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US-Verteidigungsexperte: Putin macht Deutschland wieder zu führender europäischer Militärnation

Ist Deutschland bereit für die Zeitenwende in der Verteidigungspolitik?
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15.03.2022 13:23
Aktualisiert: 15.03.2022 13:23
Lesezeit: 4 min
US-Verteidigungsexperte: Putin macht Deutschland wieder zu führender europäischer Militärnation
Etwa 309.000 weniger als 1972: Im Jahr 2020 zählte die Bundeswehr rund 184.000 Soldaten - vor 50 Jahren waren es knapp eine halbe Million. (Foto: dpa)

Als ein „Fiasko epischen Ausmaßes“ bezeichnet Loren Thompson, Geschäftsführer der US-Denkfabrik „Lexington Institute“, im amerikanischen Wirtschaftsmagazin „Forbes“ die russische Invasion der Ukraine. Sowohl die russische Wirtschaft als auch das Ansehen Russlands in der Welt erleide massiven Schaden, so der Verteidigungsexperte. Darüber hinaus hätten die russischen Truppen durch die eigentlich klar unterlegenen ukrainischen Streitkräfte wiederholt empfindliche Schläge hinnehmen müssen - ein Indiz dafür, dass die Kampfkraft der Russen sowohl im eigenen Land als auch im Westen weit überschätzt worden ist.

Doch Putins gröbster Schnitzer sei es gewesen, mit dem Angriff auf die Ukraine, „den Weg für die Rückkehr Deutschlands als führende Militärmacht Mitteleuropas“ zu ebnen. Thompson betont: „Noch ein Jahr zuvor wäre das undenkbar gewesen: Unter der Anleitung mehrerer Kanzler hatte Berlin sich darum bemüht, einen Mittelweg zwischen Ost und West zu finden – und stets Abstand von der Idee gehalten, zu der militärischen Macht zurückzukehren, die Deutschland im Laufe des Kalten Krieges als NATO-Mitglied aufgebaut hatte.“

In den Jahren vor dem Niedergang der Sowjet-Union verfügte Deutschland, wie der US-Verteidigungsexperte erinnert, über eine Truppenstärke von fast einer halben Million Soldaten. Zusammen mit ihrer umfangreichen zivilen Verwaltung hätte man die Bundeswehr weithin „als eine der fähigsten Armeen der Welt“ angesehen. Es sei ein „bemerkenswertes Merkmal der deutschen Geschichte, dass es dem Land trotz der Auflösung seiner Militärmaschinerie nach beiden Kriegen gelungen ist, seine Streitkräfte wieder auf Weltklasseniveau zu bringen".

Das Verlangen Putins nach einem Pufferstaat zwischen Russland und dem Westen, so Thompson weiter, sei in nicht geringem Maße auf die vernichtenden Erfahrungen zurückzuführen, die Russland einerseits mit der Wehrmacht, andererseits aber auch mit der Reichswehr gemacht hatte. Doch die Gräueltaten der Nationalsozialisten hätten die politische Kultur Nachkriegsdeutschlands zutiefst beeinflusst. Das deutsche Militär wäre lediglich wiedererrichtet worden, um Russland während des Kalten Krieges abzuschrecken.

„Das deutsche Militär der Nachkriegszeit war rein defensiver Natur“, erklärt Thompson. Deshalb hätte es auch keine Bestrebungen gegeben, Langstreckenbomber oder andere Mittel zum Angriff auf weit entfernte Ziele zu erwerben. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands hätte sich an dieser Strategie einer starken, aber rein defensiv ausgerichteten Armee auch nichts verändert. Doch in Folge des zunehmend schwindenden Schreckensszenarios einer Aggression aus dem Osten hätte Deutschland begonnen, Truppenstärke und Rüstungsausgaben drastisch zu reduzieren – trotz häufiger Beschwerden aus Washington.

Schließlich beruft sich Thompson auch auf den deutschen Heeresinspekteur Alfons Mais, der am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine davon sprach, dass die Bundeswehr „mehr oder weniger blank“ dastehe – und dass die Möglichkeiten Deutschlands die NATO zu unterstützen „extrem limitiert“ seien (Egon Ramms, lange einer der ranghöchsten deutschen NATO-Soldaten, urteilte sogar noch pessimistischer). Thompson spekuliert, dass Putin geglaubt haben muss, die Ukraine zügig besiegen und besetzten zu können, ohne dabei Umbrüche in der westlichen Militärstrategie zu provozieren. Zwischen den Zeilen schwingt hier der Eindruck des jüngsten Machtwechsels in Afghanistan mit: Putin muss geglaubt haben (beziehungsweise glaubt es immer noch), dass sich der Westen militärisch auf dem absteigenden Ast befindet und seine Verbündeten nicht mehr schützen kann.

„Doch wie sich herausstellte, hat er sich übel verrechnet – und zwar nirgends mehr als in Deutschland“, so die Diagnose Thompsons. Schließlich dauerte es, wie der Verteidigungsexperte unterstreicht, in der Tat nur wenige Tage, bis Bundeskanzler Scholz ankündigte, rund hundert Milliarden Euro in die Aufrüstung der Bundeswehr investieren zu wollen. Mit diesem Vorstoß hätte Scholz „Jahrzehnte antimilitärischer Ressentiments“ innerhalb der Parteien der Ampelkoalition – aber letztlich auch, gilt es zu ergänzen, innerhalb des Großteils der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft – über Bord geworfen.

Letzten Endes stellt Thompson Putin ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. So hätte Moskau in zwei Wochen nur zweierlei erreicht. Erstens hätte Putin mit Deutschland ausgerechnet jene Nation zur Wiederbewaffnung bewegt, die historisch stets eine große militärische Bedrohung für Russland dargestellt hatte. In den Worten Thompsons: „Die Aversion gegenüber üppigen Rüstungsausgaben, die Deutschland seit Ende des Kalten Krieges kastriert hatte, ist fort – genauso wie die Politik der Versöhnung mit Russland.“

Zweitens aber hätte „Putins Fehleinschätzung“ auch mit der NATO eine Allianz wachgerüttelt, die bislang nur noch aus dem letzten Loch zu pfeifen schien – und somit das militärische Gefahrenpotenzial für Russland gesteigert. Mag man diesen Schlussfolgerungen Thompsons auch zustimmen, so steht dennoch die Frage im Raum, inwiefern die Rückkehr Deutschlands als Militärnation nicht auf recht wackligen Beinen steht.

Denn auch wenn die finanziellen Mittel bereitgestellt sind, man die nötigen Industrien aktiviert hat und die gesellschaftliche Unterstützung für die Wiederaufrüstung hoch ist: Wie es im Ernstfall um den Kampfeswillen der Deutschen stünde, ist unklar. Jahrzehntelange strukturelle Vernachlässigung des militärischen Sektors, aber auch die politische Kultur der Nachkriegszeit sprechen gegen eine jähe Rückkehr Deutschlands zum Status einer führenden europäischen Militärnation.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsverbunds „Gallup International Association“ aus dem Jahr 2015 zeigten sich immerhin nur 18 Prozent der befragten Deutschen bereit, für ihr Land zu kämpfen. Freilich wurden diese Zahlen in der Zeit vor dem russischen Angriff auf die Ukraine erhoben. Inwiefern die Nachwirkungen dieses Angriffs tatsächlich eine Zäsur in der deutschen Verteidigungspolitik der Nachkriegszeit darstellt, wie Kommentatoren aus aller Welt inzwischen implizieren, ist noch nicht abzusehen.

Hingegen ist davon auszugehen, dass die Zahlen – selbst beim Ausbleiben eines eklatanten Anstiegs – kaum mehr rückläufig werden dürften: Dafür sorgt einerseits die Drohkulisse des Krieges selbst, aber andererseits auch die Vorbereitung der Bundeswehr. Mag die Politik ihre Nachrüstung auch notorisch vernachlässigt haben, so scheint die Bundeswehr wenigstens auf dem Feld der Öffentlichkeitsarbeit gut vertreten zu sein. Dafür jedenfalls spricht der hauseigene YouTube-Kanal der deutschen Streitkräfte, der sich mit rund 647.000 Followern im internationalen Vergleich als hochkarätig erweist. Zum Vergleich: Die British Army hat etwa 171.000 Abonnenten, die französischen Landstreitkräfte haben knapp 178.000 und die U.S. Army rund 226.000.

Die Anzahl der YouTube-Abonnenten ist in ihrem Mobilisierungspotenzial – gerade innerhalb der jungen Zielgruppe des Kanals – aber nicht zu unterschätzen: Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr, deren Kampagnen im Übrigen nicht selten gemeinsam mit namhaften deutschen Werbeagenturen renommierte Marketing-Preise abräumen, hätte sicherlich die Kompetenzen für eine großangelegte Online-Rekrutierung. Sollte sich der Krieg in der Ukraine weiter verschärfen und auf NATO-Mitgliedsstaaten ausbreiten, ist jedoch zu befürchten, dass kaum mehr Überzeugungskraft von Nöten sein dürfte.

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