DWN-Korrespondent Moritz Enders hatte bereits im Juni 2020 den Psychologen und bekannten Buch-Autoren Prof. Rainer Mausfeld interviewt, dessen Werk „Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören“ in der Presse des deutschsprachigen Raums kontrovers diskutiert wurde. Mausfeld, der sich mit Methoden der Indoktrination und Manipulation, insbesondere auch mit Techniken einer systematischen Angst-Erzeugung beschäftigt, erläutert im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten unter anderem, warum die Bürger seiner Meinung nach solche Methoden akzeptieren – und teilweise sogar gutheißen. Auf Wunsch wird das Interview an dieser Stelle nochmal veröffentlicht.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie bewerten Sie die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung?
Rainer Mausfeld: Die Datenlage ist immer noch viel zu lückenhaft, als dass sich eine seriöse Abwägung von gesundheitlicher Gefährdung durch Covid-19 auf der einen und den gravierenden gesellschaftlichen Folgen der verordneten Maßnahmen auf der anderen Seite vornehmen ließe. Die Art, wie diese Maßnahmen verordnet wurden, kann man nur als chaotisch, höchst intransparent und autoritär bezeichnen. Die Verordnung geschah unter Umgehung einer wirklichen Gewaltenteilung und unter Ausschaltung jeder demokratischen Öffentlichkeit und damit jeder demokratischen Kontrolle und demokratischen Rechenschaftspflicht.
Das ist allerdings wenig überraschend, wenn man sich klarmacht, dass Staaten nicht vorrangig am Schutz der Gesundheit ihrer Bevölkerungen interessiert sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie bitte?
Rainer Mausfeld: Der Staat als solcher ist nun einmal kein moralischer Akteur, sondern eine institutionelle Verkörperung sehr komplexer kapitalistischer Verhältnisse und gesellschaftlicher Beziehungen. Vorrangiges Anliegen eines Staates ist daher die Stabilisierung dieser Verhältnisse. Dabei können natürlich auch Gesundheitsaspekte eine Rolle spielen, zumal sie sich auf das Wahlverhalten auswirken können und für die Stabilität wirtschaftlicher Prozesse wichtig sein können. Gerade die Bewältigung von Pandemien ist kein gesundheitlicher Selbstzweck, sondern gehört überwiegend zum Bereich der inneren Sicherheitsarchitektur von Staaten. Im Übrigen stellt sich mittlerweile durch das in souveräner Selbstgesetzgebung transnationaler Konzerne installierte internationale Handelsrecht die Frage, wie weit im Fall einer Pandemie Staaten ihre Bevölkerung überhaupt noch schützen können, wenn durch die Schutzmaßnahmen die in Investitionsschutzabkommen geschützten Gewinnerwartungen von Konzernen beeinträchtigt werden. Ginge es also wirklich vorrangig um Gesundheit, würden wir schon lange über die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, über die gesundheitlichen Folgen von Hartz IV oder der Einführung prekärer Arbeitsverhältnisse diskutieren. Oder über Krankenhauskeime, über Glyphosat in der Landwirtschaft, über die Verwendung von Antibiotika in der Massentierhaltung oder über die Tausenden von Toten, die jedes Jahr an multiresistenten Keimen sterben. Oder über die Umweltbelastungen durch Militär-Manöver. Vor allem aber über die Entschlossenheit der Bundesregierung, nicht nur die Lagerung, sondern auch die einsatzbereite Aufstellung von Atomwaffen in Deutschland zu gewährleisten, wohlwissend, dass bei einem Angriff der USA auf Russland die deutsche Bevölkerung das atomare Schlachtopfer wäre. Es gibt also wenig Grund für die Annahme, dass es dem Staat bei den Corona-Maßnahmen vorrangig um einen Gesundheitsschutz für die Bevölkerung geht. Letztlich geht es, wie stets, um die Sicherung der Stabilität von Machtverhältnissen. Dabei kann eine systematische Angsterzeugung durch eine massenmediale Propagierung tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahren sehr nützlich sein, um die eigentlichen Probleme und Ziele zu verdecken.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Und zwar welche?
Rainer Mausfeld: Machen wir uns zunächst klar, dass die Corona-Krise eine Multi-Krise ist, in der sich sehr unterschiedliche Krisen kreuzen und miteinander verbinden. Sie alle wurden bereits länger erwartet:
Zunächst ein Naturereignis in Form einer Pandemie.
Zweitens eine Systemkrise des Finanzkapitalismus, der ohnehin erneut kurz vor einer schweren Krise stand und der nun die Corona-Krise nutzt, um seine eigenen Krisenkosten wieder einmal der Gemeinschaft aufzubürden.
Und drittens eine schon sehr lange schwelende Krise der kapitalistischen Demokratie – übrigens schon konzeptuell ein Widerspruch in sich -, die nun durch eine seit Jahrzehnten betriebene Transformation zu einem autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat deutlicher hervortritt. Das Corona-Virus bringt lediglich wie ein Katalysator sehr grundlegende Probleme der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Vorschein.
Umso wichtiger ist es, sich davor zu hüten, durch einen Fokus auf Nebenaspekte ein tiefergehendes Verständnis zu blockieren, wie beispielsweise durch eine in der Sache unsinnige Fixierung auf Indikatoren, Tabellen und Graphiken zur epidemiologischen Gefährlichkeit des Virus. Oder durch eine personalisierende Fixierung auf einzelne Akteure, die an einem Verständnis der tatsächlichen Machtstrukturen völlig vorbei geht. Oder durch Fixierung auf die im Moment für den Einzelnen sehr konkret erlebbaren Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte, sei es Maskenpflicht oder Versammlungsfreiheit. Denn dies birgt die große Gefahr, an den sehr viel schwerwiegenderen grundsätzlichen politischen Problemen vorbeizugehen und sich in Ablenk-Themen zu erschöpfen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Viele halten die Maskenpflicht für medizinisch sinnlos und halten sie eher für eine Art Gehorsamkeitsübung. Die Versammlungsfreiheit wiederum ist ein Grundrecht. Ist die Empörung der Bevölkerung da nicht nachvollziehbar?
Rainer Mausfeld: Ja, natürlich. Die in der Bevölkerung wachsende Empörung ist grundsätzlich sehr berechtigt. Sowohl im Konkreten der erlebten Freiheitseinschränkungen wie auch in dem sich darin äußernden Misstrauen gegen diejenigen, die vorgeben, sie zu repräsentieren, also gegen den gesamten exekutivischen Apparat, sei es Regierung, Polizei oder Verfassungsschutz, und auch gegen die großen Medien, die den öffentlichen Debattenraum im Sinne politischer und ökonomischer Machtstrukturen dominieren. Hier haben sich seit Jahrzehnten in der Bevölkerung vielfältige politische Ohnmachtserfahrungen aufgestaut. Wer mit der Geschichte der Entwicklungen von Techniken des Demokratie-Managements ein wenig vertraut ist, weiß, dass es seit jeher gerade eine zentrale Machttechnik in kapitalistischen Demokratien ist, systematisch Gefühle politischer Ohnmacht und Apathie zu erzeugen. Die kapitalistische Demokratie war seit ihren Anfängen als “Zuschauersport” konzipiert. Offenkundig sehr erfolgreich, denn in den vergangenen Jahrzehnten muss man wohl politische Auseinandersetzungen eher als Teil der Unterhaltungsindustrie ansehen, was ja Colin Crouch unter dem Stichwort „Postdemokratie“ detailliert beschrieben hat. Wenn also ein großer Teil der Gesellschaft keine Adressaten mehr in der Politik hat, de facto keine politische Repräsentation, keine politische Stimme und keine mediale Repräsentanz hat, können konkrete Erfahrungen einer politischen Irrelevanz als Auslöser ausreichen, aufgestauten Affekten lautstarken Ausdruck zu verschaffen, unvermeidlich dann oftmals auch mit unschönen Begleiterscheinungen. Die Affekte sind also grundsätzlich sehr berechtigt, und es wäre gerade Aufgabe alternativer Medien, die angemessene politische Kontextualisierung zu schaffen, mit der sich solche Affekte besser verstehen lassen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Unterteilung in Medien und alternative Medien ist für uns schwierig. Wir geben uns aber Mühe, die tieferen Ursachen der Krise zu verstehen.
Rainer Mausfeld: Ja, eine solche Unterteilung ist natürlich unscharf. Was ich meine, sind Medien mit emanzipatorischer Zielsetzung. Zu den Aufgaben derartiger Medien gehört es ja gerade, eine begriffslose Empörung in den begrifflichen Rahmen zu integrieren, der in der langen Tradition emanzipatorischer Bemühungen gewonnen wurde, und ihr so eine Stabilität und politische Wirksamkeit zu verleihen. Nur auf diese Weise lassen sich die tieferen Ursachen gesellschaftlicher Missstände verstehen. Ein solches Verständnis wird heute leider besonders erschwert durch die Art und Weise, wie im globalisierten Kapitalismus Macht organisiert ist – nämlich extrem abstrakt und jeder demokratischen Kontrolle und Verantwortlichkeit entzogen. Diese Machtstrukturen haben sich mittlerweile so stabilisieren können, dass sie auch auf
nationaler Ebene immer unverhüllter ihr autoritäres Gesicht zeigen können. Die Transformation zu einem autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat wird bereits seit Jahrzehnten betrieben, ohne dass es dabei zu breiten Protesten der Bevölkerung gekommen wäre. Nur einige Beispiele: 2002 der berüchtigte „Otto-Katalog“ des damaligen Innenministers Otto Schily oder der Bundestrojaner und die 2017 ermöglichte Online-Durchsuchung, eine besonders schwere Eingriffsmöglichkeit in die Privatsphäre. Oder die durch Edward Snowden aufgedeckten Verletzungen von Grundrechten. Oder die Fülle immer autoritärer werdender Polizeigesetze. Die Entdemokratisierung ist mittlerweile so weit vorangetrieben, dass die Regierung und andere exekutivische Apparate zu Selbstversorgern mit Gesetzen geworden sind, wie ja auch in der Corona-Krise deutlich wird. Die Gewaltenteilung ist de facto schon lange aufgehoben, da das Parlament die Regierung nicht mehr kontrolliert, sondern selbst zu einem Organ der Regierung geworden ist, zu ihrem ‚Demokratie-Inszenierungsorgan‘. Zugleich findet die Bevölkerung keine Adressaten mehr für ihre Veränderungsbedürfnisse in der Politik. Auch periodische Wahlen können daran nichts ändern. Vielmehr zeigen sorgfältige empirische Untersuchungen in den USA und auch in Deutschland, dass der weit überwiegende Teil der Bevölkerung, vor allem im unteren Teil der Einkommensskala mit einem Stimmgewicht von nahe Null in die tatsächlich getroffenen politischen Entscheidungen eingeht. Dies jedoch wird von den politischen Entscheidungsträgern nicht als Manko, sondern gerade als Tugend einer effizienzorientierten kapitalistischen Demokratie betrachtet. So bemerkte Wolfgang Schäuble 2015, dass Wahlen an relevanten ökonomischen Entscheidungen der Eliten nichts ändern dürften. Dies ist in Europa in der Tat der Fall, wie das Wall Street Journal schon 2013 begeistert festgestellte. Auch Angela Merkel hatte 2010 befürwortend festgestellt, dass im geschichtlichen Rückblick alle großen Entscheidungen gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt sind. Soviel nur zum Zustand der kapitalistischen Demokratie. Die politische Klasse ist mehr und mehr dazu übergegangen, das Entscheidungsmodell von Konzernen und des Militärs zu übernehmen: Alle Entscheidungen werden in kleinen Kreisen unter strengem Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen, jedoch unter Hinzuziehung der jeweils mächtigsten ökonomischen Akteure, die von den Entscheidungen betroffen sind.
Es geht also jenseits der konkreten Corona-Krise um etwas sehr viel Grundsätzlicheres, nämlich um die Frage, ob wir überhaupt noch bereit und in der Lage sind, demokratische Reststrukturen gegen eine fortschreitende Verrechtlichung autoritärer Strukturen zu verteidigen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dies allerdings würde voraussetzen, dass die Bürger die Mechanismen der Macht durchschauen. Und erkennen, warum sie sich gewisse Grundüberzeugungen und Erklärungsmodelle zu eigen machen – auch wenn diese den eigenen Interessen und Bedürfnissen zuwiderlaufen sollten.
Rainer Mausfeld: Tatsächlich ist es schwer, "sich selbst auf den Kopf zu schauen". Wir sind im Verlauf der Evolution nicht mit Mechanismen ausgestattet worden, unserem psychischen Apparat gleichsam bei der Arbeit zuzuschauen und ihn so introspektiv besser zu verstehen. Da fast alle psychischen Prozesse unbewusst ablaufen, können wir sie zumeist nur auf dem indirekten Weg wissenschaftlicher Erforschung besser kennenlernen. Insbesondere kennen wir die meisten unserer eigenen Vorurteile nicht, und viele sind überzeugt, für Indoktrination und Manipulation nicht sonderlich anfällig zu sein. Dass dies eine Illusion ist, zeigen besonders augenfällig die Werbung und das damit verbundene Kaufverhalten. Gleiches gilt im Politischen. Wir schwimmen in den jeweils herrschenden Ideologien wie der Fisch im Wasser und bemerken sie daher fast nicht. Folglich können wir auch, zumindest als Faustregel, davon ausgehen, dass alle Äußerungen über gesellschaftlich-politische Verhältnisse, die wir rein intuitiv tätigen und die nicht durch intellektuelle Anstrengungen gewonnen wurden, zwangsläufig lediglich Widerspiegelungen der herrschenden Ideologie sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was also wäre zu tun?
Rainer Mausfeld: Das Steigern geistiger Abwehrkräfte gegen Indoktrination und Manipulation ist eine kollektive Leistung. Für einen einzelnen, der schon genug Energie aufwenden muss, um seinen Lebensalltag zu bewältigen, ist dies nicht zu leisten. Wir können also eine solche Leistung nur kollektiv erbringen. Und auch dies ist nur möglich, wenn wir dabei die Einsichten zu nutzen verstehen, die in der langen Geschichte sozialer Bewegungen gewonnen wurden. In dem Maße, in dem wir von dieser Tradition entwurzelt sind und glauben, wir könnten die soziale politische Welt wieder ganz von vorne, ausgehend von unserem eigenen Bauchnabel, entschlüsseln, sind wir den jeweils herrschenden Machtverhältnissen gänzlich wehrlos ausgesetzt.
Entscheidend für die Möglichkeiten, unsere geistigen Abwehrkräfte zu stärken, ist es also, ob wir die jeweils konkreten Empörungen von einer begriffslosen affektiven Ebene auf eine Ebene der Reflexion heben können und sie dann in zuvor gewonnene Einsichten einbinden und auf diese Weise gedanklich stabilisieren können. Diese Aufgabe wiederum kann nur mit Hilfe geeigneter alternativer Medien gelingen, weil nur sie als Vermittler bereit und in der Lage wären, politisches Handeln wieder in die Kontinuität emanzipatorischer Einsichten und Erfahrungen einzubetten.
Wenn sich jedoch alternative Medien auf eine bloße Erzeugung von Empörung beschränken und es nicht als ihre vorrangige Aufgabe ansehen, die oft sehr berechtigten Empörungen gedanklich in einen politischen Gesamtkontext und in eine emanzipatorische Tradition zu integrieren, schaffen sie lediglich ein Milieu, das in einem Zustand diffuser Dauerempörung und gedanklicher Orientierungslosigkeit bleibt und damit anfällig für anti-emanzipatorische Narrative ist. Sie würden dann letztlich das Geschäft der Mächtigen betreiben, da in einem solchen Fall die begriffslosen Empörungen zwangsläufig politisch wirkungslos bleiben. Sie würden also die Entstehung eines Empörungs-Konsumismus fördern, ein dauererregtes Milieu, das geradezu süchtig nach Empörungsanlässen ist, die ohne tiefere Reflexion konsumiert werden können. Für einen Empörungs-Konsumismus stellen die durch den Neoliberalismus verursachten psychischen Verformungen eines von sozialen Bezügen entwurzelten neoliberalen Selbst einen besonders fruchtbaren Nährboden dar. Die mit einem Empörungs-Konsumismus verbundenen Affekte können kompensatorisch zur Bewältigung einer sozialen Atomisierung dienen, indem sie es möglich machen, sich gesellschaftlich noch lebendig zu fühlen und in einer Empörungs-Verschmelzung ein Gefühl von Gemeinschaft zu erleben.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Anders ausgedrückt: Proteste aus Empörung dienen als Ventile, über die gesellschaftlicher Druck abgebaut wird? Sie führen also zu keiner dauerhaften Veränderung?
Rainer Mausfeld: Ja, das zu erreichen, ist genau das Ziel der in vielen Jahrzehnten systematisch entwickelten Techniken eines Empörungsmanagements. Bekanntlich hat der Kapitalismus einen großen Magen und kann sich höchst flexibel alles einverleiben, sogar den Widerstand gegen ihn. Dabei bedient er sich zur Zersetzung emanzipatorischer Bewegungen eines reichen Arsenals von Techniken und Strategien. Ein wichtiges Zielobjekt solcher Zersetzungstechniken sind aus naheliegenden Gründen alternative Medien, so dass diese eine besondere Sorgfalt aufbringen müssen, sich dagegen zu schützen. Zu den wirkungsvollsten Techniken gehört eine Diskurs-Verluderung, weil sie jedem rationalen Diskurs und damit auch jedem nachhaltigen emanzipatorischen Widerstand den Boden entzieht.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Diskurs-Verluderung?
Rainer Mausfeld: Eine Diskurs-Verluderung ergibt sich aus einem Verzicht auf ernsthafte Argumente und gedankliche Anstrengungen einer Begründung von Meinungen. Auf diese Weise wird eine argumentationsbasierte Kommunikation durch eine rein affektbasierte Kommunikation ersetzt, was zwangsläufig zu einem gedanklichen „Nebel der Verwirrung“ führt, wie es der bekannte Neoliberalismus-Kritiker Philip Mirowski ausdrückt. Eine Diskurs-Verluderung lässt sich auf nahezu beliebig vielen Wegen erzeugen. Denn eine Verwirrung im Kopf herzustellen ist natürlich sehr viel einfacher, als gedankliche Klarheit zu erzeugen. Das war schon in der Aufklärung ein wichtiges Thema, denn man war sich sehr bewusst, dass durch eine Diskurs-Verluderung Machtverhältnisse einer rationalen Verstehbarkeit entzogen werden und sie somit kognitiv unsichtbar werden.
In den vergangenen Jahren haben Techniken zur Erzeugung eines „Nebels der Verwirrung“ noch einmal eine besondere Bedeutung gewonnen, weil man erkannt hat, dass sie gegenüber traditionellen Techniken der Indoktrination und Propaganda sehr viel wirksamer und kostengünstiger sind. Eine Diskurs-Verluderung ergibt sich auch aus einem konsequenten Rückwärtsargumentieren: Dabei wird sichergestellt, dass sich unterm Strich stets die gewünschte Schlussfolgerung, also die eigene Meinung, ergibt; dazu sucht man sich hochgradig selektiert alles an Informationsbruchstücken so zusammen, dass die eigene Meinung dann als rationale Schlussfolgerung erscheint. Argumentative Bemühungen sind dabei völlig irrelevant. Was alleine zählt, ist, in möglichst reflexionsentlastender Weise einen raschen Zustimmungseffekt bei den Adressaten zu erzielen. Damit ist jedem rationalen Diskurs der Boden entzogen.
Zum Rückwärtsargumentieren gehört auch, wenn ein ernsthaftes Argumentieren ersetzt wird durch ein flächendeckendes Ergoogeln von allem, was irgendwie die eigene Position zu bestätigen scheint. Auch dies entzieht jedem rationalen Diskurs den Boden, denn eine noch so große Quantität von Informationen, die hochgradig danach herausgefiltert wird, wie gut sie mit der eigenen Position verträglich sind, kann sich niemals durch eine wundersame Wandlung in die Qualität eines Argumentes verwandeln. Diese Formen einer Diskurs-Verluderung können – vor allem in einer Zeit, die von einer extremen Aufmerksamkeitsökonomie geprägt ist – auch für alternative Medien verführerische Mittel sein, um eine breite Resonanz zu erzielen. Sie führen jedoch stets zu einer Entpolitisierung und entziehen emanzipatorischen Anliegen die Grundlage. Eine Diskurs-Verluderung fördert also eine Entpolitisierung und trägt zudem zu einer Infantilisierung der Bevölkerung bei.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Infantilisierung?
Rainer Mausfeld: Die Erzeugung eines gedanklichen Nebels der Verwirrung steht der demokratischen Leitidee mündiger Bürger diametral entgegen. Und eine medial systematisch erzeugte Unmündigkeit ist nichts anderes als eine Infantilisierung. Die ist ja im Sinne der Machteliten durchaus erwünscht. Aldous Huxley hatte bereits darauf hingewiesen, dass die traditionellen Vorstellungen über Propaganda versäumt hatten, den fast unersättlichen Drang des Menschen nach Ablenkung durch Nichtigkeiten zu nutzen. Das ist mittlerweile gründlich nachgeholt worden. Affektiv durch das, was Zbigniew Brzeziński „Tittytainment“ nannte, also eine permanente mediale Berieselung mit Nichtigkeiten, die basale Affekte ansprechen. Ideologisch durch Vermittlung der Basisideologie von Elitendemokratien, dass Machteliten im Interesse der Bürger handeln würden. Damit wird ihnen gewissermaßen eine Elternfunktion zugeschrieben, die dann durch die bereits genannten Gefühle einer politischen Ohnmacht noch verstärkt wird. Eine manipulative Erzeugung einer Infantilisierung steht natürlich in einem grundlegenden Widerspruch zur Idee einer politischen Mündigkeit und entzieht damit der demokratischen Leitidee von Demokratie, als radikale Vergesellschaftung von Herrschaft, die Grundlage.
Richtet man komplementär den Blick auf die Mächtigen, so kann man annehmen, dass ein Streben nach Macht durch sehr frühe anhaltende Ohnmachtserfahrungen bedingt sein kann. Diese Erfahrungen können dazu beitragen, dass frühestkindliche unmodifizierte Allmachtsphantasien erhalten und wirksam bleiben. Derartige Bedingungsfaktoren für die Entstehung autoritärer Herrschaftsstrukturen sind im Kontext des Nationalsozialismus aus psychoanalytischer und aus politologischer Perspektive ausgiebig untersucht worden. Die dabei gewonnenen Einsichten können uns helfen, die Konstellationen besser zu verstehen, unter denen es zu einer – von vielen geduldeten oder sogar akzeptierten - autoritären Herrschaftsform kommen kann.