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Eine gesundheitspolitische Tragödie: Wie Kommerz und Politik die Medizin zerstören

Lesezeit: 10 min
08.05.2022 09:00
Der Arzt und Buchautor Dr. Bernd Hontschik fordert eine medizinische Versorgung frei vom ökonomischen Diktat.
Eine gesundheitspolitische Tragödie: Wie Kommerz und Politik die Medizin zerstören
Die Leiche eines Verstorbenen wird im Krankenhaus abgeholt. (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ihr neues Buch, das am 2. Mai im Westend Verlag erschienen ist, heißt „Heile und Herrsche“. Was haben denn Heilen und Herrschen miteinander zu tun?

Bernd Hontschik: Unser Gesundheitswesen kennen und schätzen wir alle als eine tragende Säule unseres Sozialsystems. Die Sozialgesetze, nach denen es funktioniert hat und zum größten Teil immer noch funktioniert, sind über 120 Jahre alt, haben also viele tiefe politische Einschnitte überstanden. Aber vor wenigen Jahrzehnten setzte eine scheibchenweise Deformation ein, sozusagen eine Art kleinschrittiger Entdeckung des Gesundheitswesens durch den Kapitalismus. Aus dem Gesundheitswesen wurde und wird eine Gesundheitswirtschaft. Dieser Destruktionsprozess ist gut für einige wenige, aber für unser Gemeinwesen ist es eine Katastrophe. Anstelle der staatlich garantierten Daseinsfürsorge tritt eine profitorientierte, börsennotierte Shareholder-Wirtschaft. Nun ist aber im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren ein weiterer Schritt vollzogen worden: Dem Gesundheitswesen wurde eine politische Aufgabe zugeordnet, um es zur Ausübung politischer Macht zu gebrauchen. Auf diese Weise wurde die Medizin als Herrschaftsinstrument missbraucht, wie ich es in den über vierzig Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit noch nie erlebt habe. Nach der Kommerzialisierung kam es also zu einer Politisierung der Medizin.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das kann man auf Anhieb nicht verstehen. Was meinen Sie mit „Politisierung“?

Bernd Hontschik: Ich habe vor Jahren ein Buch von Juli Zeh mit dem Titel „Corpus Delicti“ gelesen. Das hat mich sehr beeindruckt: Eine Diktatur namens „Methode“ herrscht im 21. Jahrhundert in einer Gesellschaft, in der Gesundheit die oberste Pflicht ist. Eines der wichtigsten Mittel zur permanenten Überwachung und Kontrolle der ganzen Bevölkerung ist das Realtime-Monitoring des Abwassers jeder Wohneinheit. Medikamente, Drogen, suspekte Metaboliten, krankheitsbezogene Ausscheidungen, alles wird unerbittlich entdeckt und sofort von der Gesundheitspolizei verfolgt.

Und da fielen mir 2020, also vor zwei Jahren, erstmals kleine, versteckte Meldungen über millionenschwere Investitionen der Bundesregierung und der EU in Abwassermonitoring auf, natürlich zu einem guten Zweck, nämlich der Verfolgung der Corona-Infektionen, und natürlich zunächst nicht personalisiert wie in dem Roman. Trotzdem wurde ich misstrauisch, denn es ist doch klar, dass das eine geniale, unsichtbare und unentrinnbare Methode der Kontrolle von allem und jedem sein kann. Leider nahm mein Misstrauen mit der Zeit Schritt für Schritt zu.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns das genauer erläutern? Warum hat Ihr Misstrauen weiter zugenommen?

Bernd Hontschik: Im Zeichen der Corona-Pandemie wurden eine große Zahl von ehernen Grundsätzen des Gesundheitswesens und der Humanmedizin gebrochen. Die „Überlastung unseres Gesundheitswesens“ als Horrorvision wurde zu einer „alternativlosen“ Begründung für einschneidende Maßnahmen in jeden Alltag, von der Kinderkrippe bis zum Altersheim. Grenzen wurden geschlossen, und die Wohnung wurde zum abgeschotteten Ort der Berufsausübung, der Arbeit, des Kindergartens, der Schule und des Privatlebens gleichzeitig – kein Entrinnen. Und genau da erlebte die Wissenschaft, insbesondere die medizinische Wissenschaft, ihr Waterloo, indem ihre Aussagen je nach Bedarf richtig oder falsch zitiert, hervorgehoben oder verschwiegen wurden. Ein Diskurs fand und findet nicht statt. Über all das entschieden haben Politiker. Nicht genehme Wissenschaftler und Berater wurden aus Gremien ausgeschlossen und nicht mehr angehört. Damit hatten sie auch jede weitere Teilnahme an der medialen Kakophonie verwirkt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wobei ist Ihnen diese Vereinnahmung der Medizin durch die Politik besonders aufgefallen?

Bernd Hontschik: Bei der ganzen langen Diskussion um die Impfstoffe. Die neuen Impfstoffe wurden von der einzig qualifizierten „Ständigen Impfkommission“ nicht mit der üblichen Ruhe und Sorgfalt beurteilt und geplant, sondern die Kommission geriet unter einen ungeheuren Druck von Politikern. Riesige Impfzentren wurden aus dem Boden gestampft, wodurch zentrale Erfassungskonzepte erprobt und eingeübt werden konnten. Die Pandemie wurde mit manipulierten Infektionsregistern plötzlich zu einer Pandemie der Ungeimpften erklärt, auch wenn die Impfungen gar nicht hielten, was sie versprochen hatten. Impfpflicht, Impfzwang und ein bevorstehendes nationales Impfregister waren die allerersten Themen. Ein Infektionsschutzgesetz nach dem anderen ersetzte das vormalige Bundesseuchengesetz. Es wurde in raschem Rhythmus mehrfach immer wieder modifiziert, sprich: verschärft, insbesondere hinsichtlich der „Ermächtigungen“ der Exekutive, die monatelang die Alleinherrschaft übernahm, und dies – das ist das eigentlich Neue – konnte sie nur mit Hilfe der Medizin. Legislative und Judikative hatten abgedankt. Deswegen genügt es nicht mehr nur, den schon weit beschrittenen Weg vom Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft kritisch zu beschreiben, sondern der nächste, um ein Vielfaches bedrohlichere Schritt von der Gesundheitswirtschaft zur Gesundheitsherrschaft ist längst und unbemerkt Realität geworden. Er darf nicht länger ignoriert werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Konsequenzen hat dieses „Diktat der Ökonomie“, vom dem Sie sprechen, konkret für die Gesundheit von Patienten?

Bernd Hontschik: Es hat in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren einen gewaltigen Stellenabbau in den Krankenhäusern gegeben, besonders im Pflegebereich. Gleichzeitig ist die durchschnittliche Liegezeit von zwei Wochen auf eine Woche gesunken, auf die Hälfte also! Alle kennen Berichte von Patienten nach Krankenhausaufenthalten, dass sie fast nie einen Arzt oder eine Ärztin zu Gesicht bekommen haben, dass fast nie jemand Zeit für ein Gespräch hatte, dass Schwestern und Pfleger bis zum Anschlag und darüber hinaus arbeiten, und dass es trotzdem immer nicht genug ist. Von "blutigen Entlassungen" ist die Rede, also Entlassungen lange vor einer zufriedenstellenden Heilung. In dieser Aufzählung, die sich endlos fortsetzen ließe, kommen Patienten gar nicht mehr vor. Es geht nicht mehr um Gesundheit - es geht um schwarze Zahlen. So lautet nämlich die beschönigende Formulierung für den kompletten Wandel der Zielvorgaben, unter dem Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger plötzlich arbeiten müssen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was hat sich derart einschneidend geändert? War das denn nicht schon immer so?

Bernd Hontschik: Nein, das war nicht schon immer so. Das Bezahlsystem in den Krankenhäusern ist vor zwanzig Jahren von den früher üblichen zeitorientierten Tagessätzen auf ein sogenanntes DRG-System umgestellt worden. In diesem System werden die Geldflüsse nicht mehr nach der Liegezeit, sondern nach Diagnosen gesteuert. Die Diagnose ist also nicht länger eine Kernkompetenz einer humanen Medizin, sondern ist zu einem ökonomischen Steuerungsinstrument degradiert worden. Seitdem sind ganz neue Berufe entstanden, zum Beispiel die „Klinische Kodierfachkraft“. Die Krankenhäuser haben natürlich sofort versuchen müssen, so viele und so schwere Diagnosen wie möglich geltend zu machen, um möglichst hohe Entgelte zu erlösen, und die Krankenkassen versuchten mit den gleichen Mitteln, die Diagnosen abzuschwächen oder ganz zu streichen, um die Entgelte zu minimieren. Nur deswegen hat sich die Liegezeit halbiert, denn je mehr Patienten in kürzester Zeit mit möglichst schweren Diagnosen durch das System Krankenhaus geschleust werden können, desto höher sind die Erlöse. Abteilungen, die diesem Druck nicht standhalten können, werden Zug um Zug geschlossen, so beispielsweise viele Kreißsäle und Kinderkliniken. Und wenn ganze Krankenhäuser diesem Druck nicht standhalten können, dann werden sie geschlossen oder für einen Euro an private Investoren verschleudert.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dann hängt das Überleben eines Krankenhauses also von Diagnosen ab, kann man das wirklich so sagen?

Bernd Hontschik: Ja, im Prinzip ist es genau so. Ich möchte das an einem Beispiel erklären, weil das für dieses Bezahlsystem so entscheidend ist: Stellen Sie sich vor, die Finanzierung der Feuerwehr würde radikal umgekrempelt. Wichtigste Vorgabe wäre das Prinzip der schwarzen Zahlen, was bedeutet, dass die Feuerwehr sich selbst finanzieren muss. Eine neue Feuer-Gebührenordnung würde drei Kategorien vorsehen. Für den Einsatz bei einem großen Feuer erhält die Feuerwehr einhunderttausend Euro, für ein mittelgroßes Feuer zehntausend Euro und für ein kleines Feuer, etwa einen Mülltonnenbrand, tausend Euro. Was wird geschehen? Zunächst wird das Personal ausgedünnt, es kommt zu Entlassungen. Seminare und Trainingseinheiten werden gestrichen, die Materialerneuerung wird gestreckt. Dann verlässt man den gültigen Tarifvertrag, um die Löhne zu drücken. Bei einem Mülltonnenbrand wird man nicht mehr ausrücken, denn der Einsatz ist teurer als die Vergütung. Bei einem mittleren Brand wird man alles daransetzen, es zu einem großen Brand aufzubauschen. Und bei einem großen Brand wird man ein paar Glutnester hinterlassen, um am nächsten Tag einen zweiten Einsatz zu fahren, damit die hunderttausend Euro zwei Mal in Rechnung gestellt werden können. Wenn das alles nichts nützt und die Feuerwache trotzdem rote Zahlen schreibt, wird sie geschlossen. Der Anfahrtsweg von der nächsten Feuerwache beträgt dann über hundert Kilometer. Unterdessen verzweifeln die Feuerwehrleute an ihren Arbeitsbedingungen, denn sie haben den gleichen hohen Ethos wie zuvor. Viele wissen sich nicht anders zu helfen, als zu kündigen. Das ist, bildlich gesprochen, die Situation, in der sich die Krankenhäuser in unserem Land inzwischen befinden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was finden Sie denn an der Privatisierung so schlimm?

Bernd Hontschik: Eigentlich gar nichts. Denn nicht die Privatisierung ist schlimm, sondern die Profitorientierung. Wenn es eine Privatisierung im Sinne der Gemeinnützigkeit wäre, dann würden Gewinne reinvestiert. Aber Shareholder erwarten zehn Prozent Rendite. Das gibt es in keinem einzigen anderen Wirtschaftszweig in unserem Land. Aus meiner Sicht ist das legaler Diebstahl öffentlichen Eigentums. Ich kenne auf diesem Erdball kein Land, in dem der Anteil von Krankenhausbetten in der Hand privater, börsennotierter Klinikkonzerne größer ist als in Deutschland. Aber man kann nicht beides zugleich haben: Entweder ist die Medizin ein Mittel zum Zweck der Profitmaximierung für einige wenige, oder die Medizin ist eine humane, soziale, an den erkrankten Menschen orientierte Tätigkeit für alle, die von der Gesellschaft angemessen und solidarisch finanziert wird. Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Wenn die Medizin dem Profit dient, dann ist sie keine mehr.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wenn man diese Gedanken weiterspinnt, könnte man denken: Je kränker die Bevölkerung, desto besser für die Gesundheitsindustrie….

Bernd Hontschik: So absurd ist dieser Gedanke gar nicht. Nehmen Sie zum Beispiel die Krankenkassen. Früher waren sie daran interessiert, möglichst junge, möglich gesunde Versicherte in ihren Reihen zu haben. Dann wurde das bürokratische Monster namens „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“ zum Gesetz, und seitdem erhalten die Kassen aus diesem großen Topf der Versichertenbeiträge einen Anteil, der sich nach der Schwere der Erkrankungen ihrer Versicherten berechnet. Und schon jagten die Kassen ihre Emissäre übers Land, die in den Arztpraxen erklärten, dass der Verdacht auf Lungenentzündung den Kassen mehr einbringt als eine Erkältung, oder dass eine Schwindelattacke auch als Verdacht auf Schlaganfall verschlüsselt werden kann. Upcoding nennt man das, natürlich mit einer kleinen Prämie verbunden, anders gesagt: Je kränker die Versicherten, desto höher die Einnahmen der Krankenkassen. Das sieht nicht nur pervers aus, das ist pervers.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie bei dieser Entwicklung?

Bernd Hontschik: Bei den aktuellen Entwicklungen spielt die Pharmaindustrie eigentlich keine entscheidende oder zumindest keine neue Rolle. Sie spielt einfach die gleiche Rolle weiter, die sie schon immer gespielt hat. Denn sie macht schon immer beste Geschäfte - da gibt es keine weiße Weste: Kein Wucher, keine Manipulation von Wissenschaft, keine Korruption gibt es, die sich die Pharmaindustrie noch nicht hat zuschulden kommen lassen. Das ist so allgemein bekannt, dass es eigentlich keine Erwähnung mehr wert ist. Interessant wird es für die Allgemeinheit allerdings, wenn Unternehmensberater auf den Plan treten. Es gibt einen internen Bericht der Investmentbanker von Goldman Sachs über ein hochwirksames Hepatitis-Medikament, das schon nach einer einzigen Anwendung Heilung bringen kann. Und hier sehen wir das Problem: Mit den Hepatitis-C-Medikamenten konnte 2015 ein weltweiter Umsatz von über zwölf Milliarden Dollar erzielt werden, aber schon 2018 waren es nur noch weniger als vier Milliarden. Denn das Medikament gegen Hepatitis C hat Heilungsraten von etwa 90 Prozent, wodurch der Pool von zu behandelnden Patienten immer kleiner wird, was wiederum die Neuinfektionen immer weiter reduziert. Also sinkt der Umsatz und somit auch der Gewinn. Das ist zwar ein Meilenstein in der Behandlung der Hepatitis, ein großartiger Erfolg für die betroffenen Patienten und ein enormer Wert für die Gesellschaft, gleichzeitig aber ein miserables Geschäftsmodell. Von der Entwicklung solcher Medikamente soll man Abstand nehmen, rät Goldman Sachs der Pharmaindustrie. Stattdessen sollten sich die Auftraggeber lieber auf Medikamente konzentrieren, bei denen die Patientenzahl stabil, vielleicht sogar ansteigend sei, also beispielsweise auf Krebsmedikamente. Dann bliebe das Geschäft auch weiterhin gewinnbringend. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Während der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung mehr als 500 Millionen Impfdosen gekauft beziehungsweise bestellt. Ein richtiger Schritt im Sinne der Gesundheitsvorsorge?

Bernd Hontschik: Diese Frage kann man nicht isoliert beantworten, sondern nur im Kontext, und dieser ist völlig unüberschaubar. Wie steht man zur Impfung? Wie steht es um die weltweite Bekämpfung der Pandemie und um die Freigabe der Impfpatente? Wieso braucht es eine zweite, dritte, vierte Impfung? Ob die Regierung jetzt 100 oder 500 Millionen Impfdosen gekauft hat, finde ich völlig unwichtig, denn das ist aus meiner Sicht eine Selbstverständlichkeit. Viel wichtiger, ja geradezu entscheidend finde ich die Frage, wie es überhaupt um die Gesundheitsvorsorge für den Fall einer solchen Pandemie stand? Vor fast zehn Jahren schon - im Januar 2013 - erschien die Bundestagsdrucksache 17/12051: Eine geradezu hellseherische Risikoanalyse von Bundesinnenministerium und Robert-Koch-Institut (RKI) eines fiktiven schwerwiegenden Seuchenereignisses durch einen hypothetischen neuartigen Corona-Virus. Neben Quarantäne und Hygiene wurde in der Aufzählung notwendiger Schutzmaßnahmen dem „Einsatz von Masken, Brillen und Handschuhen“ erhebliche Bedeutung zugemessen. Passiert ist danach nichts. Gar nichts! Als es vor zwei Jahren dann soweit war, gab es keine Masken, keine Brillen, keine Schutzkleidung. Das hat vielen Heimbewohnern, vielen Erkrankten und - nicht zu vergessen - auch vielen Behandlern in unserem Land das Leben gekostet. Die Gesundheitsvorsorge, nach der Sie fragen, ist über lange Jahre komplett vernachlässigt worden. Und als das Kind in den Brunnen gefallen war, die Pandemie also auch unser Land in den Griff nahm, schaltete man in den Panikmodus um, immer mehr Menschen gerieten in verzweifelte Situationen, sahen sich existentiellen wirtschaftlichen Bedrohungen ausgesetzt, Ermächtigungsgesetze wurden durch Parlamente gejagt, der Datenschutz wurde außer Kraft gesetzt - der ist ja sowieso nur gut für Gesunde, sagte Jens Spahn - und es gab sogar Grenzen innerhalb Deutschlands. Das alles war noch nie da, und die Angst ist berechtigt, dass wir unsere Gesellschaft nach diesem „Krieg gegen das Virus“ nicht mehr wiedererkennen werden. Diejenigen, die für Gesundheitsvorsorge zuständig waren, haben jedenfalls völlig versagt. Deswegen ist der Blick zurück und eine schonungslose wissenschaftliche und politische Aufarbeitung so wichtig.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sind auch Herausgeber einer Reihe mit dem Titel „medizinHuman“. Worum geht es Ihnen dabei?

Bernd Hontschik: Ich habe großes Glück, dass ich vielfältige Gelegenheiten habe, meine Stimme zu erheben. Ich schreibe jetzt seit mehr als fünfzehn Jahren regelmäßig Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, bald werden es dreihundert sein. Gleichzeitig damit habe ich 2006 die Chance erhalten, im Suhrkamp Verlag eine eigene Buchreihe zu entwickeln, in der es um die Kernfragen der Humanmedizin und des solidarischen Gesundheitswesens geht. Es sind fantastische Bücher entstanden, die spannend und verständlich aktuelle Entwicklungen des Gesundheitswesens und der medizinischen Praxis hinterfragen und für eine Heilkunst plädieren, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, für eine Humanmedizin, die diesen Namen verdient. Im ärztlichen Alltag tritt die Kunst des Heilens, die Medizin als heilende und helfende Kraft, leider zunehmend in den Hintergrund – zugunsten einer profitangepassten Heilungsindustrie. Daher habe ich meine Buchreihe „medizinHuman“ getauft, um auf die Verdrehung der medizinischen Prioritäten durch die Profitorientierung hinzuweisen. In Kürze wird der Band 17 mit dem Titel „Pillenpoker“ erscheinen, in dem man die Pharmaindustrie nochmal ganz neu kennenlernen und fürchten lernen kann.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie am Ende unseres Interviews ihre Botschaft noch einmal kurz zusammenfassen?

Bernd Hontschik: Die Kommerzialisierung der Humanmedizin ist für alle Beteiligten eine Katastrophe, außer natürlich für die Profiteure. Das ist vielfach beschrieben und schon lange bekannt. Eine neue, zusätzliche Gefahr droht nun durch den Missbrauch der medizinischen Wissenschaft und der alltäglichen Medizin für Überwachungs- und Herrschaftskonzepte. Der Kommerzialisierung und der Politisierung der Medizin muss unbedingt Einhalt geboten werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Dr. Hontschik, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Info zur Person: Dr. med. Bernd Hontschik (chirurg.hontschik.de/), geboren 1952 in Graz, war bis 1991 als Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt-Höchst und anschließend bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis in Frankfurt tätig. Hontschik ist Autor des Bestsellers „Körper, Seele, Mensch“, Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag und Kolumnist der Frankfurter Rundschau. Er war langjähriges Vorstandsmitglied von „medico international“ und der „Thure-von-Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin“, ist wissenschaftlicher Beirat der „Akademie Menschenmedizin“ in Zürich und der Zeitschrift „Chirurgische Praxis“. Im Westend Verlag erschienen zuletzt „Erkranken schadet Ihrer Gesundheit“ (2019) sowie, gemeinsam mit seiner Frau Claudia Hontschik, „Kein Örtchen. Nirgends“ (2020). Hontschik lebt in Frankfurt am Main. Sein neues Buch „Heile und herrsche – eine gesundheitspolitische Tragödie“ (www.westendverlag.de/buch/heile-und-herrsche/) ist am 2. Mai im Westend Verlag erschienen.

Bernd Hontschik: „Heile und herrsche. Eine gesundheitspolitische Tragödie“, 144 Seiten, Westend Verlag, Erscheinungsdatum: 2. Mai 2022


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