Die verheerende Schlappe der SPD in Nordrhein-Westfalen ist der jüngste Hinweis auf einen internationalen Trend: Sozialisten und Sozialdemokraten sterben als Parteien aus. Ein Blick auf die Länder in Europa zeigt: Es gibt fast flächendeckend Abstürze, die oft in die Bedeutungslosigkeit führen.
Die Gründe sind vielfältig, doch ein Hauptgrund dürfte entscheidend sein: Die Sozialdemokraten haben sich im Zuge der Veränderungen in der Gesellschaft von reinen Arbeiterparteien zu Parteien der Mittelschicht entwickelt. Diese Mittelschicht wiederum ist, anders als noch vor 20 Jahren, bereit, immer wieder andere Parteien zu wählen. Die ideologische Verankerung spielt keine Rolle mehr.
Die meisten Sozialdemokraten haben die Arbeiter und ihre Interessen aus den Augen verloren. Dies ist auf die Integration der Gewerkschaften in die Partei-Apparate und damit in das jeweilige politische Establishment zurückzuführen. Gerade in einer Zeit der rasanten technologischen Veränderungen wären kämpferische, unbeugsame Gewerkschaftsführer notwendig. In Deutschland hat die innerbetriebliche Mitbestimmung dazu geführt, dass Mitarbeiter und Geschäftsleitung im Mittelstand gemeinsam für das Wohl des Unternehmens und der Beschäftigten kämpfen. Bei den großen Konzernen dagegen sind die Betriebsräte durch ihren Status viel zu nahe am Management. Der DGB etwa ist so integriert, dass die Gewerkschaft im Streit um die Freihandelsabkommen TTIP und CETA die Hauptgefahren – Lohndumping und Verlust von Arbeitsplätzen – nicht erkannte, obwohl unabhängige Studien eine eindeutige Sprache sprechen.
Ebenfalls nicht vertreten sind die Interessen der Arbeitslosen, insbesondere der Jugendlichen und der Leiharbeiter. Daher bekommen radikale rechte und linke Parteien Zuspruch – aber nicht die Sozialdemokraten.
Die Führung der Sozialdemokraten hat sich in den meisten Ländern mit ihrem Schicksal abgefunden. Der französische Präsident Emmanuel Macron ging sogar soweit, eine Parallel-Struktur aufzubauen, und sagte öffentlich, dass die Sozialisten in Frankreich für immer von der politischen Bühne verschwinden werden.
Martin Schulz, der SPD-Kanzlerkandidat, würde so weit nicht gehen. Doch auch er lieferte am Montag in einem ZDF-Interview ein Beispiel, warum die SPD kein Profil hat. Schulz lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel und sagte: „Ich glaube, dass ich mir von Angela Merkel die innere Ruhe, die sie hat, abschauen kann. Die habe ich manchmal nicht so sehr, aber in zunehmendem Maße. Was ich mir nicht von Angela Merkel abschauen möchte, ist die Passivität, mit der sie die Alltagsprobleme der Menschen in Deutschland betrachtet.“
Einige Beispiele der dramatischen Abwärtsspirale, in der sich Sozialisten und Sozialdemokraten befinden:
Deutschland
SPD
Höhepunkt: Wahl 1972 mit 45,8 Prozent
Star des Höhepunkts: Willy Brandt
Tiefpunkt: Wahl 2013 mit 25,7 Prozent
Österreich
SPÖ
Höhepunkt: Wahl 1979 mit 51 Prozent
Star der Partei: Bruno Kreisky
Tiefpunkt: Wahl 2008 mit 29,3 Prozent
Italien
Partido Democratico (PD)
Höhepunkt: Wahl 2008 mit 33,09 Prozent
Star: Walter Veltroni
Tiefpunkt: Wahl 2013 mit 25,48 Prozent
Großbritannien:
Labour Party
Höhepunkt: Wahl 1997 mit 43,2 Prozent
Star: Tony Blair
Tiefpunkt: Wahl 2010 mit 29 Prozent
Frankreich:
Parti Socialiste (PS)
Höhepunkt: Präsidentschaftswahl Wahl 1988 mit 54 Prozent
Star: Francois Mitterand
Tiefpunkt: Wahl 2017 mit 6,4 Prozent
Portugal:
Partido Socialista (PS)
Höhepunkt: Wahl 2005 mit 45 Prozent
Star: Jose Socrates
Tiefpunkt: Wahl 2011 mit 28,05 Prozent
Spanien:
Die sozialistische PSOE
Höhepunkt: 1982 mit 48,1 Prozent
Star: Felipe Gonzalez
Tiefpunkt: Wahl 2015 mit 22,0 Prozent
Griechenland:
PASOK
Höhepunkt: Wahl 1981 mit 48,07 Prozent
Star: Andreas Papandreou
Tiefpunkt: Wahl Januar 2015 mit 4,68 Prozent
Schweden:
Die schwedische Arbeiterpartei SAP
Höhepunkt: Wahl 1968 mit 50,1 Prozent
Stars: Olof Palme/Tage Erlander
Tiefpunkt: Wahl 2014 mit 32 Prozent
Dänemark:
Die dänische Partei Socialdemokrateren
Höhepunkt: Wahl 1960 mit 42,1 Prozent
Star: Viggo Kampmann
Tiefpunkt: Wahl Wahl 2011 mit 24,8 Prozent
Türkei:
Die sozialdemokratische CHP
Höhepunkt: Wahl 1977 mit 41,38 Prozent
Star: Bülent Ecevit
Tiefpunkt: Wahl 1999 mit 8,71 Prozent
Israel:
Die israelische Arbeiterpartei Avoda
Höhepunkt: Wahl 1969 mit 46,2 Prozent
Star: Jigal Allon
Tiefpunkt: Wahl 2009 mit 9,93 Prozent
Belgien:
Die Parti Socialiste (PS)
Höhepunkt: Wahl 1987 mit 15,66 Prozent
Star: Guy Spitaels
Tiefpunkt: Wahl 1999 mit 10,26 Prozent und Wahl 2014 mit 11,67 Prozent