Finanzen

Inflation verstehen: Ein Problem von Raum und Zeit

Lesezeit: 7 min
09.10.2022 08:22
Wir befinden uns am Beginn eines neuen Inflations-Zeitalters und und die exorbitant hohen Preise fordern erste Opfer. Höchste Zeit, einmal zu beleuchten, was Inflation wirklich bedeutet und warum sie so gefährlich ist.
Inflation verstehen: Ein Problem von Raum und Zeit
Die Inflation lässt sich nicht umkehren und ihre Auswirkungen sind dauerhaft. (Foto: iStock.com/Stadtratte)
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Die Inflation greift um sich und fordert erste Opfer. Getrieben von Energie-, Strom- und Lebensmittelpreisen durchbrach die Inflationsrate jüngst die psychologisch bedenkliche Marke von zehn Prozent – ein 70-Jahreshoch. Mittlerweile spürt wirklich jeder die massiven Preissteigerungen im Alltag und die Mehrheit der Deutschen ist nicht mehr sparfähig.

Wie soll man damit gedanklich umgehen? Die meisten Menschen scheinen die Problematik verständlicherweise auszublenden. Wer rechnet oder denkt schon gerne in realen Verhältnissen, also inflationsbereinigt? Für das tägliche Leben wäre es wohl höchst unangenehm, ständig die Steigerungsrate der Verbraucherpreise von seinem Einkommen abziehen zu müssen. Nichtsdestotrotz kann man die gegenwärtigen Preissteigerungen im Supermarkt nun wirklich nicht mehr ignorieren.

Im Alltag denkt und rechnet so gut wie kein Mensch real, obwohl doch mehrere tausend Jahre Geldgeschichte gezeigt haben, dass die Kaufkraft jeder Währung langfristig nahe null tendiert. Manchmal geht die Geldentwertung nur schneller und manchmal langsamer. Das dürfte mit dem menschlichen Hang zur Verdrängung unangenehmer Tatsachen zusammenhängen. Diese Verdrängung funktioniert mehr schlecht als recht, bis irgendwann die Preise soweit eskalieren, dass die ganzen Nullen nicht mehr auf einen Geldschein passen und das gedruckte Papier mehr wert wird als die darauf definierte Geldeinheit.

Um Inflation wirklich zu begreifen, muss man ihre wahre Natur verstehen. Wenn über die Gründe der derzeit weltweiten Preissteigerungen diskutiert wird, dann geht es viel um exorbitante Energiepreise, Rohstoff-Knappheiten, einen negativen Angebotsschock infolge der Coronakrise, stockende Lieferketten und die Preismacht von Konzernen. Aber wer steigende Inflationsraten nur mit steigenden Kosten der Unternehmen erklären will, der versucht letztlich, steigende Preise mit steigenden Preisen zu erklären.

Systematische Geldentwertung

Dabei ist es im Kern viel simpler. Inflation ist ein monetäres Phänomen. Der Ursprung des Wortes ist das lateinische „Aufblähen“. Inflation definiert einen überproportionalen Anstieg der Geldmenge im Verhältnis zur Gütermenge. Dadurch wird das Geld entwertet, der Tauschwert und damit die Kaufkraft des Geldes sinkt. Inflation ist nichts anderes als der im Zeitablauf unvermeidbare Wertverlust beliebig vermehrbaren Geldes gegenüber nicht beliebig vermehrbaren Gütern. Anders formuliert: Mit jeder zusätzlichen neuen Geldeinheit nimmt der Grenznutzen des Geldes ab.

Wer Inflation einfach als „Geldmengen-Aufblähung“ versteht, der hätte schon vor vielen Jahren seine Kaufkraft dahinschwinden sehen können. Geld ist nur ein Tauschmittel. Eine künstliche Geldvermehrung erhöht nicht die Produktion von Waren und Dienstleistungen, schafft keinen Wohlstand, sondern mindert lediglich die Kaufkraft einer Geldeinheit.

Unendlichkeit und nichts sind letztlich zwei Seiten derselben Medaille. Unendlich viel nominales Geld bedeutet zugleich eine reale Kaufkraft nahe null. Manche Ökonomen, oder besser gesagt Finanzalchemisten, können sich gar nicht vorstellen, dass eine endlose Ausweitung der Geldmenge Probleme verursachen könnte. John Law, gescheiterter Geld-Innovator, Urvater des ungedeckten Papiergeldes und in gewisser Weise geistiger Vorläufer der Ideen von John Maynard Keynes, sah Geldmangel als Hauptgrund für Wirtschaftskrisen. Eine ziemlich absurde Vorstellung, die im Prinzip bedeuten würde, dass man Wohlstand einfach drucken kann. Anhänger der Modernen Geldtheorie (MMT) glauben dennoch daran.

Wie sich Inflation im Wirtschaftssystem bemerkbar macht, ist eine ganz andere Frage. (Verbraucher-)Preisindizes können Geld-Inflation nur unzureichend erfassen. Langfristig gesehen bestimmt die Geldmenge zwar das allgemeine Preisniveau, aber eine erhöhte Geldmenge kann auch temporär im Finanzsystem „steckenbleiben“. Energie- und Rohstoffpreise steigen oder fallen größtenteils unabhängig von der Geldmenge. Größere Zyklen in Angebot und Nachfrage gleichen sich derweil über lange Sicht aus. Inflation bedeutet eine geringere Kaufkraft derselben Geldeinheit aufgrund eine höheren Umlaufmenge des Geldes – nicht mehr und nicht weniger.

Jahrelang waren Konsumentenpreise kaum von der lockeren Notenbank-Politik betroffen, stattdessen machten sich die rapide steigenden Geldmengen an explodierenden Preisen von Vermögenswerten bemerkbar. Die entscheidende Frage ist, wohin das zusätzliche Geld wandert und das war lange Zeit der Finanzsektor und nicht die Realwirtschaft. Wichtig ist auch, wie schnell das neue Geld den Besitzer wechselt. In den USA wurden auf dem Höhepunkt der Coronakrise Geldgeschenke („Stimulus-Checks“) an die breite Masse verteilt, die größtenteils nicht konsumiert sondern gespart wurden und sich entsprechend auch nicht unmittelbar in höheren Preisen bemerkbar machten.

Im Übrigen bedeuten sinkende Preise (ergo höhere Kaufkraft einer Geldeinheit) nicht automatisch, dass man sich mehr leisten kann. Beispielsweise können Gehälter/Vermögen noch stärker sinken, als das Preisniveau fällt – die Kaufkraft der Menschen sinkt dann insgesamt.

Inflation als Dauererscheinung in der Geldgeschichte

Inflation ist ein dauerhaftes Phänomen, das existiert seitdem es Geld gibt. Systematische Geldentwertung gab es schon in der Antike und im Mittelalter, als Gold- und Silbermünzen durch Beimischung von immer mehr Kupfer und anderen minderwertigen Metallen zunehmend an Sachwert verloren. Eine solche Münzverschlechterung wurde regelmäßig zur Kriegsfinanzierung genutzt. Auch Geldproduzenten – damals Edelmetallschmiede – verfielen zeitweise den Verlockungen der Münzverschlechterung.

Mit dem aufkommenden Bankwesen entstand ein neues inflationäres Phänomen: Die übermäßige Kreditvergabe durch Privatbanken. Finanzhäuser hatten seit jeher die chronische Neigung, mehr Papiergeld als Kredit in Umlauf zu bringen als tatsächlich an harten Einlagen (in Form von Edelmetallen und Edelmetall-Münzen) in den Tresoren lagerte. Die Banken konnten sich das erlauben, weil die Kunden ihre Quittungsscheine nur selten gegen das hinterlegte Hartgeld einlösten. Depositen-Banken wurden somit zu Geldschöpfern. Ausnahmen wie die Hamburger Bank und ihre zu hundert Prozent mit Silber gedeckte Verrechnungswährung „Mark Banco“ bestätigen die Regel.

Staatliche Banken waren aber nicht besser. Zuerst waren es lokale Notenbanken, die im späten 17. Jahrhundert erstmals in Europa auftauchten, um die Kriegsfinanzierung aus der Druckerpresse sicherzustellen und Staatsschulden zu inflationieren. Später waren es mächtige nationale Zentralbanken, die – eigentlich mit der Steuerung der Geldmenge beauftragt – verheerende Hyperinflationen auslösten, allen voran die deutsche Reichsbank in den frühen 1920ern.

Seit Ende des Gold-Dollar-Standards von Bretton Woods (1971) unterliegt die Geldschöpfung keinerlei Restriktionen mehr. Heute ist die Geldmenge an keinen Anker mehr gebunden und kann durch Bankkredite und die virtuelle Druckerpresse der Notenbanken nahezu beliebig ausgeweitet werden. Man spricht vom sogenannten „Fiatgeld“. Es ist fast schon ein Wunder, dass es unter diesen Umständen fast fünf Jahrzehnte gedauert hat, bis in den Industrieländern wieder offizielle Inflationsraten von 10 Prozent und mehr erreicht wurden. Von der aktuell restriktiven Geldpolitik sollte man sich indes nicht täuschen lassen. Der Geldüberhang ist immer noch erheblich und eine Rückkehr zu den Exzessen der 2010er-Jahre kann von heute auf morgen passieren. Die in den Startlöchern stehenden digitalen Zentralbankwährungen dürften ihren Teil dazu beitragen, dass das Zeitalter der Inflation anhält. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Digitalwährungen mit einem Ablaufdatum versehen und dadurch schnell wieder im Konsumkreislauf verschwinden und die Preise hochtreiben werden – quasi Konsum-Inflation per Design.

Auch in Zukunft wird Geldverschlechterung und Inflation ein ständiger Begleiter menschlichen Wirtschaftens sein. Und folglich wird Inflation bisweilen auch in der Science Fiction thematisiert. In Neal Stephensons berühmten Cyberpunk-Roman „Snowcrash“ (1992) hat in den USA eine verheerende Wirtschaftskrise inklusive Hyperinflation dafür gesorgt, dass Banknoten mit dem Nennwert einer Quadrillion Dollar - genannt „Gipper“ - das gängigste Zahlungsmittel sind. In „Das Restaurant am Ende des Universums“ von Douglas Adams (1980) landen die Protagonisten auf einem obskuren Planeten, der unter einer gewaltigen Inflation leidet. Der Grund: Um alle Bewohner schlagartig reich zu machen, wurden Laubblätter zur offiziellen Währung erklärt. Die daraus resultierende dramatische Geldentwertung müssen die Verwalter dann durch ein großes Entlaubungsprogramm bekämpfen.

Gefährliche Inflation

Inflation ist gefährlich, denn die Entwicklung verläuft dynamisch und nicht statisch. Wenn die aufgeblähte Geldmenge erst einmal in die Wirtschaft eindringt, kommt es immer zu selbstverstärkenden Effekten. Preiserhöhungen werden von einer Wertschöpfungsstufe an die nächste weitergegeben, sodass eine fatale Preis-Kosten-Spirale entstehen kann. Wenn die Preise einmal hoch sind, dann fallen sie auch nicht mehr so einfach, weil diese neuen Preise als Verhandlungsbasis für Produzenten und Zwischenhändler fungieren. Die Inflation kann sich auch für lange Zeit im System aufstauen, bis der Inflationsdruck zu stark wird sich und dann mit zeitlicher Verzögerung in verheerenden Preis-Explosionen entlädt.

Inflation ist gefährlich, denn sie kann bezogen auf das Preisniveau zur selbst erfüllenden Prophezeiung mutieren. Wenn sich die Inflation den Köpfen der Menschen festsetzt, wenn jeder darüber spricht und mit massiven Preiserhöhungen rechnet, dann ist es fast schon zu spät. Hamsterkäufe und vorgezogener Konsum sind quasi vorprogrammiert und verschlimmern die Preis-Spirale. Im Extremfall verlieren die Bürger das Vertrauen in ihre Währung und es kommt zur Hyperinflation.

Experten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich schreiben im aktuellen Jahresbericht über die gefährliche Psychologie der Inflation: „Möglicherweise erreichen wir einen Wendepunkt, jenseits dessen sich eine inflationäre Psychologie ausbreitet und festigt. Dies würde einen großen Paradigmenwechsel bedeuten. Übergänge von Niedrig- zu Hochinflationsregimen wirken tendenziell selbstverstärkend. Wenn die Inflation steigt und zu einem Brennpunkt für das Verhalten der Wirtschaftsteilnehmer wird, verstärken Verhaltensmuster tendenziell den Übergang. Privathaushalte und Unternehmen verdoppeln ihre Anstrengungen, um sich vor Kaufkraftverlusten oder Gewinnrückgängen zu schützen.“

Inflation ist gefährlich, denn ihre Auswirkungen sind beständig. Die einmal verlorene Kaufkraft gibt es nicht mehr zurück. Ein konstantes Preiswachstum von X Prozent pro Jahr ist mathematisch betrachtet eine Exponentialfunktion. Bei fünf Prozent Inflation pro Jahr halbiert sich das Geldvermögen innerhalb von 20 Jahren. Ein Rückgang der Inflationsrate bedeutet nicht, dass die Preise sinken, sondern nur, dass sie langsamer steigen als vorher – und am Ende sind die Preise für die breite Masse im Vergleich zu früher immer noch deutlich unerschwinglicher. Das Rad der Zeit kann man nicht zurückdrehen und die vor dem Preisrausch herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen lassen sich auch nicht einfach wiederherstellen.

Ein Problem von Raum und Zeit – aber es gibt Lösungen

Abstrakt betrachtet ist das Problem der Inflation ein Problem von Raum und Zeit. Und ungleich verteilter Information. Wer am richtigen Ort zur richtigen Zeit ist, gewinnt – der Rest verliert.

In der Fachsprache bezeichnet man den Umverteilungsmechanismus der Inflation als „Cantillon-Effekt“. Die Erstempfänger des neu geschaffenen Geldes profitieren von erhöhter Kaufkraft zu den alten Preisen. Je weiter das Geld durch die Wirtschaft wandert, umso mehr wirkt sich das überschüssige Geld auf die Preise aus. Die große Masse der Menschen sind Spätempfänger und müssen die nunmehr erhöhten Preise bezahlen, wobei die Kaufkraft und damit der Lebensstandard gesunken ist. Für die meisten Verbraucher und Sparer wird Inflation zu einer tückischen Form der Enteignung.

Die Spätempfänger können diesem Verwässerungseffekt selbst durch vorausahnendes Handeln nicht wirklich entgehen. Denn hierfür müsste man in einer Art und Weise durch Raum und Zeit reisen, wie es Menschen nicht möglich ist. Übrig bleibt nur die passive Option, seine Kaufkraft stattdessen in stabileren Währungen oder in Sachwerten zu speichern. Gold beispielsweise konnte seine Kaufkraft über Jahrtausende erhalten.

Es macht auch wenig Sinn, die Entwicklung von Vermögenswerten, Unternehmenserträgen und Einkommen in Fiat-Währungen zu erfassen – also einer Recheneinheit, die ohne Produktionsaufwand einfach künstlich buchhalterisch vermehrt werden kann. Alternativen sind Gold und andere ausreichend wertstabile Sachwerte; denkbar ist auch ein Korb solcher Assets. Jetzt, wo die Inflation außer Kontrolle zu geraten droht, wird es immer wichtiger, noch seriös kalkulieren zu können. Zum Glück handeln Menschen grundsätzlich, wenn es Handlungsbedarf gibt und Not macht erfinderisch. Unsere Wirtschaftsgeschichte ist voll von Beispielen.

Die Hamburger Mark Banco wurde ursprünglich von Kaufleuten ins Leben gerufen, um einen einheitlichen Verrechnungsstandard im damaligen Wirrwarr lokaler (häufig unter systematischer Verschlechterung leidender) Münzen zu schaffen. Heutzutage nutzen viele Logistikfirmen einen vertraglichen „Dieselfloater“, wodurch die Transportpreise teilweise an Treibstoffpreise gekoppelt werden. Auch in der sowjetischen Planwirtschaft gab es Lösungen und das ganz ohne die Existenz von Marktpreisen. Die Halbliter Wodkaflasche „Stolitschnaja“ galt im Rahmen der weit verbreiteten Naturaltauschwirtschaft als universelle und beständige Recheneinheit. Wo die offiziellen Währungen versagen, werden sie von Parallelwährungen ersetzt. Eines Tages könnte der Bitcoin, sofern sich dessen Schwankungsbreite deutlich reduziert, oder eine andere - möglicherweise mit Rohstoffen gedeckte - Kryptowährung eine ähnliche Funktion übernehmen.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.


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