Weltwirtschaft

Ukraine-Krieg ist es nicht: Das sind die wahren Gründe für die hohen Energiepreise

Lesezeit: 4 min
29.05.2022 07:57
Die Hoffnung, dass nach dem Ende des Ukraine-Kriegs die Preise wieder sinken, wird sich nicht erfüllen.
Ukraine-Krieg ist es nicht: Das sind die wahren Gründe für die hohen Energiepreise
Die "PCK-Raffinerie" in Schwedt (Brandenburg). (Foto: dpa)
Foto: Patrick Pleul

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Rohstoffpreise in astronomischer Höhe sorgen weltweit für Verunsicherung. Die Inflation hat sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten sieben Prozent und damit ein Niveau erreicht, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Die europäischen Verbraucher sehen sich mit vergleichbaren Kaufkraftverlusten konfrontiert, wie nach den Ölschocks der 1970er-Jahre. Die wirtschaftliche Erholung von der Pandemie droht nun ins Stocken zu geraten, und das Gespenst der Stagflation geht um in den Industrieländern von der Europäischen Union bis Japan.

Man könnte annehmen, dass der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine die Hauptursache für den Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise ist. Schließlich ist Russland der weltweit größte Exporteur von Erdöl und Erdölerzeugnissen und produziert, zusammen mit der Ukraine, ein Drittel der weltweiten Weizen- und Gerstenexporte. Es gibt jedoch zwei triftige Gründe, an dieser Erklärung zu zweifeln.

Erstens hat der Krieg nicht in großem Maßstab zu Unterbrechungen der Versorgung mit Öl, Gas oder anderen wichtigen Rohstoffen geführt (zumindest noch nicht). Natürlich kann die bloße Erwartung der Märkte, dass eine Verknappung unmittelbar bevorsteht, ausreichen, um die Preise in die Höhe zu treiben. Doch eine solche Erwartung scheint bisher kaum begründet zu sein.

Ja, die Weizenlieferungen aus der Ukraine wurden gestoppt, und die diesjährige Ernte ist in Frage gestellt, weil die ukrainischen Landwirte ihre Felder nicht bestellen können. Aber die Ukraine produziert nur etwa drei Prozent des weltweiten Weizens. Russland produziert zwar elf Prozent, aber sowohl die Produktion als auch die Ausfuhren werden nach wie vor aufrechterhalten.

Außerdem hat Russland zwar gedroht, die Gaslieferungen an „unfreundliche Staaten“ einzustellen, wenn diese nicht in Rubel zahlen – ein Ultimatum, das Europa bisher abgelehnt hat –, aber es gibt kaum Anzeichen dafür, dass russisches Öl oder andere Rohstoffe vom Markt genommen werden. Bei den meisten Rohstoffen dürfte der Krieg das Angebot nicht beeinträchtigen.

Ein zweiter Grund zu bezweifeln, dass der Krieg für die heutigen hohen Rohstoffpreise verantwortlich ist, besteht darin, dass der größte Teil des Preisanstiegs vor der Invasion stattfand. Der Rohstoffpreisindex des Internationalen Währungsfonds (IWF) liegt nach wie vor unter seinem Höchststand von 2008 und bewegt sich in der Nähe des Niveaus von 2012/13. Und die Spotmarktpreise für Gas entsprechen ihrem „Vorkriegsniveau“ von Ende letzten Jahres, als nur wenige mit einer großangelegten Invasion der Ukraine rechneten.

Die Ölpreise sind zwar seit Kriegsbeginn gestiegen, aber nur um moderate 20 Prozent. Obwohl die Erdgaspreise mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, da sie sich direkt auf die Heizkosten der Haushalte auswirken, sind die Ölpreise für Europa viel wichtiger, da der Wert seiner Ölimporte traditionell etwa fünfmal höher ist.

Wenn nicht der Krieg in der Ukraine für die hohen Energie- und Rohstoffpreise verantwortlich ist, was dann? Ein Faktor könnte das sein, was Ökonomen den „Schweinezyklus“ nennen. Der Begriff geht auf ein Phänomen zurück, das in der dänischen Schweineindustrie beobachtet wurde: Wenn die Preise hoch waren, züchteten die Landwirte mehr Tiere, was zu einem Überangebot führte, das im folgenden Jahr die Preise senkte, so dass die Landwirte weniger Tiere züchteten, die dann zu höheren Preisen verkauft wurden.

Gleichermaßen besteht bei hohen Rohstoffpreisen ein größerer Anreiz, in Exploration und Abbau zu investieren. Wenn die Preise jedoch relativ niedrig sind – wie in den letzten Jahren – sinkt die Rentabilität solcher Investitionen, was zu einer geringeren Produktion und höheren Preisen in späteren Jahren führt. Und in der Tat hat die Internationale Energieagentur überzeugende Beweise dafür geliefert, dass jahrelange Unterinvestitionen in die Exploration die Produktionskapazität verringert haben.

Der Nachfragerückgang im Jahr 2020, der durch die Covid-19-Rezession verursacht wurde, überdeckte diese Entwicklung. Doch als in Europa, Asien und in den USA eine kräftige Erholung einsetzte, gab es nicht genügend Reservekapazitäten, um die steigende Nachfrage zu decken. Dies führte zu einem Aufwärtsdruck auf die Preise im Jahr 2021.

Ein weiterer Faktor, der zu den hohen Energie- und Rohstoffpreisen beigetragen haben könnte, sind steigende Investitionen in die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG), die Anleger zunehmend veranlasst haben, eine Finanzierung der Exploration und Erschließung fossiler Brennstoffe abzulehnen. Sie hoffen, dass die Verweigerung von Kapital für die fossile Brennstoffindustrie die Produktion eindämmen und den Fortschritt hin zu einer grünen, kohlenstoffneutralen Wirtschaft ankurbeln wird.

Dieses Phänomen ist schwerpunktmäßig in westlichen Ländern zu finden. Während die Upstream-Investitionen der großen westlichen Öl- und Gas-Unternehmen zwischen 2015 und 2020 um fast die Hälfte zurückgingen, blieben diese Investitionen bei den Produzenten im Nahen Osten stabil und stiegen in China. Alle diese Produzenten haben die gleichen Preisanreize, aber die westlichen Unternehmen sind diejenigen, die den ESG-Richtlinien unterliegen.

Es ist notwendig zu verstehen, warum die Preise hoch sind, um die richtige politische Antwort zu entwickeln. Wenn der Krieg für die hohen Preise verantwortlich ist, wäre es politisch schwierig, Preisobergrenzen und großzügige Entschädigungen abzulehnen, um Verbrauchern und Unternehmen zu helfen, damit zurechtzukommen. Zudem könnte man hoffen, dass die Preise nach Beendigung des Krieges sinken werden.

Sind die hohen Rohstoffpreise jedoch das Ergebnis eines Schweinezyklus und der gestiegenen Verantwortung in Bezug auf ESG-Kriterien, senden sie ein angemessenes Signal an die Märkte; tatsächlich sollen die ESG-Regeln zu höheren Preisen führen. In diesem Fall muss sich die Wirtschaft an einen neuen Grad der Verknappung anpassen – und die Verbraucher sollten nicht für ihre verlorene Kaufkraft entschädigt werden.

Natürlich schließen sich diese Erklärungen nicht gegenseitig aus; alle drei Faktoren – der Schweinezyklus, die ESG-Standards und der Krieg – tragen wahrscheinlich zu höheren Rohstoffpreisen bei. Die Preistrends vor der Invasion deuten jedoch darauf hin, dass der Krieg ein untergeordneter Faktor ist.

Politisch ist die Erklärung, dass der Krieg eher wenig zur Preissteigerung beiträgt, unbequem: Wäre er Schuld, entbände er Verbraucher und Staat von der Verantwortung, sich anzupassen, wobei erstere eine Entschädigung erhalten und letztere höhere Haushaltsdefizite aufweisen würden. Objektiv gesehen macht die Erklärung, dass nicht der Krieg Schuld ist, sondern der Schweinezyklus und die ESG-Standards, jedoch Sinn. Diese Erklärung ist damit diejenige, die eine verantwortungsvolle politische Reaktion diktieren sollte, trotz der Schmerzen, die diese Reaktion mit sich bringen könnte.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

                                         *****

Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Lieferdienste in Deutschland: Bei Flink, Wolt und anderen Lieferando-Konkurrenten geht es um alles oder nichts
25.04.2024

Getir, Lieferando, Wolt, UberEats - es fällt schwer, in deutschen Großstädten beim Angebot der Essenskuriere den Überblick zu...

DWN
Finanzen
Finanzen Familienunternehmer in Sorge: Land verliert an Wettbewerbsfähigkeit
25.04.2024

In einer Umfrage kritisieren zahlreiche Familienunternehmer die Politik aufgrund von übermäßiger Bürokratie und Regulierung. Besonders...

DWN
Finanzen
Finanzen So wählt Warren Buffett seine Investments aus
25.04.2024

Warren Buffett, auch als „Orakel von Omaha“ bekannt, ist eine Ikone der Investment-Welt. Doch worauf basiert seine Investmentstrategie,...

DWN
Technologie
Technologie KI-Chips trotz Exportbeschränkungen: China sichert sich US-Technologie durch die Hintertür
25.04.2024

Trotz der US-Exportbeschränkungen für Hochleistungsprozessoren scheint China einen Weg gefunden zu haben, sich dennoch mit den neuesten...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Russlands Kriegswirtschaft: Putin geht das Geld nicht aus
25.04.2024

Russlands Wirtschaft wächst weiterhin, ist aber stark von der der Kriegsproduktion abhängig. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius...

DWN
Technologie
Technologie Petrochemie: Rettungsleine der Ölindustrie - und Dorn im Auge von Umweltschützern
24.04.2024

Auf den ersten Blick sieht die Zukunft des Erdölmarktes nicht rosig aus, angesichts der Abkehr von fossilen Treibstoffen wie Benzin und...

DWN
Politik
Politik Sunaks Antrittsbesuch bei Kanzler Scholz - strategische Partnerschaft in Krisenzeiten
24.04.2024

Rishi Sunak besucht erstmals Berlin. Bundeskanzler Scholz empfängt den britischen Premierminister mit militärischen Ehren. Im Fokus...

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank-Präsident: Zinssenkungspfad unklar, digitaler Euro erstrebenswert
24.04.2024

Spannende Aussagen von Bundesbank-Präsident Joachim Nagel: Ihm zufolge wird die EZB nach einer ersten Zinssenkung nicht unbedingt weitere...