Deutschland

Tablette mit schweren Folgen: 60 Jahre Marktrücknahme von Contergan

Die einstigen „Contergan-Kinder“ sind heute im Rentenalter. Sie haben kaputte Gelenke und andere Schäden. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das seit 1957 erhältliche Schlafmittel Contergan eingenommen. Die ungeborenen Kinder wurden geschädigt.
21.11.2021 13:12
Aktualisiert: 21.11.2021 13:12
Lesezeit: 2 min

Die Frau mit dem sportlichen Haarschnitt kommt ohne Umschweife zur Sache. „Ich habe eine dreiviertel Armlänge. Das ist zu kurz, um überall dran zu kommen“, sagt Elke. Die 59-Jährige gehört zu den 2400 contergangeschädigten Menschen in Deutschland. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das seit 1957 erhältliche Schlafmittel Contergan eingenommen. Die ungeborenen Kinder wurden geschädigt. „Ich bin eine der Späten“, sagt Elke sachlich. Ihre Mutter hatte es einen Monat vor der Marktrücknahme eingenommen, erzählt sie.

Vor 60 Jahren, am 27. November 1961, nahm das Pharma-Unternehmen Grünenthal aus Stolberg bei Aachen das Medikament vom Markt. Nach immer breiter diskutierten Verdachtsfällen hatten zwei Ärzte aus Deutschland und Australien über einen Zusammenhang zwischen Contergan und Fehlbildungen von Kindern geschrieben. „Durch die Marktrücknahme ist Zehntausenden das Schicksal erspart geblieben“, sagt Udo Herterich, der Vorsitzende des Bundesverbands der Contergangeschädigten. Der Fall wurde einer der schlimmsten Skandale der Bundesrepublik.

Viele «Contergan-Kinder» kamen mit verkürzten Armen oder Beinen oder beidem zur Welt. Doch während sie einst mit geübter Gelenkigkeit manches ausgleichen konnten, macht sich jetzt die Überlastung bemerkbar. «Neben den körperlichen Beeinträchtigungen leiden die Betroffenen inzwischen auch an altersüblichen Beschwerden, aber auch an Schädigungen infolge von Fehlbelastungen», berichtet die Contergan-Stiftung. Sie zahlt die Renten aus, berät und fördert.

Der einstige Hersteller Grünenthal erklärt, Contergan werde stets Teil der Unternehmensgeschichte sein. „Die Betroffenen und ihre Familien sahen sich viele Jahre dem Schweigen Grünenthals zur Tragödie ausgesetzt“, teilte der Hersteller mit. „Im Jahr 2007 sind wir verstärkt mit Betroffenen und ihren Verbänden in den Dialog getreten, um mehr von ihren Anliegen zu erfahren und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.“ Das Unternehmen fördert durch eine Stiftung Projekte für Mobilität und ein möglichst eigenständiges Leben der Geschädigten: etwa Umbauten von Wohnräumen oder Autos und Begleitung im Alltag und bei Reisen. Mit Grünenthal aber wollen manche Betroffene auch heute nichts zu tun haben.

Seit Ende 2013 ist Elke in Rente. Zuletzt hat die gelernte Erzieherin mit psychisch Kranken gearbeitet. Das sei sehr schön gewesen, man habe sich gegenseitig unterstützt, erzählt sie. „Ich hab immer gesagt, ich kann Euch ein Stück helfen - und Ihr holt mir die Tasse da oben aus dem Schrank.“ Nun hält sie ehrenamtlich Kontakt.

„Früher konnte ich ganz, ganz viel. Das ist immer weiter ein Stück zurückgegangen“, berichtet die Frau. Etwas vom Boden aufzuheben ist schwer. Das Öffnen von Getränkeflaschen oder Dosen schaffen die je vier Finger ihrer zarten Hände nicht. Auch eingeschweißte Käsepackungen sind ein Problem. Aber sie hat Unterstützung im Alltag. An 30 Stunden in der Woche kommt ihre Assistentin Antje, die glücklicherweise im selben Haus wohnt: Sie hilft beim An- und Ausziehen oder beim Duschen. Die Frauen kochen und unternehmen etwas zusammen. Oder gehen mit den Hunden raus.

Die freundliche 59-Jährige wohnt in einer behindertengerechten Wohnung in der Nähe von Aachen. Zum Haushalt der Mutter einer erwachsenen Tochter und Oma gehört Hund Freddy, ein Schnauzer-Mix. Sie fährt ein Auto mit Automatik, ohne irgendwelche Umbauten. Weil sie klein ist, kann sie den Sitz weit vorziehen. Ihre Arme reichen zum Lenkrad. Und als leidenschaftliche Handarbeiterin strickt sie an mehreren Pullovern gleichzeitig.

„Keiner hat damit gerechnet, dass wir so alt werden würden“, heißt es beim Bundesverband in Köln. Die Lebensqualität sei die von 80-Jährigen, sagt der Vorsitzende Herterich. Der Grafiker hat kurze Beine und ist Rollstuhlfahrer. Die Contergangeschädigten hätten sich „Stück für Stück diese Welt erkämpft“, sagt er und meint: Schule und Beruf, das Teilnehmen am Leben trotz verkürzter oder fehlender Extremitäten. Und das Aushalten der Blicke.

Vielen Contis, wie sich einige Betroffene selbst nennen, habe die schwindende Selbstständigkeit Depressionen eingebracht, berichtet Rentnerin Elke. Sie tut viel, damit sie fit bleibt. Fast jeden Tag in der Woche geht sie zu Therapien: Krankengymnastik mit Muskel-Stimulation, Schwimmen, Massage und Sauna. „Würde ich das nicht machen, bräuchte ich Schmerzmittel“, sagt sie. Hilfe nimmt sie auch aus Verantwortung sich selbst gegenüber an: „Ich möchte mit 70 nicht so kaputt sein, dass nichts mehr geht“.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

DWN
Politik
Politik Abhängigkeit von US-Technologie: Welche Herausforderungen Europa jetzt meistern muss
02.11.2025

Technologie und digitale Souveränität stehen im transatlantischen Verhältnis zunehmend im Fokus. Europa nutzt US-amerikanische Systeme,...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersrente berechnen: So hoch ist die Maximalrente in Deutschland - unerreichbar für die meisten
01.11.2025

Im Alter gilt, je mehr Rente, desto besser. Doch selbst mit extra Schichten oder einem hohen Einkommen ist der maximale Betrag an...

DWN
Finanzen
Finanzen Zehn S&P 500‑Aktien mit Aufholpotenzial: So bewerten Analysten Chancen und Risiken
01.11.2025

Zehn S&P 500‑Aktien, die Analysten trotz schwächerer Jahresperformance als chancenreich einstufen, werden auf Wachstum, Bewertung und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lithium und die Energiewende: Wie der Rohstoff Elektronik und E-Mobilität vorantreibt
01.11.2025

Lithium gilt als das Metall unserer Zeit. Smartphones, Laptops und Elektroautos kommen ohne es nicht aus. Die Nachfrage steigt rapide,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Winzer unter Druck: Wie sich eine Branche neu erfinden muss
01.11.2025

Der deutsche Weinbau steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Sinkender Konsum, steigende Kosten und eine zunehmende...

DWN
Technologie
Technologie Wärmepumpen als Zeichen moderner Energieeffizienz: Wie KI ihre Leistung steigern wird
01.11.2025

Das Heizen wird künftig noch effizienter, kostengünstiger und komfortabler. Dank künstlicher Intelligenz werden Wärmepumpen in der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Fahrradverleih in Europa: Wie nachhaltige Mobilität jährlich 305 Millionen Euro bringt
01.11.2025

Fahrräder sind in vielen europäischen Städten längst Teil der urbanen Mobilität. Bikesharing bietet Vorteile über den reinen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chip-Markt: Neues Öl oder neue Bombe?
01.11.2025

Chips sind das Rückgrat der KI-Revolution. Doch hinter Rekorden und Milliardendeals wächst das Risiko. Ein Blick in die...