Finanzen

Die weltweiten Kapitalströme versiegen: Erste Staaten steuern auf Währungskrisen zu

Lesezeit: 6 min
26.04.2020 12:59  Aktualisiert: 26.04.2020 12:59
Großinvestoren ziehen derzeit Milliarden Dollar aus Märkten auf der ganzen Welt ab. Einige Staaten steuern deswegen bereits auf ernste Finanz- und Währungskrisen zu. Die Federal Reserve öffnet den Zugang zum Reich des Dollar – allerdings nur für bestimmte Länder.
Die weltweiten Kapitalströme versiegen: Erste Staaten steuern auf Währungskrisen zu
Eine Angestellte einer koreanischen Bank zählt Dollar-Scheine. (Foto: dpa)

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Die weltweiten Kapitalströme sind ins Stocken geraten. Institutionelle Anleger und vermögende Privatinvestoren haben in den vergangenen Wochen so viel Geld aus ausländischen Märkten abgezogen, wie nie zuvor in so kurzer Zeit, weil inzwischen eine Flucht in als sicher verstandene Anlageformen wie Gold, US-Dollar, Schweizer Franken, japanische Yen und deutsche und US-Staatsanleihen eingesetzt hat. Der Kapitalabfluss nährt indes in vielen der davon betroffenen Länder Sorgen um neue Finanz- oder Währungskrisen.

Rekordhohe Abflüsse

Daten des Institute of International Finance zufolge flossen seit dem 21. Januar etwa 95 Milliarden Dollar aus den Aktien- und Anleihemärkten der untersuchten 21 großen sogenannten Schwellenländer ab – mehr als vier Mal so viel wie im gleichen Zeitraum nach Ausbruch der vergangenen Weltfinanzkrise im September 2008.

Die Financial Times schreibt zu den wirtschaftlichen Aussichten der Schwellenländer in einem Artikel zum Währungsverfall des brasilianischen Real: „Brasilien und andere große aufstrebende Volkswirtschaften kamen relativ glimpflich aus der letzten Krise davon - vor allem Dank weltweiter Stimulierungsmaßnahmen und insbesondere jener aus China, welches nach 2008 große Mengen Waren aus den Entwicklungsländern kaufte. Diese Krise ist anders. Wie das Institute of International Finance in einem kürzlich veröffentlichten Bericht schreibt, findet die derzeitige Krise synchron auf der ganzen Welt statt und wird deutlich schwerwiegender sein als die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. Für die Schwellenländer ist der Ausblick besonders düster. Lateinamerika, die Karibik und die Entwicklungsländer Europas werden mit rund 5 Prozent der Wirtschaftsleistung die stärksten Einbrüche erfahren, glaubt der Internationale Währungsfonds. Nur die aufstrebenden Staaten Ostasiens werden durchschnittlich um etwa 1 Prozent wachsen, dank China und Indien.“

Für die Türkei wird es eng – wie für mehrere andere Länder

Die Kapitalabflüsse schlagen sich in mehreren Ländern bereits in Turbulenzen auf den Devisenmärkten oder beginnenden Finanzkrisen nieder, weil die Finanzsysteme dieser Staaten stark vom Import von Kapital und Investitionen leben.

Bedrohlich scheint die aktuelle Situation besonders für die Türkei zu sein. Die Landeswährung Lira hat ihren Mitte Januar begonnenen Sinkflug zu Dollar und Euro (damals 5,80 Lira für einen Dollar) in den vergangenen Tagen verstärkt und pendelte am Freitag um die Marke von 7 Dollar. Der Kapitalabfluss stellt für das Land ein strukturelles Problem dar, weil die Volkswirtschaft stark vom Kapital- und auch Warenimport abhängig ist. Die Abwertung der Lira zu den harten Währungen heizt die Inflation im Land an, weil Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland teurer werden und die Mehrkosten an die Kunden oder Konsumenten weitergegeben werden. Dass die Schwäche der türkischen Volkswirtschaft und ihres Finanzsystems struktureller Natur ist, zeigt sich auch daran, dass der Abwertungslauf der Lira bereits 2013 begonnen und sich seitdem intensiviert hat.

Einige Beobachter erkennen in der aktuellen Krise überdies ein erhebliches politisches Risiko für die seit vielen Jahren herrschende AKP-Regierung von Präsident Recep Tayyib Erdogan, weil ein abruptes Ende des Wohlstandesversprechens – welches den Türken seit Anfang der 2000er Jahre in Aussicht gestellt und von vielen auch realisiert wurde – sich nun in Luft auflösen und die Stimmung gegen die AK-Partei wenden könnte. Denn es war Erdogan persönlich, welcher die unabhängige Zentralbank des Landes mehrmals öffentlich aufgefordert hatte, die Leitzinsen zu senken, obwohl die Lira bereits im Jahr 2018 bedrohlich an Wert verlor. Als der Zentralbankdirektor nicht spurte, wurde er entlassen und durch einen hörigen Nachfolger ersetzt. Erdogan hat sich zudem mit dem Internationalen Währungsfonds überworfen – ein bei Betrachtung der oft zwiespältigen Geschichte des Fonds durchaus verständlicher Akt – Hilfe aus Washington dürfte also ausbleiben.

Die Zeitung Ahval kommentiert die Situation folgendermaßen:

„Die Inflationsrate der Türkei von 12 Prozent ist drei Mal höher als der Durchschnitt der Entwicklungsländer. Zugleich wurden im Vorlauf der Präsidentschaftswahlen und danach zur Bekämpfung der Währungskrise dutzende Milliarden Lira an Zentralbank-Reserven verbraucht. Das Haushaltsdefizit hat sich gemessen an der Wirtschaftsleistung auf 4 Prozent verdoppelt. Zudem floss immer weniger ausländisches Kapital ins Land. In den vergangenen 10 Monaten hat die Zentralbank ihre Reserven aufgebraucht, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Inflation einzudämmen. Restriktionen bei Währungs-Tauschgeschäften („Swap-Geschäfte“), diese Woche erst noch einmal verschärft, machen es der Türkei beinahe unmöglich, an harte Währungen zu kommen. Die Leitzinssenkungen der US-Zentralbank Federal Reserve haben den Kurs der Lira nicht gestärkt, wodurch angezeigt wird, dass das Angebot an ausländischer Währung die Nachfrage nicht decken kann. Die Bemühungen der Regierung, Swap-Vereinbarungen mit den USA und der EU zu vereinbaren, scheinen nicht zu fruchten. Die AKP-Regierung erfährt gerade auf die harte Tour, dass die Aufhebung der Unabhängigkeit der Zentralbank die Türkei nicht nur handlungsunfähig im Kampf gegen die Inflation hat werden lassen, sondern dass sie auch außerhalb internationaler Vereinbarungen steht.“

Auch im ebenfalls immens vom Kapital- und Warenimport der Auslandslibanesen abhängigen Libanon brennt es derzeit gewaltig. Das Land hatte vor Kurzem faktisch den Staatsbankrott erklären müssen, weil es seit Monaten von einer massiven Banken- und Währungskrise heimgesucht wird. Die Landeswährung des Zedernstaates pendelt offiziell noch um den Wert von 1500 Pfund zum Dollar – auf dem Schwarzmarkt, welcher ein weit realistischeres Bild der Situation als die offiziellen Kurse zeichnet, sind die Wechselkurse längst über 3000 Pfund gestiegen. Wie die Gulf News schließlich am Freitag berichteten, setzte die Zentralbank den neuen Wechselkurs des libanesischen Pfund zum Dollar auf 3.625 Pfund fest.

Schlagzeilen machten zuletzt auch Südafrika, weil die Landeswährung Rand stark gegenüber Dollar und Euro abwertete. Am Freitag lag der Dollar-Kurs bei rund 19 Rand, nachdem er zu Jahresbeginn noch bei etwa 14 Rand lag. Die Regierung hatte am Mittwoch ein Investitionspaket in Höhe von umgerechnet 26 Milliarden Dollar zur Bekämpfung der Coronakrise geschnürt, welches zu großen Teilen aus Neuschulden von IWF und Weltbank, aber auch von der Schwellenlandbank BRICS New Development Bank und der African Development Bank gespeist werden soll, wie Eyewitness News berichtet.

Der Wechselkurs der indonesischen Rupie war mit 16,73 Rupien Mitte April unterdessen fast wieder auf das Allzeittief zum US-Dollar aus dem Jahr 1998 – dem Höhepunkt der Asienkrise – bei 16,85 Rupien gefallen. Derzeit pendelt der Kurs um etwa 15,40 Rupien, hat sich also leicht erholt. Die Zentralbank des südostasiatischen Landes musste in den vergangenen Tagen massiv am heimischen Devisen- und Anleihemarkt intervenieren, um den durch den Kapitalabfluss verursachten Währungsverfall auszugleichen. Angaben der Notenbank zufolge sollen ausländische Investoren in den vergangenen Tagen umgerechnet rund 9 Milliarden Dollar an Staatsanleihen und Aktien verkauft haben. Die Währungsreserven der Zentralbank sind als Folge der Interventionen (Käufe von Rupien, Käufe abgestoßener Staatsanleihen) allein im März um 9,4 Milliarden Dollar gesunken, wie FX Street berichtet.

Auch der brasilianische Real wertet seit Ende Januar gegenüber Dollar und Euro stark ab. Lag der Dollarkurs damals noch bei 4,17 Real, so stand er am Freitag bei 5,67 Real. Die Währung des Nachbarlandes Argentinien befindet sich hingegen aufgrund des Staatsbankrottes seit Monaten im Sinkflug. Zuletzt notierte der Dollarkurs um 66 Peso - im Sommer 2019 waren es noch 40 Peso und Anfang 2016 noch rund 10 Peso.

Die hier kurz angesprochenen Staaten sind bei Weitem keine Einzelfälle. Kapitalabflüsse haben auch in zahlreichen anderen Staaten zu Währungsturbulenzen und beginnenden Finanzkrisen geführt. Die japanische Großbank Nomura listet in ihrem „Damokles-Index“ Länder auf, die besonders stark von einer Währungskrise bedroht sind. Dazu gehören unter anderem Ägypten, die Ukraine, Sri Lanka und Pakistan. „Viele Währungen von Schwellenländern haben im laufenden Jahr enorm an Wert eingebüßt. In normalen Zeiten, würde dies zu einer Unterbewertung der Währungen (und attraktiven Spekulationsmöglichkeiten für Investoren – die Red.) führen, aber dies sind keine normalen Zeiten“, wird Nomura von Philstar Global zitiert.

Bemerkenswert: Dem Damokles-Index zufolge müssen sich die Entwicklungsländer Philippinen, Indien, Bulgarien, Peru, Russland und Thailand derzeit so gut wie keine Sorgen um eine Währungskrise machen.

Die Federal Reserve öffnet die Dollar-Schleusen

In dieser Situation kommt die Federal Reserve ins Spiel. Die US-Zentralbank hatte in einer Notmaßnahme in den vergangenen Wochen spezielle Währungs-Swaps mit mehreren Staaten freigeschaltet, um diese mit US-Dollar zu versorgen. Genauer gesagt können Zentralbanken aus diesen Ländern ihre Landeswährung in Dollar eintauschen, um wiederum ihre Märkte mit der Weltleitwährung – welche im globalen Handel noch immer eine faktische Monopolstellung besitzt – zu versorgen.

Wie Greg Rosalsky auf NPR.org berichtet, hatte die Federal Reserve bereits im März mit 14 Zentralbanken (unter anderem aus Südkorea, Australien, Japan, Mexiko und Norwegen) Währungs-Swaps vereinbart. Das bestehende Swap-Abkommen mit der Europäischen Zentralbank wurde ausgeweitet. Zudem erlaubt die Fed nun rund 170 Staaten, ihre in Besitz befindlichen US-Staatsanleihen kurzfristig als Sicherheit für Repo-Dollarkredite zu hinterlegen.

Die Swap-Abkommen und die starke Nachfrage nach Dollar-Liquidität zeigen den einzigartigen Status an, den die US-Zentralbank im Weltfinanzsystem innehat, weil sie als einzige Institution die noch immer unbestrittene Weltleitwährung aus dem Nichts erschaffen kann. Eine Folge davon ist auch der Umstand, dass die Staatsverschuldung der USA in den vergangenen Jahren enorm angestiegen ist, ohne sich negativ auf die Bonität des Landes auszuwirken.

Rosalsky schreibt: „Das ist ein Privileg, denn obwohl die Regierung historische Haushaltsdefizite zu verantworten hat, existiert weiterhin eine riesige Nachfrage nach Dollar und US-Staatsanleihen in Dollar, welche es wiederum ermöglicht, offenbar unbegrenzt neue Schulden aufzunehmen, um die Defizite zu finanzieren. ‚Der Umstand, dass unsere Schulden in unserer eigenen Währung denominiert sind, verhindert die Panik. Wir sind in einer sehr vorteilhaften Situation‘, sagte dazu der Ökonom Kenneth Rogoff einmal.“

Diese exorbitante finanzielle Macht und Verantwortung der Fed für die Welt vermischt sich mit geopolitischen Überlegungen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Staaten wie der Iran, Russland und China keinen Zugang zu Dollar-Swaps erhalten, weil sie als geostrategische Rivalen oder sogar Feindstaaten klassifiziert wurden. NPR weist zudem darauf hin, dass nur Mexiko und Brasilien aus dem Lager der Schwellenländer bisher Swap-Zugänge erhalten haben.

Der weitere Gang der Entwicklungen ist im Einzelfall schwer abzuschätzen. Sicher ist, dass es im laufenden Jahr zu einem starken Einbruch der Weltwirtschaft kommen wird, von dem einige Staaten mehr als andere betroffen sein werden. Die über den ganzen Globus aufgespannten finanziellen Verflechtungen – deren genauer Umfang und Beschaffenheit oft gar nicht exakt abgeschätzt werden kann – und der Bruch wichtiger Lieferketten werden aber dafür sorgen, dass die nun beginnende Krise global sein wird.


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