen über den Kontinent. Dann gilt bei den nationalen Politikern EU-Bashing als erste Politikerpflicht. Ansonsten gilt: Niemand will sich von den großen Geldtöpfen wegdrängen lassen, die es zu verteilen gibt - allen voran die Parteien, die nur an sich und ihre Funktionäre und Netzwerke denken.
Die EU ist in einem verheerenden Zustand - auch wenn man das bedauern muss, weil ja die europäische Idee als solche nicht falsch ist. Doch die fortwährende Apotheose des Kompromisses als zentralem politischen Ziel hat nicht zu mehr Harmonie, sondern zu unlösbarer Komplexität geführt. Die Folge: Was anfangs so einfach schien, entrückt immer mehr in eine Wolke. Aus dieser spricht jedoch nicht die göttliche Stimme. Aus dieser erfolgt die Verklärung des kleinsten gemeinsamen Nenners.
Daher wird sich die paradoxe Situation ergeben: Die Briten werden nicht sachlich und nüchtern abwägen können, was sie für besser ist. Das kann ihnen nämlich niemand ernsthaft sagen, weil es weder ihre Politiker noch die EU-Politiker wissen. Daher werden die Briten im 21. Jahrhundert eine wichtige Entscheidung aus dem Bauch treffen müssen. Sie werden manipuliert werden durch eine wahre Propaganda-Schlacht, in der niemand meint, was er sagt. Da Ergebnis des Referendums ist offen. Es ist gut möglich, dass die Briten am Ende ganz anders entscheiden, als sie es eigentlich für richtig gefunden hätten.