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Experte: „Wir brauchen mehr Plattenbauten und Städte wie New York“

Wie werden die Städte von morgen aussehen, wie werden wir in Zukunft wohnen? DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph hat dazu den renommierten Architekten und Stadtplaner Christoph Kohl interviewt.
15.08.2021 10:00
Lesezeit: 8 min
Experte: „Wir brauchen mehr Plattenbauten und Städte wie New York“
Die Stadt der Zukunft. (Foto: CKSA)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kohl, Sie sind studierter Architekt und als Stadt- und Quartiersplaner tätig. Deshalb würden wir von Ihnen gerne wissen: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus beziehungsweise sollte sie aussehen? Und wie werden wir in Zukunft wohnen?

Christoph Kohl: Lassen Sie mich bitte erst mal erläutern, welchen Ansatz die Stadtplanung nicht weiterverfolgen sollte: Den der sogenannten „Smart City“. Dieser Begriff ist mit vielen Hoffnungen verknüpft und wird seit einiger Zeit von Stadtplanern, Politikern und Verwaltungsfachleuten inflationär verwendet. Ähnlich wie bei der „Nachhaltigkeit“, die der Gesellschaft den Begriff der „Beständigkeit“ abspenstig gemacht hat, geht es angeblich darum, die Stadt effizienter, grüner und sozial inklusiver zu gestalten. Doch in Wahrheit verbirgt sich hinter diesem Konzept der Versuch einer Reihe von digitalen Global Playern, ihre Produkte zu vermarkten – und natürlich auch, immer mehr Daten abzugreifen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: In der Smart City gibt es Kühlschränke, die ihrem Besitzer selbständig mitteilen, dass sie leer sind. Ein netter Gimmick – aber in keiner Weise dazu geeignet, uns dabei zu helfen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern.

Um Ihnen ein Bild davon zu verschaffen, was diese Herausforderungen sind, muss ich etwas weiter ausholen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wir bitten darum.

Christoph Kohl: Wir müssen uns darauf besinnen, wozu die Städte, ja auch die ersten Weiler, Siedlungen und Dörfer dienten: Nämlich, den Menschen Schutz zu gewähren. Gegen Feinde, gegen wilde Tiere, gegen die Unbill der Natur. Gut, vor Söldnertruppen sowie vor Bären und Schlangen bedürfen wir heute nicht mehr des Schutzes. Aber vor den Kräften der Natur – wie wir erst kürzlich wieder bei der verheerenden Hochwasser-Katastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen feststellen mussten.

Aufgrund der sich ändernden klimatischen Verhältnisse werden wir uns zunehmend mehr Bedrohungen durch die Natur gegenübersehen – dagegen können wir wenig tun, wir müssen akzeptieren, dass die Natur den Menschen beherrscht. Das heißt, die Menschen zogen und ziehen vom Land in die Städte, weil sie nur dort Sicherheit finden. Es geht dann in Zukunft nicht mehr darum, schönen grünen, technisch aufwendig und teuer herzustellenden und zu pflegenden Fassadenschmuck anzubringen und die Dächer mit Sonnenkollektoren auszustatten – wir können das Klima, das wir zunehmend als „unnatürlich“ empfinden, nun mal nicht mit städtebaulichen Mitteln reparieren. Nein, es geht darum, die Menschen in der schützenden Stadt auf Naturphänomene vorzubereiten; beispielsweise Straßenzüge so zu planen, dass sie sowohl Trockenheit als auch Flut standhalten. Mit anderen Worten: Gefragt ist nicht die Einführung irgendwelcher Gimmicks – wie Anbieter von smarten Versatzstücken anpreisen –, sondern die Umsetzung geeigneter städtebaulicher Maßnahmen. Wie vergleichsweise im 19. Jahrhundert, als durch Pionierbauten von Kanalisationen, öffentlichen sanitären Einrichtungen, etc. die Seuchengefahr gebannt und die Lebensumstände in den Städten entscheidend verbessert wurden.

Ich will Ihnen mal ein Beispiel für eine solche Maßnahme nennen: Neue Gebäude müssen zunehmend mit Flach- statt mit Schrägdach gebaut werden, nicht aus ästhetischen Überlegungen, sondern weil die Böden unserer Städte inzwischen so gründlich versiegelt sind, dass sie die Wassermassen nicht mehr aufnehmen können – und wir müssen ja nun mal mit immer mehr Starkregen rechnen. Möglicherweise werden wir sogar bereits vorhandene Schrägdächer in Flachdächer umwandeln müssen. Auf den neu erbauten Flachdächern ist Substratmasse aufzubringen, die einen Großteil des Wassers als Puffer aufsaugt, speichert und zeitversetzt abgibt.

Es ist notwendig, die Bevölkerungsdichte in der Stadt zu erhöhen, denn die Alternative – noch mehr Ausbreitung in der Fläche – würde die Umwelt noch weiter schädigen. Soziologisch betrachtet ist es wichtig, durch mehr Menschen in der Stadt mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und die Stadt auf allen Ebenen effizienter zu machen. Die überbaute Fläche am Boden und die Erstreckung der Dächer bleibt ja immer gleich groß, egal ob niedriger Bau oder hoher Bau. Logischerweise ist dadurch der CO2-Fussabdruck der Menschen proportional geringer, je mehr Bewohner es in den Etagen zwischen Fundament und Dachhaut gibt. Die Erhöhung der Dichte müssen wir also unter anderem dadurch bewerkstelligen, dass wir in die Höhe bauen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Verstehen wir Sie richtig? Sie wollen den Lebensraum in der Stadt verkleinern? Und mehr Hochhäuser errichten?

Christoph Kohl: Ihre Reaktion überrascht mich nicht. Die dünn besiedelte Stadt gilt schließlich als Ideal – sehen Sie sich mal in der Politik um, alle Parteien schwärmen davon, idealisieren letztlich das Einfamilienhaus.

Ich will natürlich nicht die Art von Verdichtung schaffen, die die Lebensqualität einschränkt. Mein Ziel ist es nicht, die Hinterhöfe vollzubauen, so dass den Menschen dort kein Raum mehr zum Atmen bleibt.

Ich möchte Folgendes: Straßen mit Blockrandbebauung (die Gruppierung von Gebäuden in – zur Straße hin – geschlossener Bauweise um einen großen Hof in der Mitte – Anm. d. Red.). In diesen Höfen können ergänzende Nutzungen errichtet werden – mit viel bodenwüchsigem Grün. Das beste europäische Vorbild dafür ist die Planstadt „Eixample“ in Barcelona mit ihren Baufeldern mit vielen individuellen Stadthäusern, wobei jeweils neun Blöcke zu einer Nachbarschaft zusammengefasst sind, das Auto nur zu Besuch ist und der Straßenraum für Radfahrer und Fußgänger ausgelegt ist.

So könnte, so sollte die urbane Bebauung der Zukunft aussehen. Und weil verhindert werden muss, dass die Städte sich noch weiter in die Natur ausbreiten, wird es notwendig sein, auch auf Bestandsgebäude weitere Stockwerke aufzusetzen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was Sie über Verdichtung sagen, können wir nachvollziehen. Nicht jedoch, dass sie in die Höhe bauen wollen. Es kann doch nicht Ihr Ziel sein, Hochhausghettos zu erschaffen, wie man sie beispielsweise aus Frankreich – die berüchtigten Banlieues –, aber auch aus Deutschland – zum Beispiel das als sozialer Brennpunkt geltende Märkische Viertel in Berlin – kennt.

Christoph Kohl: Natürlich will ich das nicht. Das heißt aber nicht, dass Wohntürme per se etwas Schlechtes sind, im Gegenteil. Beispielsweise sind Plattenbauten, wie ich sie in Russland kennengelernt und in Masterplänen selbst vorgeschlagen habe, im Prinzip eine sehr gute Wohnform. So planen wir in der Stadt Amsterdam, gemäß der dortigen Satzung, aktuell Wohnblöcke mit sechs Geschossen, Blockrandbebauung, Einzelgebäuden und – Türmen! Und ich prognostiziere, dass in Zukunft viele Städte diesen New-York-Charakter bekommen werden.

Das heißt nicht, dass ich die nur zu bekannten grauen, seelenlosen Wohnghettos gutheiße, mit null sozialer und kommerzieller Infrastruktur – deren defizitäre Gestaltung kann man ja schon als eine Missachtung der Menschenrechte bezeichnen. Nein, was mir vorschwebt, ist Leben im Quartier. In Berlin würde man vom Leben im „Kiez“ sprechen. Das heißt, die Menschen wohnen, arbeiten und erledigen ihre Einkäufe innerhalb eines relativ kleinen Radius, der über eine umfassende Infrastruktur verfügt. Lange Anfahrtswege, wie sie derzeit noch üblich und notwendig sind, werden dann der Vergangenheit angehören. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede Art von Infrastruktur in ein Wohngebiet gehört. Chemiefabriken und Stahlwerke müssen außerhalb der Stadt bleiben beziehungsweise angesiedelt werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie ist man überhaupt auf die Idee gekommen, dass eine funktionale Trennung von wohnen, arbeiten, einkaufen, Freizeit gestalten, etc. sinnvoll sein könne?

Christoph Kohl: Das Fundament dafür hat Le Corbusier gelegt (der schweizerisch-französische Architekt [1887-1965] war der wohl einflussreichste Stadtplaner des 20. Jahrhunderts – Anm. d. Red.). Er hat vor knapp 100 Jahren postuliert, dass eine neue Art von Stadt benötigt werde – eine Stadt der urbanen Funktionstrennung. Seine Ideen hatten damals wohl ihre Berechtigung – aber sie sind heute, fast ein Jahrhundert später, überholt.

Le Corbusier war das Marketing-Genie seiner Zeit. Er hat es geschafft, dass seine Ideen überall, in jedem Architekturbüro, jedem Bauamt, jedem Architektur-Institut einer Uni Fuß fassen konnten. Das heißt, überall findet man einen glühenden Anhänger seiner Thesen. Sie sind zu einer Art weltumspannendem Kraken geworden und haben ihren riesigen Einfluss bis heute beibehalten, haben uns sozusagen ein weltweites städtebauliches Schlammassel eingebrockt. Bestes Beispiel dafür ist die deutsche Baunutzungsverordnung (BauNVO), die 1962 erlassen wurde und bis heute mit wenigen Änderungen fortbesteht. Sie besteht aus zwei Teilen, wobei in den ersten Teil Auszüge aus der „Charta von Athen“ fast wortwörtlich übernommen wurden. Diese Charta stellt eine Zusammenfassung der Ideen dar, die aus einem Architektur-Kongress – der auf einer Kreuzfahrt zwischen Marseille und Athen abgehalten wurde – hervorgingen, wobei die Ideen alle von Le Corbusier selbst stammen. Der Kongress fand im Jahre 1933 statt – das heißt, für unsere heutige Stadtplanungspraxis sind nach wie vor Prinzipien entscheidend, die vor fast einem Jahrhundert aufgestellt wurden. Und man tut bis zum heutigen Tag so, als seien diese Prinzipien aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts Naturgesetze.

Auch für die Idee der sogenannten „autogerechten Stadt“ war Le Corbusier der Wegbereiter. Zur ersten Stadt dieser Art in Deutschland wurde in den frühen 1960er-Jahren Hannover. Bis heute nimmt das Auto bei der Stadtplanung die dominierende Rolle ein – es ist eine Schande.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Eine Aussage, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen lässt …

Christoph Kohl: Und zu der ich stehe, und die richtig ist. Den Autogebrauch, wie er heute betrieben wird, kann ich nur krankhaft nennen. Wobei ich mich nicht gegen das Auto an sich ausspreche, aber gegen das nicht mobile Auto. Natürlich setzt Stadt seit jeher Verkehr voraus, aber der Individualverkehr in seiner heutigen Form ist vollkommen unnötig. Jeder Autofahrer hat ja sozusagen ein ganzes Zimmer um sich herum, wenn er unterwegs ist, und schlimmer, er stellt ein ganzes Zimmer an den Straßenrand, wenn er es nicht benötigt – wofür soll das gut sein?

Der ruhende Verkehr ist das zentrale Problem. Geparkte Autos nehmen unglaublich viel Platz ein, dominieren die Straßenränder. Es heißt immer noch, die Geschäfte seien davon abhängig, dass sie mit dem Auto erreichbar sind. Das stimmt nicht – es gilt als erwiesen, dass Fußgängerzonen sowie autofreie Radfahrstraßen mit Bürgersteig ökonomisch besser funktionieren. Tatsache ist: Ohne das Auto könnten wir menschenfreundliche, größtenteils entsiegelte, parkähnliche Straßenlandschaften haben. Die Stadtoberen sollten einen offensichtlichen Gewinn der ansonsten unliebsamen Pandemie-Zeit, nämlich die Abnahme des Autoverkehrs durch die Zunahme der Home Office-Arbeit, als reale Errungenschaft zur neuen Normalität erklären: Den ruhenden Verkehr weg vom Bürgersteigrand, nicht nur Kübelpflanzen als zusätzliches Stadtgrün zulassen, die Tische raus auf Bürgersteige und Straßen, und die Stadt wird eine andere, eine bessere sein!

Ich sage Ihnen eins: Es muss endlich ein Bürgermeister den Mut dazu aufbringen, Stadtbereiche für autofrei zu erklären. Nach drei Tagen wird es jeder lieben, jeder. Man kann das Ganze ja auch als Experiment aufziehen: Wenn es nicht funktioniert, bricht man es wieder ab. Aber es wird funktionieren!

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kohl, herzlichen Dank für das Gespräch.

***

Christoph Kohl (Jg. 1961) ist Gründer und Inhaber des Berliner Planungsbüros „CKSA – Christoph Kohl Stadtplaner Architekten“. Der geborene Bozener hat sich auf Städtebau und Quartiersplanung spezialisiert. Er lehrt Städtebau an der Hochschule Anhalt-Dessau.

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