Politik

„Der Westen war in der Ukraine schlafwandlerisch naiv“

Lesezeit: 7 min
11.10.2022 13:52  Aktualisiert: 11.10.2022 13:52
Dr. Stephan Kaußen hat die drohende Eskalation in der Ukraine bereits vor vielen Jahren prognostiziert. Putin trage zwar die Hauptschuld am furchtbaren Krieg in der Ukraine, der Westen sei aber nicht schuldlos, meint der Politikwissenschaftler im großen DWN-Interview.

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Politikwissenschaftler und Buchautor Dr. Stephan Kaußen hat im Mai 2014 in seinem Essay zum im September 2015 erschienenen Buch „Europas Zeitenwende – Strukturelle Macht als Boomerang des Westens“ die drohende Eskalation prognostiziert. Warum? Weil der Westen den „Verlust des letzten großen Partners aus russischer Sicht“ nicht genügend bewertet hat. Im Vorhof Moskaus so deutlich die Westintegration der Ukraine zu unterstützen, war naiv. Zumal Kiew die Keimzelle Russlands und in der Sowjetunion wichtiger Partner war.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Guten Tag Herr Kaußen, woher kam Ihre Motivation, das Buch zu schreiben?

Dr. Stephan Kaußen: Ich habe damals 2014 Parallelen zu der Situation vor hundert Jahren gezogen. Ähnlich wie die deutsche Bevölkerung nach dem 1. Weltkrieg musste Russland mit dem Ende der Sowjetunion ein Trauma durchmachen. Dieses Trauma hat man bis heute noch nicht überwunden. Wir im Westen hatten damals beim Ende der Sowjetunion das Gefühl, die sowjetische Diktatur geht zu Ende und Gorbatschow demokratisiert das Land.

Die russische Bevölkerung und insbesondere Wladimir Putin haben das nie so empfunden. Darauf gehe ich im Kapitel zum Mindset des sowjetischen Russen ein. Dieses Mindset kann jedoch niemals das Recht geben für die Eskalation, die er seit Jahren in der Ukraine provoziert und die am Ende im verbrecherischen Krieg seit Februar gipfelte. Der Hauptschuldige für die Eskalation, für den Krieg und die Spannungen in der Ukraine ist und bleibt Russland selbst.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Kernthese Ihres Buches ist ja, dass der Westen schlafwandlerisch in der Ukraine-Thematik war. Wie meinen Sie das?

Dr. Stephan Kaußen: Damit meine ich, dass der Westen unter anderem auch Angela Merkel und Barack Obama leider zu tollpatschig die Osterweiterung forciert haben, ohne die Auswirkungen einzukalkulieren. Anstatt das von mir beschriebene Mindset Putins und Russland zu beachten hat man es ignoriert, darauf hat dann Putin nach den Euromaidan-Protesten reagiert.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Liegt hier für Ihr Empfinden auch der Ursprung des Ukraine-Konflikts?

Dr. Stephan Kaußen: Diese zu große Selbstsicherheit hat für den Ursprung des Ukraine-Konflikts eine wichtige Rolle gespielt. Man hat damals Viktor Janukowitsch vor die Wahl gestellt: „Sie bekommen von uns 30 Milliarden und reformieren damit Ihr Land in Richtung Westen und gleichzeitig lassen Sie bitte Frau Timoschenko frei“. Daraufhin wandte sich Janukowitsch Moskau zu. Die Menschen in der West- und Zentralukraine hatten das Gefühl, Janukowitsch würde das Angebot des Westens ausschlagen und begannen zu demonstrieren. So entstand 2014 der Euromaidan.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: War es für Sie überraschend, wie Putin nach der Flucht von Janukowitsch reagierte?

Dr. Stephan Kaußen: Auch wenn ich das Gegenteil erhoffte, hatte ich die Vermutung, dass Putin auf die Vorgänge in Kiew reagieren würde. Was dann aber mit der Annexion der Krim und der Provokation in der Donbass Region geschah, war eine maximale Provokation. Von da an hat Putin mit den Separatisten permanent an der Eskalationsschraube gedreht und die Ukraine war leider gezwungen, zu reagieren. So kam es zum Bürgerkrieg. Ich beschreibe es in meinem Buch wie folgt: „Der russische Bär hat nach jahrelangen Kränkungserfahrungen zu einem Prankenhieb ausgeholt.“ Damit habe ich gemeint, dass er die Krim annektiert und in der Ost-Ukraine die Separatisten unterstützt. Ich will aber auch noch mal in aller Deutlichkeit sagen, dass ich Putins Verhalten diesbezüglich zutiefst verurteile und für falsch halte.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welchen Fehler haben die Ukrainer seit 2014 gemacht?

Dr. Stephan Kaußen: Leider hat die ukrainische Regierung seit 2014 den Schritt in den Westen zu sehr forciert und damit die Menschen im Donbass überfordert. Ich bin vor und nach 2012 vor Ort gewesen. Die Stadt Lemberg im Westen ist europäisch und tickt völlig anders als das russisch-orientierte Donezk. Es war auch ein großer Fehler der ukrainischen Regierung die russische Sprache zu delegitimieren. Die russische Sprache ist für die Menschen im Donbass die Identifikation mit Russland. Man hat leider nicht bedacht, wie so ein Verhalten in den russisch geprägten Gebieten ankommt. Es war keine Überraschung, dass dieses Sprachgebot keine Begeisterung im Donbass auslöst.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Hätte die Ukraine den Autonomiestatus für die sogenannten Volksrepubliken genehmigen sollen?

Dr. Stephan Kaußen: Auch wenn es sehr hart für die Ukraine gewesen wäre und für das Selbstverständnis der Ukrainer. Wenn man den beiden Volksrepubliken die Autonomie zugesprochen hätte, dann wäre für Putin kein Grund dafür gewesen irgendwen zu befreien. Der Grund, den er für den Krieg in die Ukraine genannt hat, wäre weggefallen. Kiew hätte sich damit viel ersparen können.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welchen Fehler hat man vor dem Angriffskrieg am 24. Februar 2022 von EU- und Nato-Seite gemacht?

Dr. Stephan Kaußen: Leider war man auch da wieder schlafwandlerisch unterwegs und zu tollpatschig. Man hat geglaubt Putin werde schon nicht so weit gehen. Man war sich sicher Putin würde nichts tun. Bis am 24. Februar alle eines Besseren belehrt wurden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welchen Fehler hat Putin selbst gemacht?

Dr. Stephan Kaußen: Wladimir Putin hat die Ukrainer unterschätzt. Mit dem seit 2014 andauernden Bürgerkrieg hat sich in der Ukraine eine Nationalidentität entwickelt und Städte wie Charkiw, Cherson oder auch Odessa, die durchaus russisch geprägt sind, haben sich dem Gefühl mehr zugehörig gefühlt. Putin glaubte, er könnte die Ukraine in einem langen Bürgerkrieg zermürben. Das ist ihm nicht gelungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Fehler hat Putin im Bezug zum 24. Februar 2022 gemacht?

Dr. Stephan Kaußen: Putins Entscheidung sein Nachbarland anzugreifen war ein katastrophaler Fehler. Er hat mit der Widerstandskraft und der Moral der Ukrainer nicht gerechnet und den Willen der Ukrainer unterschätzt. Gleichzeitig hat er nicht mit der Solidarität des Westens zur Ukraine gerechnet und mit den damit verbundenen Sanktionen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie ist die Teilmobilmachung vom 21. September 2022 einzuschätzen?

Dr. Stephan Kaußen: Mit der Teilmobilmachung gibt Putin indirekt zu, dass sein bisheriger Plan nicht funktioniert hat. Gleichzeitig ist es auch ein Zeichen an die Welt, dass die Gegenoffensive der ukrainischen Armee gewirkt hat. Die vollzogenen Referenden sind dabei nicht das Thema, sondern nur ein Weg um Russland irgendwie gesichtswahrend aus dieser Katastrophe herauszuführen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist Putin ein Atomschlag zuzutrauen?

Dr. Stephan Kaußen: Ich kann nur davor warnen, diesen in die Ecke gedrängten Mann zu unterschätzen. Daher ja, so eine totale Eskalation ist ihm zuzutrauen. Putin handelt für mein Empfinden nicht mehr rational und diese Tatsache macht es noch schwerer für uns ihn und seine nächsten Schritte zu analysieren.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wird Putin den Rest der Ukraine besetzen und die Regierung Selenskyi stürzen?

Dr. Stephan Kaußen: Nein, daran glaube ich nicht. Ich sehe nicht, dass Russland aktuell militärisch gesehen die konventionellen Mittel besitzt, um das Land komplett einzunehmen und die Regierung in Kiew zu stürzen. Man hat außerdem aus den Anfangskriegstagen gelernt und begriffen, dass die ukrainische Bevölkerung bei diesem Versuch nicht mitspielt. Zudem dauert es, bis die 300.000 Soldaten für die Teilmobilisierung eingesetzt werden können. So ein Schritt braucht Zeit.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was also hat Putin als nächstes vor?

Dr. Stephan Kaußen: Meine Vermutung ist, man zieht sich zurück und sammelt die Kräfte für einen neuen Plan. In der Militärsprache nennt man es „Arrondieren des Geländes“. Wie aber dieser Plan genau aussieht, kann keiner von uns sagen, dafür müsste man in Putins Kopf hineinsehen. Das russische Militär wird aber in jedem Fall alles versuchen, um die bisher eroberten Gebiete mit allen Mitteln zu halten. Gleichzeitig wird man versuchen weiter Druck auf die europäische und amerikanische Bevölkerung aufzubauen, damit die Nato die Ukraine an den Verhandlungstisch drängt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist es möglich, dass durch die Unruhe nach der Teilmobilmachung Putin stürzt und das russische System kollabiert?

Dr. Stephan Kaußen: Auch wenn es sich einige Menschen vielleicht wünschen. Ich sehe einen Sturz des Systems Putin nicht. Die Jelzin-Ära mit der Verarmung ist tief in die Köpfe der Bevölkerung geprägt. Mit Putin weiß man was man hat und wird nicht überrascht. Die Unklarheit wer auf ihn bei einem Systemsturz folgen könnte, wird viele abschrecken. Dazu muss man sich immer überlegen, wie viele Menschen beim Staatsapparat angestellt sind. Diese Leute stellen sich nicht gegen den eigenen Arbeitgeber.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wer ist der größte Profiteur der seit Ende Februar laufenden Krise?

Dr. Stephan Kaußen: Der größte Profiteur der Krise ist in meinen Augen die Türkei. Sie hat sich außenpolitisch ein neues Standing geschaffen, kann zwischen den einzelnen Blöcken vermitteln und als Kommunikationsbrücke zwischen Russland und Europa funktionieren.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Lehren können wir aus dem Konflikt in der Ukraine ziehen?

Dr. Stephan Kaußen: Als Westen müssen wir besser zuhören und auf das Mindset von Ländern wie Russland, China, aber auch Ländern in Südamerika oder Afrika eingehen und es verstehen lernen. Putin trägt die Hauptschuld am furchtbaren Krieg in der Ukraine. Wir sind aber nicht schuldlos. Die Ignoranz und Arroganz einzelner Politiker (Angela Merkel, Barack Obama, Hillary Clinton) haben mit zu der Situation in der Ukraine beigetragen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie sehen Sie die Zukunft im Umgang mit autokratischen Staaten?

Dr. Stephan Kaußen: Wir im Westen exportieren nicht nur Waren, sondern auch Normen und Werte. Diese sind als Resultat aus gelernter Geschichte auch wertvoll. Dazu gehören Gewaltenteilung und individuelle Freiheitsrechte. Das Problem ist nur, dass andere Länder wie Russland noch nicht so weit sind. Da müssen wir ein besseres Gespür haben und diese Überforderung in unsere Schritte einkalkulieren. Beziehen wir es nicht in unsere Überlegungen mit ein, dann fühlen sich Staaten wie Russland vom Tempo der Modernisierungen überfordert und lehnen diese deshalb reflexartig ab. Hoffentlich aber nicht auf Dauer.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Dr. Kaußen, wir bedanken uns für dieses Gespräch.

In seinem Mitte September erschienenen Buch „Moral Dilemma – Der Westen und die Autokraten“, geht Dr. Stephan Kaußen auf das Dilemma ein: Der Westen möchte Gutes in die Welt tragen, überfordert damit aber andere Länder, die noch nicht so weit sind. So kommt es zu einem Problem der Ungleichzeitigkeit, wie Kaußen es nennt. Die Frage lautet: „Wer ist für diese Modernisierungen bereit?“ Selbst in unseren westlichen Gesellschaften wird die Frage neu gestellt. Beispiel die Trump Bewegung in den USA und das Erstarken rechter Bewegungen in Europa.


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