Politik

Brexit - wen kümmert´s? Impressionen aus einem unaufgeregten Land

Lesezeit: 6 min
25.01.2020 11:00
DWN-Korrespondent Ronald Barazon ist nach Großbritannien gereist, sieht sich im Land um und sucht nach Vorbereitungen der Briten auf den BREXIT. Allein, er findet sie nicht.
Brexit - wen kümmert´s? Impressionen aus einem unaufgeregten Land
Mögen die Politiker in London und Brüssel auch streiten - die Blumen im wunderschönen Garten des Hauses "5 St. Regis Close" in London lässt das völlig unbeeindruckt. (Foto: dpa)

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Nächste Woche, am 31. Januar 2020, verlässt Großbritannien die EU. Ist eine besondere Atmosphäre zu spüren? Ändert sich das Straßenbild? Hat man gar das Gefühl, ein Paukenschlag stünde bevor? Nein! Nichts von alldem! Wozu also die jahrelange Aufregung? Es ist wie immer: Die Preise sind hoch, viele Kleider und Anzüge nicht der letzte Schrei, doch werden sie getragen, als ob es noch das Weltreich Britannien gäbe. Und letztlich stimmt es doch: Auch, wenn die Kolonien verloren sind - Agatha Christie, James Bond und Harry Potter sind der Beweis, dass Britannia immer noch „rules the world“, Elton John wie auch Manchester United leisten ihren Beitrag und Simon Rattle ist ohne Zweifel eine einmalige Erscheinung unter den Dirigenten.

British English ist ein teurer, aber gefragter Exportartikel

Und schließlich muss jede und jeder auf diesem Globus Englisch können, und das lernt man doch am besten an einer der zahlreichen Hochschulen im Vereinigten Königreich, wo auch gleich das Jura-, Medizin-, Technik- oder Wirtschaftsstudium absolviert werden kann. Übrigens zu horrenden Preisen, die gerade dabei sind, angehoben zu werden. Für Nicht-Briten und bisher auch für EU-Bürger sind die Tarife hoch, 12.000 Euro im Jahr und mehr, für andere sogar astronomisch, mindestens 20.000. Zu den „anderen“ werden nach dem BREXIT auch die Europäer vom Kontinent zählen. Aber was heißt „nach dem BREXIT“? Wann genau beginnt die Nach-Brexit-Zeit eigentlich? Wirklich schon nächste Woche?

In jahrelangen BREXIT-Verhandlungen wurde die entscheidende Frage nicht geklärt

Genau genommen kann das niemand beantworten, sicher keiner der 66 Millionen Einwohner der Insel und auch keiner der ständig für Verwirrung sorgenden Politiker. Am 1. Februar ändert sich eigentlich nichts, weil bis zum Jahresende eine Übergangsperiode herrscht, in der die meisten EU-Regeln weiter gelten, nur, dass die Briten keinen EU-Kommissar mehr stellen und auch nicht mehr im EU-Parlament vertreten sind, aber weiter das EU-Budget mitfinanzieren müssen. Skurrilerweise wurde zwar seit 2016 über zahlreiche Details gestritten, aber die zentrale Frage wurde nicht gelöst: Wie wird der Handel zwischen Großbritannien und den EU-Mitgliedern künftig funktionieren?

Ohne Abkommen würden am 1. Januar 2021 die Zollmauern zwischen den beiden Partnern hochfahren. Das Vereinigte Königreich ist einer der wichtigsten Exportmärkte der EU und ohne zollfreien Handel müssten die Lieferanten vor allem aus Deutschland Zölle in Milliardenhöhe überwinden. Großbritannien ist ein schwacher Exporteur mit einem enormen Handelsbilanzdefizit und würde unter EU-Zöllen enorm leiden. Es ist also im Interesse beider Seiten, dass hier eine gute Lösung gefunden wird.

Hunderte Verhandlungsstunden wurden für juristische

Spitzfindigkeiten verschwendet

Man fragt sich, was eigentlich in den monatelangen Verhandlungen besprochen wurde, wenn das zentrale Thema Außenhandel ausgeklammert blieb. Die Antwort: Eine Vielzahl von juristischen Details, die nun mühsam von den Betroffenen umgesetzt werden muss. Dazu gehört, dass ab Februar oder möglicherweise doch erst ab Januar 2021 oder zu einem anderen Zeitpunkt EU-Bürger zu „echten“ Ausländern werden und das nicht nur an den Universitäten spüren werden, sondern auch bei der Einreise sowie bei den zahllosen Beziehungen auf den verschiedensten Gebieten, die zwischen dem Vereinigten Königreich und der übrigen EU bestehen.

Der Normalbürger reagiert auf den Wust an neuen Regeln nur mit Achselzucken; man ist schließlich traditionell daran gewöhnt, dass alle Bereiche durch die Verwaltung in dem vermeintlich liberalen Land behindert werden. Seit dem EU-Beitritt 1972 kamen die EU-Vorschriften dazu, jetzt sollen diese zur Gänze oder auch nur zum Teil abgebaut und durch britische Vorschriften ersetzt werden. Man ist also Kummer gewöhnt, nur die Wörter BREXIT und DEAL kann schon niemand mehr hören.

Die Flucht aus dem Vereinigten Königreich findet nicht statt

Viel wird, vor allem in den Zeitungen, davon geredet, dass nun eine Flucht aus Großbritannien einsetzt. Diese Behauptung ist schwer zu verteidigen: Von den 3,5 Millionen EU-Bürgern, die im Land leben und arbeiten, haben bis heute 2,8 Millionen bereits um eine Aufenthaltsgenehmigung nach dem BREXIT angesucht, obwohl dies noch bis Mitte Juni möglich ist. Etwa die Hälfte hat bereits eine Genehmigung in Händen, die anderen müssen die Abwicklung ihres Verfahrens noch abwarten. Völlig unklar ist allerdings, wie die Bedingungen für künftige Interessenten aussehen werden, die im Vereinigten Königreich arbeiten wollen.

Auch bei den großen Unternehmen muss man die Entwicklung differenziert sehen. Die oft wiederholte Behauptung, dass die Banken den Finanzplatz London verlassen, ist als Allgemeinformel falsch.

  • Den Finanzplatz London oder genauer die Londoner City wird keine Bank aufgeben, solange von diesem Platz aus siebzehn Inseln oder Inselgruppen, die sich als Steueroasen behaupten, gelenkt werden. Diese nützlichen Orte waren schon bisher nicht Mitglieder der EU;, London hat entsprechende Initiativen aus Brüssel immer abgewehrt. Nach dem BREXIT müssen nicht einmal mehr die Briefe geschrieben werden, in denen wortreich erklärt wurde, dass die Praxis der Inseln völlig legal sei.
  • Aus London werden die Banken auch nicht abwandern, weil Großbritannien ein Markt mit über 66 Millionen Einwohnern ist. Ohne EU-Mitgliedschaft wird man außerdem den lähmenden Regeln von Basel III und MifID zumindest teilweise entkommen.
  • Tatsächlich werden manche Organisationen neu aufgestellt, die aus London auch den gesamten EU-Raum mitbetreuen und auf dem Kontinent keine Filialen unterhalten. In diesen Fällen wird sich eine eigene Einheit in anderen Hauptstädten empfehlen.
  • Viel diskutiert wird, ob es den Akteuren in Brüssel, Paris und Frankfurt gelingen wird, den Handel mit Euro und vor allem das attraktive Termingeschäft mit Euro auf den Kontinent zu ziehen. Im Moment sieht es allerdings nicht so aus. Entsprechende Versuche blieben in der Vergangenheit erfolglos, zweifelhaft ist, ob die Praxis sich nach dem BREXIT ändert.

Das Kernproblem Großbritanniens ist die mangelnde

Konkurrenzfähigkeit der Produkte

Somit rückt die Frage nach dem Verhalten der Industrieunternehmen in den Vordergrund. Diese Frage ist zu einem Großteil identisch mit der Frage nach den künftigen Außenhandelsbedingungen. Nachdem dieser Bereich in verantwortungsloser Weise nicht geklärt wurde, befinden sich die produzierenden Unternehmen im Nebel.

  • Kommt es an einem Tag in der Zukunft zum Inkasso von Zöllen zwischen Großbritannien und der EU, dann wird sich eine Produktion für das Ausland im Vereinigten Königreich nur mehr schwer rechnen und eine Verlagerung der Erzeugung erforderlich sein.
  • Dann wird man überlegen müssen, was der britische Markt allein für Chancen bietet.
  • Allerdings ist die Einführung von Zöllen höchst unwahrscheinlich; man kann damit rechnen, dass dies schon die Exporteure auf dem Kontinent verhindern werden. Sicher ist allerdings angesichts des bisherigen BREXIT-Verlaufs nichts.
  • Somit wird das größte Problem der britischen Wirtschaft noch verstärkt. Seit vielen Jahren ist das Vereinigte Königreich auf den internationalen Märkten und besonders in den EU-Ländern nicht in der Lage zu punkten: Das enorme Handelsbilanzdefizit von 165 Mrd. Euro ist der deutliche Beweis für diese Misere, die nichts mit der EU oder dem BREXIT zu tun hat. Das einstige Mutterland der Industrie war und ist nicht in der Lage, im globalen Wettbewerb um Innovation und Qualität mitzuhalten.
  • Der aktuelle Konjunkturabschwung verschärft das Problem; allen voran sind die Probleme der Autobranche zu spüren.
  • Der Erfolg im Bereich der Dienstleistungen, von den Banken und Versicherungen über den Fremdenverkehr bis hin zum Run auf die Universitäten, bringt enorme Summen, einen Überschuss von 130 Milliarden Euro, der aber den Abfluss im Außenhandel nicht ausgleichen kann.

Die britische Gesellschaft ist durch eine tiefe Spaltung belastet

Diese trockenen Daten aus der Statistik ergeben aber, übersetzt in die Realität des Alltags, eine dramatische Spannung innerhalb der Gesellschaft.

  • Wer in bestimmten Dienstleistungsbereichen arbeitet, lebt in einer durchaus komfortablen Welt. Das gilt in erster Linie für die Banker, die, vor allem, wenn sie das kunstvolle Spiel mit Termingeschäften erfolgreich beherrschen, Spitzengagen beziehen.
  • Aber auch weniger „geniale“ Mitarbeiter der Banken, Versicherungen, Beratungsfirmen, Werbeagenturen und ähnlichen Unternehmen haben ein befriedigendes Auskommen. Dass alle über die hohen Preise klagen, dass Wohnen in London unerschwinglich ist und daher morgens und abends ein gigantischer Pendlerverkehr stattfindet, darf aber nicht unerwähnt bleiben.
  • Ebenso lässt es sich im Fremdenverkehr recht gut leben, auch, wenn die zahlreich eingesetzten Hilfskräfte sich naturgemäß mit bescheidenen Gagen begnügen müssen.
  • Nur: Dramatisch anders sieht es in Regionen aus, wo man traditionell von der industriellen und gewerblichen Produktion gelebt hat. Da sorgen keine Finanzwelt und auch kein Fremdenverkehr für Dynamik, da herrscht vielfach Armut und eine tief sitzende Unzufriedenheit. Die britische Gesellschaft ist tief gespalten.
  • Und die eingangs genannten Schulgebühren der Universitäten ergeben eine erschreckende Perspektive für die Zukunft: Zahllose Familien können den Kindern ein Studium nicht finanzieren und so liegt der Anteil der Studierenden aus einkommensschwachen Familien bei vier Prozent.

Der Online-Handel stürzt den früher vielfältigen Einzelhandel in eine Krise

Zu all diesen Spannungen in der Gesellschaft kommt eine Veränderung des Straßenbilds. Die früher so präsenten, kleinen Geschäfte verschwinden, tausende haben bereits geschlossen. Damit nicht genug, die großen Ketten fahren ein strenges Rationalisierungsprogramm und schließen viele Filialen. Die Folge: Nicht nur in der Produktion, auch im Handel ist die Beschäftigungslage trist. Denn hier macht sich der Online-Handel deutlicher bemerkbar als anderswo, völlig unabhängig vom BREXIT. Und wenn dann, wie im vergangenen Dezember, an den traditionellen Einkaufstagen starker Regen fällt, dann werden eben die Weihnachtsgeschenke im Internet bestellt.

Die Politik sorgt hauptsächlich für Verwirrung

Die Politik bietet keine brauchbaren Antworten, die Konservativen haben schon unter Theresa May eine schwer verständliche Politik betrieben, jetzt führt Boris Johnson den BREXIT durch und sorgt für Klarheit, aber nur vermeintlich, ab 1. Februar wird wieder verhandelt. Dabei ist das Datum nur eine theoretische Angabe, weil zuerst alle EU-Mitglieder-Parlamente dem „Deal“ zustimmen müssen, bevor die Verhandlungen frühestens im März oder April beginnen können. Die Sozialdemokraten, die unter Tony Blair eher konstruktiv unterwegs waren, haben sich unter Jeremy Corbyn zu einer Linkspartei mit marxistischen Parolen gewandelt, die die eher liberalen Briten verschreckt. Grundsätzlich sind die einkommensschwachen Bürger bereit, für den BREXIT zu votieren, weil sie emotional gegen bestehende Verhältnisse protestieren wollen. Die besser gestellten sind eher für einen Verbleib in der EU, wenn auch in dieser Gruppierung die Flut an Regeln als Diktat kritisiert wird. Skurrilerweise steht in der aktuellen Fassung des viel zitierten Deals, dass die Übergangsperiode keinesfalls verlängert wird: „Wenn bis zum Jahresende 2020 keine Einigung über die offenen Fragen erzielt wird, dann gibt es eben einen „hard BREXIT mit Zollmauern am Ärmelkanal.“

Realistischer ist allerdings, dass noch lange, sehr lange über den BREXIT verhandelt wird.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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