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USA kann Europa keinen Schutz mehr gewähren: Hat die Nato endgültig ausgedient?

Lesezeit: 7 min
28.08.2021 12:14
DWN-Kolumnist Ronald Barazon analysiert die neue Weltlage nach dem Afghanistan-Debakel.
USA kann Europa keinen Schutz mehr gewähren: Hat die Nato endgültig ausgedient?
Der ehemalige Hegemon ist müde geworden, leidet an imperialer Überdehnung. Was bedeutet das für Europa? (Foto: dpa)

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Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bedeutet für Europa, dass jetzt ein doppelter Alptraum Realität geworden ist: Zum einen haben die USA mit ihrem überstürzten Abzug demonstriert, dass sie ihre Rolle als Schutzmacht der „freien Welt“ und als Weltpolizist aufgeben. Ohne die Vereinigten Staaten verfügt Europa jedoch über keine ausreichende Verteidigung – und eine Behebung dieses katastrophalen Mangels ist nicht absehbar. Wobei es aktuell nicht um große Kriege geht, in denen Nationen aufeinanderprallen - vielmehr bestimmen derzeit rücksichtlos mordende Terroristen die politische Entwicklung. Und das ist der zweite Teil des Alptraums: Gegenüber dieser Bedrohung sind Demokratien ziemlich macht- und hilflos. Dies hat sich jetzt wieder in der Auseinandersetzung mit den Taliban erwiesen - doch die Ohnmacht zeigt sich auch in erschreckender Weise gegenüber Diktaturen, die mit Terrormethoden ihre Bürger unterdrücken, wie etwa China und der Iran.

Es besteht also enormer Handlungsbedarf, doch offenkundig weiß niemand eine Antwort. Wie sieht die Zukunft also aus? Nun, die Aufmerksamkeit für Afghanistan dürfte in wenigen Tagen nachlassen, die unangenehmen Themen Verteidigung und Terrorbekämpfung werden wahrscheinlich zur Seite geschoben und als Ergebnis dieses gigantischen Akts der Selbsttäuschung wird Europa wieder in seinen gewohnten, dabei jedoch höchst gefährlichen Schlendrian verfallen.

In der EU-Verfassung ist die Anbindung an die NATO festgeschrieben. Wie lange noch?

Einige Politiker, wie etwa der französische Präsident Emmanuel Macron, weisen verstärkt darauf hin, dass sich die USA auf die Position „America first“ oder eher noch „Just America and nothing else“ zurückziehen. In Paris ist man schon lange bei diesem Thema hellhörig. Präsident Charles de Gaulle erklärte bereits vor über sechzig Jahren, dass Frankreich in der Lage sein müsse, sich selbst zu verteidigen. De Gaulle machte das Land zu einer Nuklearmacht, setzte die Schließung aller US-Stützpunkte in Frankreich durch und sorgte für die Übersiedlung des NATO-Hauptquartiers von Paris nach Brüssel. Frankreich blieb zwar NATO-Mitglied, aber stets mit großer Skepsis, und kürzlich hat Macron die Organisation sogar als hirntot bezeichnet.

Tatsache ist: Seit vielen Jahren kommt es auf europäischer Ebene immer wieder zu Diskussionen über die Notwendigkeit einer europäischen Armee, die jedoch stets ergebnislos enden. In dem derzeit als eine Art „Verfassung der EU“ geltenden Lissabonner Vertrag ist ausdrücklich die enge Anbindung an die von den USA dominierte NATO festgehalten. So wie die Dinge derzeit stehen, kommt man nicht umhin, zu konstatieren, dass eine Korrektur dieser Regelung angesichts der geänderten Verhältnisse dringend erforderlich ist.

Seit 1823 verfolgen die USA mit ihrer Außenpolitik ausschließlich egoistische Ziele

Das in Europa vorherrschende Vertrauen in den Schutz durch die USA wird durch mangelnde Geschichtskenntnis unterstützt. Seit 1823 gilt die sogenannte „Monroe-Doktrin“ als Grundsatz der US-Außenpolitik: Ausdrücklich legte der damalige US-Präsident James Monroe fest, dass die USA nicht in außer-amerikanische, vor allem nicht in europäische Konflikte eingreifen werden. Diesem Prinzip folgte das US-Parlament auch im Zweiten Weltkrieg, im Widerspruch zu Präsident Franklin D. Roosevelt, der dem britischen Premier Winston Churchill bei der Bekämpfung von Nazi-Deutschland helfen wollte. Erst als im Dezember 1941 Japan die US-Flotte in Pearl Harbor zerstörte, als also die USA selbst angegriffen wurden, traten sie in den Krieg ein.

Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 mit 2.977 Toten und über 6.000 Verletzten wurden von den Amerikanern genau wie Pearl Harbor als Angriff auf Amerika gewertet. In der Folge griff die US-Armee in Afghanistan ein, wo die als Urheber-Organisation des Anschlags geortete Al-Kaida ihren Sitz hatte. Darüber hinaus wurden eine Reihe anderer Interventionen mit der Terrorbekämpfung und dem Schutz der USA begründet. Auch in dem problematischen, von Präsident Donald Trump geschlossenen „Doha-Abkommen“ vom Februar 2020, in dem der aktuelle Abzug der USA aus Afghanistan vereinbart wurde, steht die Zusage der Taliban im Vordergrund, künftig keinen Terroristen Unterschlupf zu gewähren, die Angriffe auf die USA planen.

Abschied von der „Truman-Doktrin“: Amerika ist nicht länger Beschützer der freien Welt

Die Vorstellung, dass die USA als Weltpolizist für die Verteidigung der Demokratie auf dem gesamten Globus im Einsatz sind, wird nun vollends zur Illusion. Begründet wurde der Glaube an Amerikas Status als Beschützer durch eine Erklärung von Präsident Harry S. Truman im März 1947. Die sogenannte „Truman-Doktrin“ besagte, die USA hätten „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“.

Diese Abkehr von der Monroe-Doktrin zielte auf die Sowjetunion ab: Man wollte die Ausweitung des sowjetischen Imperiums bremsen. Der Untergang der Sowjetunion und somit der Wegfall der „anderen Weltmacht“, des Gegners im Kalten Krieg, hat der Truman-Doktrin mittlerweile die Grundlage entzogen. Zudem stellen die Misserfolge im Irak, in Libyen, in Afghanistan und auf anderen Schauplätzen das Prinzip auf spektakuläre Weise in Frage. Man muss konstatieren: Mit Trump und Biden sind die USA wieder zur „Monroe-Doktrin“ zurückgekehrt.

Das Konzept von Charles de Gaulle

Europa müsste sich in diesen Tagen an Charles de Gaulle erinnern. Allerdings ist Europa kein Einzelstaat wie Frankreich, die EU ist vielmehr ein Sammelsurium von 27 Ländern, die keineswegs alle an einem Strang ziehen, sodass eine europäische Verteidigungspolitik nicht zustande kommt. Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Armin Laschet, hat dieser Tage das Thema zur Sprache gebracht und gemeint, es könnte im Gefolge der Rückkehr der USA zum Isolationismus gelingen, eine gemeinsame Verteidigungspolitik auf die Beine zu stellen. Schließlich hätten manche Länder wie Polen die USA als Schutzmacht gesehen und müssten nun begreifen, dass eine solidarische europäische Verteidigungsunion hilfreicher wäre.

Nur: Wenn in Kürze die Aufregung über Afghanistan abebbt, werden die einzelnen EU-Länder unweigerlich wieder ihren eigenen nationalen Vorstellungen nachgehen. Die Illusion, dass die NATO und somit die USA im Ernstfall ohnehin einspringen und sich um alle Probleme kümmern würden, lebt weiter fort – und ist kaum zu beseitigen.

Es geht nicht mehr um den „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West, sondern um den Terror

Wie bereits erwähnt, muss man zur Kenntnis nehmen, dass derzeit keine globale Konfrontation wie während des Kalten Krieges das Geschehen bestimmt.

Vielmehr ist das Geschehen in Afghanistan ein Musterbeispiel für die gegenwärtigen Konflikte. Im Iran, dem westlichen Nachbarland von Afghanistan, agiert die islamistische Führung ähnlich wie die Taliban. Das eigene Volk wird im Namen der Religion geknebelt, andere Staaten versucht man zu beherrschen. Dies lässt sich unter anderem am Schicksal des Libanon ablesen: Vor gar nicht so langer Zeit wurde Beirut noch als Paris des Nahen Orients gefeiert, heute ist es die triste Hauptstadt eines fast völlig zerstörten Landes. Die Terrororganisation Hisbollah, die den Führer des Iran, Ali Khamenei, als ihr Oberhaupt anerkennt, hat den Libanon systematisch destabilisiert und dabei noch nicht einmal vor Morden zurückgeschreckt.

Ähnliche Entwicklungen sind im gesamten islamischen Raum, von Nordafrika bis eben nach Afghanistan, zu beobachten.

In all diesen Ländern existieren nicht nur islamistische Eiferer, sondern viele aufgeklärte, gebildete Muslime, die ihren Glauben in einer Demokratie mit freier Marktwirtschaft ausleben wollen. Im Sinne der „Truman-Doktrin“ waren die USA aufgerufen, diesen Menschen zu helfen. Dementsprechend, aber auch aus wirtschaftlichen und politischen Interessen, haben die USA brutale Diktatoren wie Saddam Hussein im Irak oder Muammar Gaddafi in Libyen oder eben die Taliban-Regierung in Afghanistan 2001 beseitigt. Allerdings stets so, dass die Beseitigung keine positiven Folgen zeitigte - nach dem Eingreifen der USA versanken die jeweiligen Staaten im Chaos und gerieten in ein noch größeres Elend, als zuvor unter den Diktatoren herrschte.

Ein Krieg zwischen fanatischen Gotteskriegern und westlichen Soldaten, die Regeln einhalten müssen, ist nicht zu gewinnen

Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Ursachen des Scheiterns des amerikanischen Engagements. Nun, der entscheidende Umstand besteht in der Tatsache, dass für die Terroristen ein Menschenleben nichts gilt; sie morden ohne persönliche Bedenken und ohne einen rechtlichen Rahmen, der diese Taten verbieten würde. Im Gegenteil, die Morde werden als Siege über die Ungläubigen gefeiert. Zudem wird das eigene Leben nicht geschätzt, der Tod ist nur der Wechsel in ein besseres Jenseits. Dass die Ausschaltung des Selbsterhaltungstriebs nicht selten mit Drogen erreicht wird, sei nicht vergessen, ändert aber nichts an den Umständen.

Diesen Gotteskriegern stehen US-Amerikaner und ihre Verbündeten aus Deutschland, Großbritannien oder Frankreich gegenüber, die ein fundamental anderes Selbstverständnis haben. Das eigene Leben ist kostbar, das wahllose Ermorden von Gegnern ist undenkbar. Lassen sich Soldaten in dem grauenvollen Umfeld dazu hinreißen, alle Regeln zu vergessen und den Terroristen ebenfalls unkontrolliert mordend zu begegnen, landen sie in ihren Heimatländern vor Gericht und im Gefängnis. Zudem befinden sich die westlichen Soldaten bei ihren Einsätzen in fremden Ländern, zu denen keine persönliche Beziehung besteht. Es geht also nie um das eigene Land, das man beschützt, nie um die eigenen Verwandten, die Frau, die Freunde, die man vor Mördern bewahrt. Auf der einen Seite also westliche Soldaten, die ihre Pflicht erfüllen und die Regeln einhalten, auf der anderen Seite fanatische Gotteskrieger, die den Tabubruch mit Lust zelebrieren.

Der „Krieg gegen den Terror“ ist ein irreführender Begriff. Gegen den Terror bedarf es anderer Mittel

Nach dem 11.September 2001 verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush den „Krieg gegen den Terror“. Der Begriff bringt ein falsches Konzept zum Ausdruck. Eine reguläre Armee kann keine Terroristen bekämpfen. Innerhalb der westlichen Länder selbst, in den USA wie in Europa, ist der Kampf gegen Terroristen kein Krieg, sondern Polizeiarbeit. Und in den Ländern der Terroristen stehen die westlichen Soldaten vielen gegenüber, die dem Westen zwar feindlich gesonnen, selbst aber keine Terroristen sind.

Die USA und Europa sind gefordert, den Terrorismus auf andere Weise zu bekämpfen als mit einem „Krieg“. Da wären eigentlich wirtschaftlichen Sanktionen ein probates Mittel. Allerdings haben sie sich bisher, aus unterschiedlichen Gründen, stets als wenig wirksam erwiesen.

  • Die USA versuchen, mit Sanktionen den Iran in die Knie zu zwingen. Europa geht jedoch mit dem Mullah-Regime auf Streichelkurs.
  • Mit Saudi-Arabien, das Terroristen finanziert und mit einem weltweiten Netz von so genannten Kulturzentren die westlichen Staaten unterwandert, sind die USA eng verbunden.
  • China, das Weltmachtansprüche hegt, hat seine Position zu einem großen Teil dem Westen zu verdanken, der im Reich der Mitte eine gigantische Industrie aufgebaut hat, weil er die niedrigen Löhne nützen wollte.
  • Mit beinahe jedem Liter Öl, der bei einer Tankstelle gekauft wird, finanziert man indirekt Terroristen, mit beinahe jedem Kauf eines Handys unterstützt man Chinas Weltmachtgelüste.

Der Kampf gegen den Terror muss also direkt dort ansetzen, wo der Terror ermöglicht wird, und das ist beim Geld, das Unterstützer-Staaten zur Verfügung stellen. Doch das Gegenteil geschieht.

  • Der Emir von Katar ist einer der eifrigsten Financiers der Taliban, der Hamas, der Muslim-Brüder und anderer radikal-islamischer Organisationen. Der kleine Staat Katar im Persischen Golf gehört zu den größten Gas-, aber auch Öllieferanten der Welt und hat selbst nur wenige Einwohner. Der Emir, Tamim bin Hamad Al Thani, ist also durchaus mit dem unendlich reichen König Midas aus der griechischen Sage vergleichbar.
  • Statt das Land von der Liste der Energie-Lieferanten zu streichen, um den Emir zur Räson zu bringen, unterhält die US-Armee auf Katar einen großen Stützpunkt und fliegt derzeit die in Afghanistan gefährdeten Amerikaner über Katar aus.
  • Eine der wichtigsten Initiativen der Welthandelsorganisation WTO wurde in Katar verhandelt und wird als „Doha-Runde“ bezeichnet, nach dem Namen der Hauptstadt von Katar.
  • In und um Doha findet auch die nächste Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2022 statt.

Fazit: Der Emir der Terroristen als Gastgeber der Welt.

Statt die Sponsoren des Terrors auszuschalten, zeigt sich der Westen als Schwächling, der um Verhandlungen bettelt

Daran wird sich so bald nichts ändern. Die Politiker von Washington bis Brüssel sind nämlich nicht lernfähig. 2020 haben die USA mit den Taliban „verhandelt“ und eine „Einigung“ erzielt, die von den Terroristen prompt nicht eingehalten wird. Für die Islamisten ist das ständige Bemühen des Westens, „zu verhandeln“, ein Zeichen der Schwäche und der Beweis, dass man die wohlstandsverwahrlosten Jämmerlinge bezwungen hätte. Und wie tönt es derzeit aus allen politischen Ecken, nicht zuletzt von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Man müsse nun mit den Taliban „verhandeln“. Nein, man muss nicht verhandeln, man muss die Taliban ausgrenzen, den Drogenhandel unterbinden, Afghanistan auch keine anderen Waren abkaufen und die Geldströme aus Katar und anderen Staaten kappen. Dadurch würde der Organisation die Basis entzogen, auf der sie agiert. Das gleiche Rezept bietet sich bei der Bekämpfung von anderen Terroristen und anderen terroristischen Staaten an.

Beziehungsweise: Würde sich anbieten. Aber ab morgen wird mit den Mördern wieder nett geplaudert.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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