Westliche Nationen und mit ihnen verbündete Staaten haben über Jahre hinweg mehrere Milliarden Euro mehr in Chinas Neue Seidenstraße investiert als das Reich der Mitte selbst. Ein durchaus interessanter Sachverhalt, den die Bertelsmann-Stiftung da zutage gefördert hat.
In ihrer Analyse kommen die Wissenschaftler zu der - scheinbar - logischen Einschätzung, dass sich die westlichen Staaten mithin keine Sorgen zu machen bräuchten. „Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung sind westliche Staaten ein mindestens genauso wichtiger Investor“ wie China, schreiben die Gütersloher. Und ziehen das Fazit, dass der Westen im Grunde „längst seine eigene Seidenstraße“ habe. Also: Alles ist gut.
In der Presse fand die Meldung vergleichsweise wenig Beachtung. Aber diejenigen Medien, die sie zum Thema machten, übernahmen die Einschätzung der Wissenschaftler ohne Abstriche. „Mehr Geld, höherer Einfluss“, titelte beispielsweise der Focus, und der Berliner „Tagesspiegel“ befand, die „Angst vor Chinas Neuer Seidenstraße“ sei „unbegründet“.
Eine korrekte Bewertung der Situation? Nein. Die Höhe der Investitionen allein ist nämlich nur sehr bedingt aussagekräftig. Entscheidend ist vielmehr, wer die Investitionen tätigt, welchen Motiven sie entstammen und woher das Geld kommt. Und da bestehen zwischen dem Westen und China gewaltige Unterschiede.
Vom Westen investiertes Geld stammt zu einem Teil aus den Entwicklungshilfe- und weiteren Budgets von rund 30 Staaten, die sich bis zu einem gewissen Grad politisch, wirtschaftlich und kulturell ähnlich sind. Was aber nicht bedeutet, dass diese Staaten die gleichen Interessen verfolgen würden - um das zu erkennen, muss man sich nur das derzeit herrschende Verhältnis zwischen den USA und der EU vor Augen führen oder die Spannungen zwischen Japan und Südkorea.
Zum anderen Teil stammt das Geld von Unternehmen. Und die sind selbstverständlich nicht Teil eines einheitlichen Interessenverbunds. Vielmehr stehen sie in Konkurrenz - nicht nur mit chinesischen Konzernen, sondern auch untereinander. Siemens und General Electric mögen zwar beide dem „Westen“ angehören, aber wenn es beispielsweise darum geht, ein großes Gasturbinen-Geschäft in Nahost abzuschließen, dann kämpfen die beiden Industrie-Giganten um den Auftrag, und derjenige, der ihn erhält, vertritt bei der Ausführung die Interessen seiner Anteilseigner, nicht die seiner Regierung oder gar die der westlichen Wertegemeinschaft.
Anders die Investitionen aus China. Sie werden entweder vom Staat getätigt, von staatseigenen Unternehmen oder von Unternehmen, die die Interessen ihres Staates verfolgen müssen. Die Investitionen in die Nationen entlang der Neuen Seidenstraße sind Teil einer konzertierten Aktion, Part einer breit und vor allem langfristig angelegten Strategie. China ist ein einzelner Staat mit einer Ein-Parteien-Herrschaft. Der „Westen“ und seine Verbündeten sind eine amorphe Ansammlung vieler Akteure mit unterschiedlichen Interessen. Sie werden und können entlang der Neuen Seidenstraße niemals so zielgerichtet vorgehen wie ihr chinesischer Rivale.
Die Autoren der Bertelsmann-Studie weisen darauf hin, dass Chinas Investitionen im Jahr 2015 mit rund 125 Milliarden Dollar mehr als viermal so hoch waren wie 2017 (circa 30 Milliarden Dollar). Aber dieser Rückgang hat nicht viel zu bedeuten - Peking hat keine Eile. Allein in der Zeit von 2013 bis 2017 hat China 285 Milliarden Dollar in die Länder entlang der Neuen Seidenstraße gepumpt. Ziel ist es, im Jahr 2049 - dem hundertjährigen Bestehen der Volksrepublik - die führende Nation der Welt zu sein. Bis dahin sind es noch dreißig Jahre - viel Zeit, um noch viele hunderte Milliarden Dollar zusätzlich (die Volksrepublik sitzt auf zwei bis drei Billionen Dollar Währungsreserven) in das große Ziel einer gut funktionierenden und vor allem von China dominierten Verbindung nach Europa zu investieren.
Dass China Dominanz anstrebt, steht außer Frage. Die Länder, in denen das Reich der Mitte im Rahmen der Neuen Seidenstraße Projekte verwirklicht, müssen für diese zahlen. Durch die Kredite, welche Peking dafür vergibt, entsteht eine starke einseitige Abhängigkeit. Selbst eine Industrienation wie Deutschland - immerhin die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt - tut (fast) alles, um es sich mit der aufstrebenden Supermacht nicht zu verscherzen. Wie groß sind da die Möglichkeiten armer, schwach entwickelter asiatischer und afrikanischer Staaten, chinesischem Druck etwas entgegenzusetzen?
In Deutschland wird die Volksrepublik nach wie vor primär als Wirtschaftspartner gesehen. Dabei verliert Peking zunehmend die Scheu, seinen Interessen, die über den Handel hinaus gehen, offen Ausdruck zu verleihen. Vor knapp zwei Monaten hat Chinas Verteidigungsminister Wei Fenghe erklärt, dass sein Land im Rahmen der Seidenstraße-Initiative Militär-Kooperationen anstrebe. Noch ist zwar vor allem von „Friedenssicherung“ und „Anti-Terror-Kampf“ die Rede - doch es scheint, als ob die Volksrepublik immer mehr dazu übergeht, ihre zukünftige Rolle als weltgrößte Wirtschaftsmacht auch militärisch zu untermauern. Der Tag, von dem an Peking auch seinen politischen Interessen mittels militärischer Stärke Nachdruck verleiht, ist nicht mehr fern.