Wenn die Europäische Zentralbank in diesem Monat ihre erste Ratssitzung des Jahres 2020 abhält, wird fast die Hälfte der Mitglieder weniger als ein Jahr lang im Amt sein. Dies verdeutlicht die umfassende Umgestaltung im EZB-Rat, zu der im November auch die Ablösung von Mario Draghi durch die ehemalige IWF-Chefin Christine Lagarde auf dem Chefposten gehörte.
"Wir verabschieden ein erfahrenes Team von Zentralbankern, das eine lockere Politik verfolgte, und bekommen ein weniger erfahrenes Team von Zentralbankern, das eine weniger lockere Politik befürwortet, was ein Risiko für die Märkte darstellt", zitiert die Financial Times Frederik Ducrozet, einen Analysten bei Pictet Wealth Management.
Die jüngsten Zugänge sind die Deutsche Isabel Schnabel und der Italiener Fabio Panetta, die Anfang Januar in das mächtige sechsköpfige EZB-Direktorium eintraten, wo unter Führung des EZB-Präsidenten alle Entscheidungen der Zentralbank vorbereitet werden, und dort Sabine Lautenschläger und Benoit Coeuré ersetzen.
Einen anderen großen Wechsel im EZB-Direktorium gab es noch unter Lagardes Vorgänger Mario Draghi: Im Juni kam der neue Chefvolkswirt Philip Lane aus Irland hinzu, der Peter Praet ersetzt. Die Abgänge Coeuré und Praet hatten Draghi entscheidend dabei geholfen, die Staatsschuldenkrise ab dem Jahr 2010 zu bewältigen.
Neben diesen vier Neuzugängen, die kaum mehr als sieben Monate im Amt sind, gibt es im EZB-Direktorium noch den für Austerität bekannten früheren spanischen Finanzminister Luis de Guindos, der erst seit Mitte 2018 Vize-Präsident des Direktoriums ist, und den mit Abstand Dienstältesten Yves Mersch aus Luxemburg, der im Dezember 2020 das Ende seiner achtjährigen Amtszeit erreichen wird.
Neben den sechs EZB-Direktoren sind im EZB-Rat die 19 Leiter der nationalen Zentralbanken der Eurozone vertreten, von denen acht im vergangenen Jahr neue hinzukamen. Am auffälligsten unter ihnen ist Professor Robert Holzmann, der von der ÖVP an die Spitze der österreichischem Zentralbank gesetzt wurde und die Geldpolitik der EZB wiederholt als zu locker kritisiert hat.
Nach Ansicht der ING-Ökonomen Carsten Brzeski wird der neue EZB-Rat möglicherweise weniger sensibel auf die Finanzmärkte reagieren und eher bereit sein, die bisherige Politik der EZB in Frage zu stellen. "Da sie enthusiastisch und unerfahren sind, werden sie wahrscheinlich jeden Stein umdrehen und riskieren, zu weit zu gehen", zitiert ihn die Financial Times. "Eine entscheidende Frage wird sein, ob sie die Geldpolitik neu kalibrieren können, ohne dass die Märkte Angst vor Zinserhöhungen bekommen."
Christine Lagarde hat bereits Pläne angekündigt, die Strategie der EZB in diesem Jahr zu überprüfen, wobei auch die Wirksamkeit ihrer bestehenden Instrumente und mögliche Änderungen ihres Kerninflationsziels untersucht werden sollen. Die neue EZB-Präsidentin, die wenig Erfahrung in der Geldpolitik hat, will auch integrativer sein als ihr Vorgänger, der keine großen Debatten zuließ. Das könnte bedeuten, dass der EZB-Rat jetzt einen größeren Einfluss hat als unter Draghi.
Einige Ökonomen begrüßen die möglichen neuen Impulse, die von einem neuen Team ausgehen könnten. "Die EZB steht vor einer ganz anderen Herausforderung als vor acht Jahren mit der Krise in der Eurozone", sagt etwa Lena Komileva, Chefvolkswirtin bei G+ Economics. Die Rettung des Euro habe nicht mehr die Priorität, sondern die Vermeidung einer Deflation nach japanischem Vorbild.
"Die Herausforderung besteht nicht darin, die unterbrochenen Verbindungen der Währungsunion zu reparieren, sondern darin, die Dynamik der Wirtschaft wiederherzustellen", wird Komileva in der Financial Times zitiert. "Das derzeitige niedrige Wachstum, die niedrigen Zinsen und die weltweit niedrige Inflation sind auf Dauer nicht tragbar."
Es wird erwartet, dass der neue Chefvolkswirt Philip Lane, der ehemalige Chef der irischen Zentralbank, bei der Gestaltung jeglicher Änderungen der geldpolitischen Strategie der EZB eine zentrale Rolle spielen wird, vor allem da die meisten seiner Kollegen keine Ökonomen sind. So ist etwa Christine Lagarde von Hause Juristin und war kurze Zeit französische Finanzministerin, und ihr Vizepräsident, der frühere spanische Finanzminister De Guindos, ist Betriebswirtschafter.
Als lautstarker Verfechter der Lockerungsmaßnahmen kurz vor dem Abtritt von Mario Draghi gilt der Ökonom Philip Lane als einer der stärksten Vertreter einer lockeren Geldpolitik bei der EZB. Da der Ire sehr stark auf der Linie der Negativzinsen und Anleihekäufe steht, ist damit zu rechnen, dass bis auf Weiteres diese lockere Geldpolitik fortgeführt wird - trotz der vielen neuen Stimmen in Direktorium und Rat.
Neben Lane hat auch die Deutsche Isabel Schnabel im EZB-Direktorium eine Schlüsselrolle erhalten, da sie von Coeuré die Verantwortung für die Marktoperationen übernommen hat, darunter das Anleihekaufprogramm. Schnabel war mit der Entscheidung der EZB, den Anleihekauf im September wieder aufzunehmen, nicht einverstanden, den sie als übertrieben bezeichnete. Sie ist jedoch pragmatischer als viele deutsche Kandidaten für die EZB.
Schnabel will auch die Kommunikation in ihrem Heimatland zu verbessern, wo negative Zinssätze vor allem als Bestrafung der Sparer kritisiert werden. "Sie hat ein besseres Gespür für die Sensibilitäten in Deutschland und wird versuchen, aus dieser Konfrontation zwischen Nord und Süd, Gläubiger- und Schuldnerländern herauszukommen und die Debatte auf eine andere Ebene zu bringen, was ich für eine gute Idee halte", sagte Clemens Fuest, Leiter des Münchner Forschungshauses Ifo.
Der Italiener Panetta, der im Direktorium für internationale und europäische Beziehungen zuständig ist, gehörte zu den Unterstützern der letzten Lockerungsmaßnahmen. Zudem führte der Veteran der Banca d'Italia den Widerstand gegen die Haltung der EZB zur Insolvenz italienischer Banken an. Er argumentierte, dass man den kleinen italienischen Anleiheinvestoren keine Verluste aufbürden sollte. Er ist offenbar jemand, der bereit ist, für seine Überzeugungen zu kämpfen.
Trotz des erheblichen Wechsels auf den Spitzenpositionen bei der EZB gibt es auch eine beträchtliche Kontinuität. Denn zahlreiche leitende Mitarbeiter sind nach dem Wechsel von Draghi zu Lagarde geblieben, darunter Roland Straub, der persönliche Berater der EZB-Präsidentin. Weitere langjährige Mitarbeiter sind Massimo Rostagno, Leiter der geldpolitischen Abteilung, und Frank Smets, Leiter der Wirtschaftsabteilung.
Das neue Spitzenteam wird wahrscheinlich erst dann sein wahres Gesicht zeigen, wenn es mit der nächsten Krise konfrontiert wird, zum Beispiel in einem möglichen Handelskrieg der USA mit Europa. Komileva von G+ Economics sagt, dass der wichtigste Test für die EZB voraussichtlich erst dann kommen wird, wenn die Wirtschaft in der Eurozone einen erneuten Abschwung durchmacht.