Weltwirtschaft

„Es ist eine Katastrophe“: Die ersten britischen Branchen verlieren den europäischen Markt – trotz Handelsabkommen mit der EU

Lesezeit: 6 min
08.01.2021 14:00
Das in letzter Minute ausgehandelte Handelsabkommen schützt viele britische Branchen offenbar nicht vor dem Verlust ihres europäischen Marktes. Das Land rutscht in die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
„Es ist eine Katastrophe“: Die ersten britischen Branchen verlieren den europäischen Markt – trotz Handelsabkommen mit der EU
Boris Johnson. (Foto: dpa)
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Wegen bürokratischer Hürden nach dem Vollzug des Austritts Großbritanniens aus der EU haben zahlreiche schottische Fischer den Export in die Europäische Union gestoppt. Sie beklagen eine tagelange Verzögerung der Lieferzeiten und eine erhebliche Erhöhung der Kosten. Trotz des Handelsabkommens mit der EU mache die Einführung von Gesundheitszertifikaten, Zollerklärungen und anderen Dokumentationsformalitäten die Geschäfte unrentabel, kritisierten Fischexporteure.

In der ersten Arbeitswoche nach dem britischen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt zum Jahreswechsel hätten Lieferungen, die bisher einen Tag gedauert hätten, drei oder mehr Tage benötigt, wenn sie überhaupt angekommen seien. Mehrfach sei nicht sicher nachvollziehbar gewesen, wo sich die Fracht befunden habe.

Der Handelsverband SB Fish riet den Fischern deswegen dazu, auf den Fang für Exportlieferungen zu verzichten. „Wir liefern ein frisches Produkt und die Kunden erwarten, es frisch zu bekommen, also kaufen sie nicht. Es ist eine Katastrophe“, sagte Verbandsvertreter Santiago Buesa der Nachrichtenagentur Reuters. Vor allem der Handel mit Lebensmitteln, Nutztieren und frischen Fleisch- und Fisch-Produkten ist von den bürokratischen Brexit-Hürden betroffen.

Ein Wirtschaftsabschwung in Schottland beinhaltet eine aus Londoner Sicht gefährliche politische Dimension. Denn in Schottland gärt es. In Umfragen befürwortet seit Monaten eine Mehrheit die Unabhängigkeit von Großbritannien. Die Schotten hatten 2016 deutlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Regierungschefin Nicola Sturgeon will nach einem erhofften klaren Votum für ihre Schottische Nationalpartei (SNP) bei der Regionalwahl im Mai als nächsten Schritt ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Das lehnt Johnson zwar strikt ab, aber das Momentum begünstigt die Nationalisten.

Ein Abschied Schottlands hätte womöglich eine Kettenreaktion zur Folge. Auch in Nordirland werden Stimmen für eine Vereinigung mit der Republik Irland lauter, und selbst in Wales, das bisher fest zur Krone stand, gibt es mittlerweile eine Unabhängigkeitsbewegung, die an Fahrt gewinnt. Nicht ganz ausgeschlossen also, dass aus Johnsons „Global Britain“ in einigen Jahren „Little England“ wird.

Der europäische Aktienhandel verlässt London

Auch an den Finanzmärkten wirkt sich der Bruch negativ für Großbritannien aus. So wurden am ersten Handelstag Aktiengeschäfte im Volumen von etwa 6 Milliarden Euro aus London abgezogen, berichtet die Financial Times.

Das Blatt berichtet: „Der Handel mit Aktien von Unternehmen wie Santander, Deutsche Bank oder Total wurde nach Europa oder gleich zu den Ursprungsbörsen wie Madrid, Frankfurt und Paris verlagert, wie aus Daten von Refinitiv hervorgeht – ein abrupter Umschwung für Londoner Investoren, welche sich daran gewöhnt hatten, Aktien in Europa länderübergreifend ohne Restriktionen zu handeln.“

Das Handelsvolumen europäischer Aktien in London ist zwar klein, wenn man es mit anderen Märkten wie Anleihen oder Finanzderivaten vergleicht und sein Verlust deshalb verschmerzbar. Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich Unternehmen in Zukunft lieber gleich in der EU statt wie geplant in Großbritannien niederlassen könnten, um von Beginn an im weitaus größeren Markt vertreten zu sein und sich stattdessen in Ruhe um die Formalien für den Zugang zum kleineren britischen Markt kümmern zu können.

Brexit wird auch im Supermarkt spürbar

In Nordirland bekommen Bürger den Brexit wenige Tage nach dem Ende der Übergangsphase bereits im Supermarkt zu spüren. „Die Menschen hier beschweren sich über leere Regale in den Supermärkten“, sagte die nordirische Konfliktforscherin und Brexit-Expertin Katy Hayward von der Queen's University Belfast der Deutschen Presse-Agentur. Insbesondere bei frischen Produkten komme es zu Störungen der Lieferketten. Unternehmen seien unsicher, welche Formulare bei der Einfuhr notwendig sind. „Viele merken, dass sie nicht vorbereitet sind“, so Hayward. Das sei nicht überraschend - normalerweise brauche es Jahre, um solche aufwendigen Veränderungen umzusetzen. Viele Firmen verschieben daher ihre Fahrten, was sich bei frischen Produkten als erstes bemerkbar macht.

Nach dem Brexit gelten für das zum Vereinigten Königreich gehörende Nordirland spezielle Regeln, die im sogenannten Nordirland-Protokoll festgehalten sind. Damit wird eine harte EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland vermieden, da durch eine solche das Aufflammen alter Konflikte zwischen den Landesteilen befürchtet wird. Nordirland ist damit enger an die EU gebunden und folgt weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts. Bei der Einfuhr von Waren aus Großbritannien nach Nordirland sind daher seit dem 1. Januar Zoll- und Zertifikatskontrollen fällig. Die entsprechenden Vorgaben sind jedoch erst knapp vor dem Jahreswechsel veröffentlicht worden.

Mark Simmonds vom Hafenverband British Ports Association hat bislang kein Chaos an der irischen Seegrenze zu beklagen, rechnet aber damit, dass das nicht so bleiben wird. „Einige Häfen haben Lastwagen zurückgeschickt. Aber die meisten Fernfahrer waren bislang vorbereitet. Die Sorge ist, dass das nicht so bleiben wird, wenn die Mengen zunehmen“, sagte Simmonds der dpa. Auch er berichtet, dass in der ersten Januarwoche vergleichsweise wenig Fracht die Häfen passiert hat. Pro Lastwagen veranschlagt der Verbandschef in diesem Fall rund fünf Minuten - wenn die Fahrer vorbereitet seien. „Aber selbst ein paar Minuten machen einen Unterschied.“

Auch der Handelsverband Northern Ireland Retail Consortium bestätigte, Unternehmen hätten Lieferungen nach Nordirland vorübergehend ausgesetzt. Von der Supermarktkette Tesco hieß es auf Anfrage, es gebe bei den Einfuhren einiger Produkte nach Nordirland Verzögerungen. „Aber wir arbeiten mit unseren Zuliefern zusammen, um diese (Produkte) so schnell wie möglich wieder in die Regale zu bekommen und Kunden, wo wir können, Alternativen anzubieten“, sagte eine Sprecherin.

Kulturschaffende betroffen

Wegen des Austritts aus der EU fürchten britische Konzertveranstalter deutlich höhere Kosten und bürokratischen Aufwand. Das Handelsabkommen, das Großbritannien mit der EU vereinbart hat, erlaubt EU-Bürgern zwar einen visumsfreien Arbeitsaufenthalt von bis zu sechs Monaten im Vereinigten Königreich. Sie dürfen allerdings nicht als Selbstständige arbeiten, auch nicht kostenlos, und keine Dinge verkaufen wie etwa Merchandise.

„Es würde 1800 Pfund (2000 Euro) Visagebühren kosten, um eine sechsköpfige Band zum Parklife-Festival zu bringen“, sagte der Mitgründer der Veranstaltung in Manchester, Sacha Lord, am Dienstag vor einem Parlamentsausschuss in London. „Das macht kleine Bands kaputt, es lohnt sich nicht.“ Lord sowie Anna Wade vom Boomtown-Festival warnten, dass dadurch Talente verloren gehen könnten.

Das Land rutscht in die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg

Die Abwärtsspirale begann mit dem Sinkflug von British Airways. Schon im Frühjahr strich die Airline 12 000 Stellen. Es folgten 4500 bei Easyjet, 5500 bei Cineworld, selbst die Supermarktkette Marks & Spencer baute 7000 Stellen ab. Die Briten mussten sich über das Jahr hinweg an die Hiobsbotschaften gewöhnen: Bis Ende November verloren seit Beginn der Pandemie in Großbritannien rund 819 000 Menschen ihre Arbeit - Tendenz steigend. „Die ökonomische Notlage hat gerade erst begonnen“, sagte Finanzminister Rishi Sunak im November bei der Vorstellung seines Haushalts für das kommende Jahr.

Noch fließen jede Menge staatliche Gelder. Das sogenannte "Furlough"-Programm, das der deutschen Kurzarbeit nachempfunden ist, läuft nach einer Verlängerung noch bis Ende April. „Viele Entlassungen werden dadurch verschoben“, erklärt der Ökonom Stefan Legge von der Universität Sankt Gallen. Die verheerende Wirkung der Pandemie dürfte sich daher erst im Frühjahr vollständig auf dem Arbeitsmarkt entfalten.

„Ich habe immer gesagt: Ich kann nicht jeden Job retten“, betonte Sunak Ende November im Londoner Unterhaus. Der konservative Politiker hatte schon zuvor seine Überzeugung durchblicken lassen, manches müsse auch die Dynamik des freien Marktes regeln. Womöglich würden Menschen auch nach der Pandemie häufiger von zuhause aus arbeiten oder sich ihr Essen und ihre Einkäufe vermehrt nach Hause bestellen, mutmaßt der britische Ökonom Andrew Lee von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg - was manchen Job in Gastronomie, Einzelhandel oder sogar der Luftfahrtbranche dauerhaft erledigen würde.

In aller Welt kostet die Pandemie nicht nur Leben, sondern auch wirtschaftliche Existenzen. Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hält für den deutschen Arbeitsmarkt Anfang Dezember fest: „Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind nach wie vor weit entfernt vom Vorkrisenniveau.“ So waren im November nach Angaben der Bundesagentur 519 000 Menschen mehr arbeitslos als noch ein Jahr zuvor, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag um 143 000 niedriger bei 33,8 Millionen.

Doch eines ist anders Großbritannien: Man kämpft neben der Pandemie noch mit einer anderen Jahrhundert-Herausforderung. „Nicht nur die Pandemie, sondern auch der Brexit sorgt dafür, dass die Unsicherheit sehr groß ist“, sagt Ökonom Lee.

Wie hart der Brexit die britische Wirtschaft langfristig treffen wird, ist schwer vorauszusagen. Premier Boris Johnson wird nicht müde, zu betonen, die britische Wirtschaft werde außerhalb der EU „mächtig florieren“. Die Prognosen der Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility sprechen eine andere Sprache: In ihrer aktuellen Prognose geht die Aufsichtsbehörde von 7,5 Prozent Arbeitslosen in Großbritannien Mitte des kommenden Jahres aus - vorausgesetzt schnelle Impfungen leiten den Anfang vom Ende der Corona-Ära ein. Für den Fall eines No-Deal-Brexits lag die Prognose des Office for Budget Responsibility sogar bei mehr als 8 Prozent. Aktuell liegt die Arbeitslosenquote bei knapp fünf, zu Beginn der Pandemie noch bei unter vier Prozent.

Das Furlough-Programm sorge zumindest bis zum Frühjahr für mehr Sicherheit bei den Konsumenten und Firmen, meint Experte Lee. „Ich erwarte danach eine Zunahme der Arbeitslosigkeit gepaart mit scharfer Kritik am Furlough.“ Die britische Variante der Kurzarbeit ist ein gröberes Instrument als sein Vorbild in der Bundesrepublik. Es ließ zu Beginn nicht einmal zu, dass Arbeitnehmer noch mit reduzierter Stundenzahl arbeiten können. Ganz oder gar nicht, so lautete die Devise, auch um Betrug zu verhindern.

Das machte das Programm nicht nur unflexibler, sondern auch deutlich teurer für den Staat. Später wurde es angepasst - für eine Rekordverschuldung sorgt es trotzdem. Noch nie hat Großbritannien zu Friedenszeiten so viele Schulden aufgenommen wie 2020. „Die unverantwortlichen Entscheidungen des Finanzministers in diesem Jahr haben Milliarden verschwendet, uns die schlimmste Rezession der G7-Länder beschwert und Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit gedrängt“, beklagte die für Finanzen zuständige Labour-Abgeordnete Anneliese Dodds und forderte die Regierung auf, sich auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu konzentrieren.

Wie der Winter auch weiter verläuft: 2021 dürfte es im Vereinigten Königreich so viele Arbeitslose geben wie seit langer Zeit nicht mehr. Wirtschaftsexperte Legge sieht darin ein Muster: „Die strukturellen Probleme werden in einer solchen Krise besonders sichtbar. In Ländern wie Großbritannien oder Italien zeigt sich dann, wie dünn die Struktur ist.“


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