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Das multipolare Zeitalter beginnt: Europa will zur souveränen Großmacht aufsteigen

Lesezeit: 10 min
07.06.2020 08:01
In der EU zeichnet sich endlich eine verstärkte Bereitschaft ab, als ernstzunehmender Spieler im geopolitischen Ringen zwischen den Großmächten zu agieren. Scheitert man, droht Brüssel zwischen den Polen Washington und Peking zerrieben zu werden.
Das multipolare Zeitalter beginnt: Europa will zur souveränen Großmacht aufsteigen
Vor dem leuchtenden Morgenhimmel steht die Statue von Preußenkönig Friedrich II. in Letschin (Märkisch-Oderland). (Foto: dpa)

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Die Europäische Union soll nach dem Willen wichtiger Funktionäre zu einer ernstzunehmenden Kraft im geopolitischen Wettbewerb der Großmächte ausgebaut werden. Voraussetzung dafür ist eine genaue Formulierung und auch Durchsetzung eigener geopolitischer Interessen und Ziele – auch gegen den Druck traditioneller Verbündeter wie den USA oder attraktiver Handelspartner wie China.

Seit einigen Jahren schon mehren sich die Anzeichen für tektonische Machtverschiebungen auf dem Globus und eine Neuordnung der internationalen Beziehungen, auf welche Europa reagieren muss. Ausgelöst wurden diese Umbrüche im Weltgefüge zum Teil durch die neuartige, strikt auf die nationalen Interessen der USA abzielende Politik von Präsident Donald Trump, zum Teil durch den Aufstieg Chinas zu einer die Supermacht USA herausfordernden Alternative und zum Teil durch die Politik von Mittelmächten wie der Türkei, deren Politik die EU vor verschiedene Probleme stellt (etwa beim Gasstreit im Mittelmeer, der Migrationsfrage oder dem Stellvertreterkrieg in Lybien).

Bei der Führungsriege der EU in Brüssel scheint in den vergangenen Monaten die Einsicht gereift zu sein, dass die Europäer in dem rauer werdenden Klima – manche Beobachter sprechen vom Ende der Globalisierung – nur bestehen werden können, wenn sie selbst im Konzert der Mächte eine kraftvolle, eigenständige Position einnehmen und gegen Widerstände vertreten.

So warb der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Ende 2019 zu Beginn seiner Amtszeit bei den Mitgliedstaaten für eine offensivere und machtbewusstere europäische Außenpolitik. „Wir müssen häufiger die Sprache der Macht sprechen - nicht um zu erobern, aber um einen Beitrag zu einer friedlicheren, wohlhabenderen und gerechteren Welt zu leisten“, schrieb der Spanier damals. Derzeit erlebe die Welt die Wiedergeburt des geostrategischen Wettbewerbs, in dem sich vor allem China, Russland und die USA in einem großen Machtspiel gegenüberstünden. Die Europäische Union habe nun die Wahl, ob sie Spieler oder lieber Spielfeld sein wolle, heißt es in dem Schreiben. „Der Handel, Technologien, Geld und Daten werden als Waffe genutzt.“ Dieses Spiel dürfe nicht mitgespielt, aber auch nicht ignoriert werden. „Deswegen müssen wir nicht nur in der Lage sein zu reagieren, sondern auch zu agieren und sich entgegenzustellen, wenn es notwendig ist.“

Bundesaußenminister Heiko Maas und mehrere andere Kollegen äußerten damals Unterstützung für die Sicht Borrells. „Wir wollen nicht auf den Zuschauerbänken sitzen bei der Weltpolitik“, sagte Maas. Die Europäische Union sei global ein Machtfaktor und müsse diese Rolle auch wahrnehmen. Litauens Außenminister Linas Linkevicius sagte, die EU müsse klare und starke Positionen einnehmen. Wenn Erklärungen nebulös seien, werde dies von außen als Schwäche gesehen. Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg kommentierte, man rede schon seit Jahren davon, von einem „Global Payer“ (globalen Zahler) zu einem „Global Player“ (globalen Spieler) werden zu wollen. Es brauche dafür aber den Willen, die zur Verfügung stehenden Instrumente auch zu nutzen.

Das Ende des „Alten Westens“

Am erstaunlichsten und geopolitisch neben dem Aufstieg Chinas auch am bedeutsamsten ist die inzwischen offen sichtbare Entfremdung zwischen den kulturell eng verbundenen und seit Ende des Zweiten Weltkrieges auch politisch und wirtschaftlich einheitlich agierenden Machtblöcken der Vereinigten Staaten von Amerika und Europa – maßgeblich repräsentiert durch die EU.

Eine Vielzahl von Streitfragen hat inzwischen dazu geführt, dass diese alte westliche Allianz brüchig geworden ist. Dazu gehört der Handelskrieg, welchen die US-Regierung unter Präsident Donald Trump seit der Amtseinführung im Jahr 2016 nicht nur gegen China, sondern in abgeschwächter Form auch gegen die EU führt. Zum Repertoire gehören hier beispielsweise Strafzölle gegen europäischen Stahl, Aluminium, verschiedene Lebensmittel, Flugzeuge, Bagger und kleinere Werkzeuge wie Objektive sowie die in Verhandlungen gerne eingesetzte Drohung, Importzölle gegen europäische Autobauer zu erlassen. Hier sei angemerkt, dass diese Initiativen Trumps nicht etwa – wie von einigen deutschen Medien pauschal dargestellt – aus Abneigung oder Ignoranz resultieren, sondern aus dem Bestreben, die durch die Globalisierung zweifellos entstandenen Schäden für die Amerikaner („Outsourcing von Arbeitsplätzen und Produktion nach Übersee, Entstehung einer negativen Handelsbilanz) zu beheben.

Die Abkopplung der transatlantischen Verbindungen geht über den Bereich der Wirtschaft hinaus und hat sich inzwischen in strukturellen und institutionellen Brüchen in der globalen Architektur niedergeschlagen.

Der vor einigen Tagen verkündete Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation ist so ein institutioneller Bruch. Begründet wurde er mit dem Vorwurf, die WHO sei zum Spielfeld der Politik Chinas und privater Multimilliardäre wie Bill Gates geworden, welches man nicht länger finanzieren werde. In der Causa WHO versucht die EU, sich gegen die Trump-Administration zu profilieren und steht damit ohne es zu wollen letztendlich auch im Lager des weiterhin an globalen Einrichtungen festhaltenden Chinas. So forderte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen Trump auf, den angekündigten Bruch mit der WHO zu überdenken. Im Kampf gegen das Coronavirus helfe nur globale Zusammenarbeit und Solidarität. „Die WHO muss weiter in der Lage sein, die internationale Reaktion auf jetzige und künftige Pandemien anzuführen“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Dafür nötig sei die Teilnahme und Unterstützung aller. „Alles, was internationale Ergebnisse schwächt, muss vermieden werden. In diesem Kontext drängen wir die USA, ihre angekündigte Entscheidung zu überdenken.“

Schwerwiegender als der Austritt aus der aus guten Gründen umstrittenen WHO ist die ebenfalls durch die US-Regierung verursachte Blockade des Streitschlichtungsmechanismus der Welthandelsorganisation WTO. Indem einfach keine neuen Richter nominiert wurden, wurde die Institution zur Beilegung von Handelskonflikten der WTO-Mitgliedsländer durch die USA gelähmt. Überhaupt zeigt der gegen China geführte Handelskrieg, dass die WTO in allen Themen mit amerikanischer Beteiligung praktisch obsolet geworden ist. Die gegen chinesische Waren verhängten Importzölle sind nach dem Standard der WTO ebenso illegal wie die einseitig gegen unliebsame Staaten erlassenen Sanktionen – Maßnahmen, welche allein auf Basis eigener Interessen und nicht auf Grundlage internationaler Vereinbarungen getroffen wurden. Ein Beispiel hierfür ist auch der Rückzug der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran, China und mehreren europäischen Ländern und die anschließend daran folgende Wiederaufnahme des Wirtschaftskrieges, in dem die Europäer trotz ihrer Verurteilung des US-Rückzuges nicht eindeutig positioniert hatten.

Noch scheut es die Führungsriege in Brüssel, sich aktiv mit Kontermaßnahmen gegen die US-Regierung zu stellen – ein wachsendes Misstrauen und Appelle zu mehr europäischer Autonomie sind aber inzwischen unüberhörbar auch in der politischen Mitte zu vernehmen. Sinnbildlich dafür steht noch immer die Einschätzung von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2017: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt“, sagte sie damals nach einem turbulent verlaufenen G7-Gipfel. „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“

Zuletzt bot der Ausstieg der USA aus dem Ost-West-Abkommen über militärische Beobachtungsflüge („Open Sky“) eine entsprechende Plattform für die Europäer, den Partnern in den USA ihre abweichende Meinung zu sagen. Außenminister Maas erklärte, man werde sich dafür einsetzen, „dass die US-Regierung ihre Entscheidung noch einmal überdenkt“. Kritik an Maas äußerte der US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell. „Anstatt sich über die Reaktion der USA zu beklagen, hätte Heiko Maas in den letzten Jahren den Druck auf Russland erhöhen sollen, seinen Verpflichtungen nachzukommen.“ Apropos Grenell: Die massiven Attacken der US-Regierung gegen das europäisch-russische Energieprojekt Nordstream 2 gehört ebenfalls in die Serie der transatlantischen Brüche und ist bei genauerer Betrachtung sogar gefährlich für den Fortbestand der Union, weil ganz bewusst die unterschiedlichen Interessen der europäischen Regierungen und historische Vorbelastungen ausgenutzt werden.

Die USA hatten unter Trump noch zahlreiche weitere internationale Abkommen verlassen, welche Europa betrafen oder von der EU unterstützt wurde. Neben dem bereits erwähnten Atomabkommen mit dem Iran handelt es sich dabei beispielsweise um das Pariser Klima-Abkommen und den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen. Letzterer war noch von den USA und der Sowjetunion geschlossen worden und war für Europa der wichtigste Vertrag zur atomaren Abrüstung.

Fraglich bleibt, ob die Entfremdung zwischen USA und EU nach dem Ende der Präsidentschaft Trumps unter einer neuen Administration rückgängig gemacht werden kann oder ob bereits Strukturen so grundlegend verändert wurden, dass beide Machtblöcke künftig ihre eigenen Wege gehen werden.

China – strategischer Rivale und neue Weltmacht im Osten

Ambivalent wie das transatlantische Verhältnis ist auch die Beziehung der EU zu China. Während man das Land in den vergangenen Jahren in erster Linie aus wirtschaftlicher Perspektive als riesigen Absatz- und Zukunftsmarkt schätzte, scheint in den vergangenen Monaten eine politische Dimension der Vorsicht und sanften Ablehnung hinzugekommen sein. Verstärkt wurde diese nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie, die ihren Anfang in China nahm und die schließlich auch zur Propaganda-Bühne des geopolitischen Machtkampfes zwischen Washington und Peking mutierte.

Die Geostrategen in Brüssel störte in der Corona-Zeit besonders die chinesischen Hilfslieferungen für stark betroffene Staaten wie Italien, welches überdies auch aus Russland Fachkräfte und medizinisches Gerät bekam. Weil sich viele Italiener zu Beginn der Krise von ihren EU-Partnerstaaten im Stich gelassen fühlten und das „Image“ von China und Russland in der Bevölkerung verbesserte, wurden Fragen nach Art und Zukunft der geopolitischen Beziehung beider Wirtschaftsgiganten drängender.

Die Grundlagen für eine konfrontativere Haltung der EU zu China wurden Anfang des vergangenen Jahres gelegt, als die EU-Kommission das Land in einer neu ausgearbeiteten Strategie als „strategischen Rivalen“ bezeichnete, welcher sein Modell des Staatskapitalismus weltweit propagieren wolle und deshalb praktisch in einem Systemwettstreit mit den liberalen (USA und Großbritannien) oder sozialen (etwa Deutschland und Österreich) Marktwirtschaften des Westen stehe.

Der europäische Außenbeauftragte Borrell unterstrich erst kürzlich die offizielle Einschätzung, dass die EU in einem System-Wettkampf mit China steckten. „Es gibt eine zunehmende Konfrontation zwischen China und den USA. Dies ist etwas, was die künftige Welt bestimmen wird. (…) Die EU ist in dieser Auseinandersetzung nicht neutral. Wir teilen mit den USA das gleiche politische System und wir wollen das politische System Chinas nicht übernehmen“, wird Borrell vom EU-Observer zitiert.

Mit Unbehagen sieht man in Brüssel überdies, dass die Chinesen ihren Einfluss in Ost- und Südosteuropa in den vergangenen Jahren ausbauen konnten und diesen über das Format „16+1“ seit 2012 kontinuierlich bearbeiten. So dient der Hafen von Piräus nicht nur als europäischer Brückenkopf für die „maritimen Seidenstraße“ innerhalb des chinesischen Seidenstraßen-Projekts, sondern der staatliche Cosco-Konzern aus China besitzt auch 51 Prozent der Anteile an der Betreibergesellschaft. Nebenbei sei angemerkt, dass der einst unbedeutende Hafen seit dem Einstieg der Chinesen einen beispiellosen Boom erfahren hat, welchen man im von der Euro-Finanzkrise arg gebeutelten Griechenland durchaus interessiert beobachtet.

Der wachsende Einfluss Chinas - aber auch Russlands, der Türkei und einiger arabischer Staaten - auf dem Balkan war nicht zuletzt auch der Grund, warum nach kurzen aber heftigen Diskussionen EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien eingeleitet wurden. Man wollte beiden Ländern möglichst schnell eine europäische Perspektive geben, um den Einfluss der geopolitischen Rivalen einzudämmen. Das Thema brach beim Gipfel zwischen der EU und den Westbalkanländern Anfang Mai wieder auf. Beitrittsgespräche mit dem von mafiösen Strukturen regierten Kosovo und Bosnien-Herzegowina wurden zwar auf unbestimmte Zeit verschoben und mehr Reformanstrengungen gefordert. Nachdem der serbische Präsident in der Coronakrise aber öffentlich erklärte, dass es keine europäische Solidarität gebe und China und Russland für ihre Hilfslieferungen lobte, forderte die EU-Kommission, dass die Regierungen der Westbalkanstaaten ihren Bürgern das eilig geschnürte Hilfspaket im Umfang von 3,3 Milliarden Euro aktiver kommunizieren sollten.

Das verbindende Element zwischen China und Europa ist dagegen zweifellos die wirtschaftliche Kooperation, welche beiden Seiten in der Vergangenheit große Vorteile bescherte. Zwar waren die USA im Jahr 2019 vor China noch der wichtigste Handelspartner der EU (744 Milliarden Euro an Importen und Exporten). Bei den Importen steht China allerdings vor den USA bereits auf Rang eins (20 Prozent aller Importe in die EU) und seit 2010 hat sich das Handelsvolumen zwischen der EU und China auf rund 16 Prozent gemessen am Gesamthandel der EU mit der Welt etwa verdreifacht, während jenes mit Amerika im Verlauf der Jahre deutlich auf nun etwa 18 Prozent zurückgegangen ist.

Das man in Brüssel fortan aber nicht mehr gewillt ist, für Washingtons geopolitische Auseinandersetzungen mit Peking in die Bresche zu springen und dadurch möglicherweise sogar wirtschaftlichen Schaden zu nehmen, zeigt die Episode um das chinesische Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungszone Hongkong. Während die US-Regierung die Abschaffung zahlreicher diplomatischer, politischer und wirtschaftlicher Sonderprivilegien für Hongkong ankündigte, gibt es außer einigen Appellen und offiziellen Bekundungen keine harten Maßnahmen von Seiten der EU.

Bei Beratungen der EU-Außenminister habe nur ein einziges Mitgliedsland das Thema Strafmaßnahmen angesprochen, teilte der Außenbeauftragte Borrell mit. Auch er selbst denke nicht, dass Sanktionen der richtige Weg seien, um die aktuellen Probleme mit China zu lösen. Zuvor hatte bereits die Bundesregierung erkennen lassen, dass sie Sanktionen ablehnt. „Es gibt vieles, über das wir mit China sprechen wollen und sprechen müssen“, sagte Außenminister Heiko Maas. Der für September geplante EU-China-Gipfel sei dafür eine gute Gelegenheit. Borrell betonte, man müsse die Werte der EU bewahren, aber gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen verteidigen. Welcher EU-Staat sich Sanktionen vorstellen könnte, sagte er nicht. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur soll es sich dabei um Schweden handeln.

Die EU und der „Dritte Weg“

Borrell zeichnete die neue außenpolitische Gesamtstrategie – welche ein großer Teil der Mitgliedsstaaten offenbar prinzipiell unterstützt – vor wenigen Tagen noch einmal nach. „Wir müssen bis zu einem bestimmten Grad autonom bleiben, um unsere Interessen zu verteidigen.“ Die EU wolle ihre wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen mit China nicht wie die USA beschädigen und auch den Pfad des Multilateralismus nicht verlassen – insbesondere, weil auch China eine größere Rolle in multilateralen Organisationen spielen wolle. „Wir müssen nicht zwischen den USA und China wählen. Einige Leute drängen uns, zu wählen, aber wir müssen uns nicht entscheiden, es ist wie in Frank Sinatras Lied ‚My Way‘. Wir haben unsere eigenen Interessen und wir sollten diese verteidigen“, sagte Borrell.

Bezeichnenderweise lehnen es auch viele asiatische Länder wie die EU ab, zwischen Peking oder Washington wählen zu müssen. So schlug Singapurs Regierungschef Lee Hsien Loong vor einigen Tagen in einem Gastbeitrag in der Fachzeitschrift Foreign Affairs die Gründung eines regelbasierten multilateralen Formats vor, innerhalb dessen die USA und China ihre Probleme lösen sollten. „Die Länder des pazifischen Asiens wollen nicht gezwungen werden, zwischen den Vereinigten Staaten und China zu wählen. Sie wollen gute Beziehungen zu beiden entwickeln.“ Lee warnte: Sollten die USA versuchen, China einzudämmen oder sollte China eine ausschließliche Einflusszone schaffen, „dann werden die beiden Staaten auf einen Kollisionskurs geraten, der Jahrzehnte dauern wird und das vielgelobte ‚asiatische Jahrhundert‘ zerstören“ werde.

Die Corona-Krise könnte sich vor diesem Hintergrund entweder als Beschleuniger der Unabhängigkeit Europas im Konzert der Mächte und des Aufstieges einer geopolitisch handelnden Union, oder aber als Spaltpilz, erweisen. „Dies ist eine existenzielle Krise für die EU“, sagte Borrell in einem Interview. „Diese Krise wird entscheiden, für wie nützlich die Menschen die EU halten.“ Borrell nannte Beispiele: Deutschland, Frankreich und Österreich hätten zusammen viel mehr Atemmasken nach Italien geschickt als China und Russland. Seine Mitarbeiter hätten Tag und Nacht gearbeitet, um zusammen mit den EU-Staaten mehr als 420.000 im Ausland gestrandete EU-Urlauber zurückzuholen. Zum Teil seien die Flüge von der EU finanziert worden. „Aber wie viele Menschen wissen das?“ Borrell sagte, er glaube, erwarte und hoffe, „dass diese Krise zu einem neuen Integrationsschub führen wird“.

Es existieren Prognosen, wonach der sich anbahnende neue Kalte Krieg zwischen China und den USA zu einer Zweiteilung der Welt führen wird. Beide Großmächte würden dann enormen Einfluss auf die Staaten ihres Lagers über die jeweiligen Handels-, Innovations-, Militär- und Infrastrukturen ausüben. Es ist der Europäischen Union zu wünschen, dass sie mit ihrem Ziel der Selbstbehauptung unter den Großen Erfolg haben wird. Andernfalls könnte sie entweder zu einem Juniorpartner innerhalb eines Lagers degradiert oder zwischen den rivalisierenden Kräften zerrieben werden.

Erfreulich ist, dass sich erste Anzeichen der angestrebten strategischen Unabhängigkeit Europas von den anderen Machtblöcken materialisieren – beispielsweise in Form des europäischen Datenstrukturprojekts Gaia-X. Dazu schreibt die Beratungsfirma Solvecon im Forex-Report:

Voller Demut sind wir glücklich, dass die EU begonnen hat, sich von nicht tolerierbaren Abhängigkeiten zu emanzipieren. Nur wer seine Daten kontrollieren kann, ist souverän! Der europäische „IT-Airbus“ gewinnt an Kontur. Das deutsch/französische Projekt Gaia-X hat unter anderem zum Ziel, Daten auf Servern in Europa zu speichern. Wirtschaftsminister Altmaier und sein französischer Kollege Le Maire gaben gestern den Startschuss. Anfang 2021 soll Gaia-X operativ am Markt sein und europäischen Firmen eine Alternative zu Anbietern der USA oder China geben. Der Chef der IT-Beratungsfirma Atos betonte: „Wir haben den Kampf um die Daten der Verbraucher verloren. Die nächste Welle, die vor und nicht hinter uns liegt, sind die Unternehmensdaten.“

Zum Start des europäischen Cloud-Projekts sprach sich auch der Deutschlandchef von Hewlett Packard für eine bessere Datenhoheit in Europa aus. Wir stimmen zu. Es geht um Datensicherheit und um Datenvermarktung. Gaia-X basiert auf einer deutsch-französischen Initiative. Treibende Kräfte sind SAP, die Deutsche Telekom, Siemens, Bosch und Atos. 20 Arbeitsgruppen arbeiten an Anwendungen. Dazu gehören die Bereiche Industrie, Gesundheitswesen, Finanzen und Energie. Man erwartet, dass Staaten am Anfang große Auftraggeber sein werden, um das Projekt in Schwung zu bringen. BDI-Expertin Plöger sagte, Gaia-X müsse so schnell wie möglich ein gesamteuropäisches Projekt werden. Dieses Projekt kann nur der Anfang sein. Kontinentaleuropa hat alle Ressourcen, sehr viel mehr in diesem Sektor zu leisten. Es ist bitter notwendig!


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