Politik

Pannen bei den Sicherheitsbehörden? Spurensuche nach Anschlag von Wien

Versuchter Munitionskauf, radikale Einstellungen: Nach dem Blutbad eines jungen IS-Anhängers in Wien häufen sich Fragen, ob die Sicherheitsbehörden versagt haben. Kontakte hatte der Täter wohl weit über Wien hinaus.
05.11.2020 18:02
Lesezeit: 3 min
Pannen bei den Sicherheitsbehörden? Spurensuche nach Anschlag von Wien
Auf den Straßen von Wien herrscht nach dem Attentat Ausnamezustand. (Foto: dpa) Foto: Ronald Zak

Der 20-jährige Attentäter von Wien war nach Überzeugung der Ermittler Teil eines radikal-islamistischen Netzwerks, das über Österreich hinausreicht. Neben zwei Festnahmen in der Schweiz liefen noch weitere Maßnahmen in einem anderen Land, sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Donnerstag in Wien, ohne Einzelheiten zu nennen. «Der Kampf gegen die mutmaßlichen Mittäter, Mitunterstützer, das Netzwerk des Terroristen ist bei weitem noch nicht abgeschlossen und wird mit aller Härte geführt», sagte er. Unter den bisher 15 Festgenommenen seien mehrere einschlägig vorbestrafte Verdächtige.

Drei Tage nach dem Anschlag mit vier Toten und mehr als 20 Verletzten debattierte das Parlament in einer Sondersitzung über Versäumnisse der Fahnder. Die Opposition warf vor allem der konservativen ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz das Abschieben von Verantwortung vor. «Vier Menschen sind tot, obwohl die Behörde klare Hinweise hatte, dass von dem Terroristen Gefahr ausgeht», sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Die slowakische Polizei hatte die Kollegen in Wien gewarnt, dass der IS-Sympathisant sich im Juli Munition für ein Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow in Bratislava besorgen wollte.

Kanzler Sebastian Kurz sah erneut eine Mitverantwortung bei der Justiz. «Es ist für die wenigsten Menschen verständlich, dass jemand, der sich dem IS in Syrien anschließen wollte, vorzeitig aus der Haft entlassen wird und weitgehend unbehelligt unter uns leben kann, nur weil er fälschlicherweise vorgibt, sich dem Terror abgewandt zu haben», sagte er.

«Er wurde unter strengen Auflagen für eine Zeit von drei Jahren unter Probe gestellt», betonte dagegen Justizministerin Alma Zadič vom grünen Koalitionspartner. Der 20-Jährige war im Dezember 2019 auf Bewährung entlassen worden. Nur dadurch sei eine verpflichtende Betreuung durch das Deradikalisierungsprogramm Derad möglich gewesen, so das Justizministerium. Die Justizanstalt informiere vor einer solchen Entlassung die Verfassungsschutzbehörden.

Entwarnung über die extreme Einstellung des Täters habe es bei seinem Bewährungsbetreuer nie gegeben, sagte Derad-Mitbegründer Moussa Al-Hassan Diaw der Deutschen Presse-Agentur in Wien. «Es gab keine Täuschung, weil unser Mitarbeiter zu keinem Zeitpunkt gesagt hat, dass der Mann deradikalisiert ist.» Das Netzwerk Derad übernimmt seit 2016 für das Justizministerium die Betreuung von Gefängnisinsassen, bei denen das Risiko einer Radikalisierung besteht.

Diaw sagte der dpa, dass der 20-Jährige sich laut seinem Betreuer verändert und Zweifel entwickelt habe, ob er selbst gläubig genug sei. Manche Betroffenen beteten dann intensiver, während andere zu Taten schritten oder aus dem Leben scheiden wollten. Der Betreuer habe das in einem seiner letzten Berichte an die Justizbehörden vor der Tat festgehalten. «Diese Sachen sind ihm aufgefallen. Was keinem aufgefallen ist, ist, dass er plant, in den nächsten Tagen vor Beginn des Lockdowns eine Bluttat zu begehen.»

Im Fall des versuchten Munitionskaufs hat die österreichische Polizei laut einem internen Dokument des slowakischen Innenministeriums am 10. September reagiert. Demzufolge wurde der Kaufinteressent als «wahrscheinlich» der spätere Attentäter mitsamt seiner Vorstrafe identifiziert. Das Auto, mit dem er und ein Beifahrer unterwegs waren, ordneten die Behörden der Mutter eines für seine «positive Einstellung zum Dschihad und zum Islamischen Staat» bekannten 21-Jährigen zu.

Der versuchte Munitionskauf des 20-Jährigen hätte im Regelfall zumindest zu einer Prüfung seiner Bewährung durch die Staatsanwaltschaft führen sollen, teilte das Justizministerium auf Anfrage mit. Wiens Polizeichef Gerhard Pürstl sagte am Donnerstag, die Behörden seien dabei gewesen, die slowakischen Hinweise auf die Identität des Kaufinteressenten näher zu überprüfen. «Wir glauben, hier gute Arbeit geleistet zu haben», sagte er.

Die offenen Fragen soll eine «unabhängige Untersuchungskommission» der Justizministerin und des Innenministers beleuchten. «Es ist die Kommission, die Klarheit schaffen soll und es ist noch nicht die Zeit, abschließende Befunde zu erstellen, welche Fehler wo gemacht wurden», sagte Nehammer. Er versprach, alle Schritte transparent und öffentlich darzustellen.

Von einer Reform des Verfassungsschutzes ist bereits jetzt die Rede. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung habe in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen Gründen massiven Schaden erlitten. Diesen Schaden gelte es zu reparieren, sagte Kurz. Das 2002 gegründete BVT analysiert unter anderem Bedrohungen etwa durch radikalen Islamismus und Rechtsextremismus. Spätestens seit 2018, als der FPÖ-Politiker Herbert Kickl Innenminister war, ist das BVT ins Zwielicht geraten. Ausländische Geheimdienste gingen auf Distanz.

Die Behörden präsentierten am Donnerstag weitere Details zum Ablauf des Einsatzes. Demnach wurde nach dem Notruf um 20.00 Uhr der Täter bereits drei Minuten später von einem Streifenpolizisten unter Feuer genommen. Nach der Tötung des 20-Jährigen um 20.09 Uhr durch Spezialkräfte habe erst ein Roboter die Leiche des Mannes untersucht, weil er einen Sprengstoffgürtel zu tragen schien, sagte der Chef der obersten Polizeibehörde, Franz Ruf. Medienberichte, dass gegen den Täter und den Kreis der Festgenommenen eine Razzia geplant gewesen sein soll, dementierten die Behörden.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Politik
Politik Abhängigkeit von US-Technologie: Welche Herausforderungen Europa jetzt meistern muss
02.11.2025

Technologie und digitale Souveränität stehen im transatlantischen Verhältnis zunehmend im Fokus. Europa nutzt US-amerikanische Systeme,...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersrente berechnen: So hoch ist die Maximalrente in Deutschland - unerreichbar für die meisten
01.11.2025

Im Alter gilt, je mehr Rente, desto besser. Doch selbst mit extra Schichten oder einem hohen Einkommen ist der maximale Betrag an...

DWN
Finanzen
Finanzen Zehn S&P 500‑Aktien mit Aufholpotenzial: So bewerten Analysten Chancen und Risiken
01.11.2025

Zehn S&P 500‑Aktien, die Analysten trotz schwächerer Jahresperformance als chancenreich einstufen, werden auf Wachstum, Bewertung und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lithium und die Energiewende: Wie der Rohstoff Elektronik und E-Mobilität vorantreibt
01.11.2025

Lithium gilt als das Metall unserer Zeit. Smartphones, Laptops und Elektroautos kommen ohne es nicht aus. Die Nachfrage steigt rapide,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Winzer unter Druck: Wie sich eine Branche neu erfinden muss
01.11.2025

Der deutsche Weinbau steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Sinkender Konsum, steigende Kosten und eine zunehmende...

DWN
Technologie
Technologie Wärmepumpen als Zeichen moderner Energieeffizienz: Wie KI ihre Leistung steigern wird
01.11.2025

Das Heizen wird künftig noch effizienter, kostengünstiger und komfortabler. Dank künstlicher Intelligenz werden Wärmepumpen in der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Fahrradverleih in Europa: Wie nachhaltige Mobilität jährlich 305 Millionen Euro bringt
01.11.2025

Fahrräder sind in vielen europäischen Städten längst Teil der urbanen Mobilität. Bikesharing bietet Vorteile über den reinen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chip-Markt: Neues Öl oder neue Bombe?
01.11.2025

Chips sind das Rückgrat der KI-Revolution. Doch hinter Rekorden und Milliardendeals wächst das Risiko. Ein Blick in die...